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Vom viereckigen Vorplatz zweigten eine Anzahl Zimmertüren ab. Die beiden Beamten überflogen gewohnheitsgemäß den Vorraum mit einem schnellen, prüfenden Blick. Der Raum enthielt nur einen großen, geschnitzten Trumeauspiegel und eine dunkelbraune Kommode.
An der einen Wandseite, zwischen zwei Türen, stand eine Kleiderablage. An ihr hing ein österreichischer Militärmantel mit dem Degen des Feldmarschalleutnants, eine schwarze Kappe mit Goldborte, und der zweispitzige Generalshut des Toten mit großem, grünem Federbusch.
Der Adjutant öffnete leise eine Zimmertür und sagte mit gedämpfter Stimme:
»Das Mordzimmer, meine Herren!«
Dann trat er ein; die beiden Polizeibeamten folgten. Fastenrath, der sich bisher bescheiden im Hintergründe gehalten und kein Wort gesprochen hatte, ergriff jetzt die Initiative.
»Darf ich bitten, meine Herren,« sagte er ruhig, »an der Tür zurückzubleiben und die Untersuchung vorerst mir allein zu überlassen? Ich habe in derartigen Amtshandlungen eine gewisse Erfahrung – –.«
Der Polizeidirektor hatte seinen Hut, der Offizier den Tschako abgenommen. Beide blieben ohne ein Wort der Erwiderung an der Tür zurück.
Der mittelgroße Raum, ein gemütliches Wohn- und Arbeitszimmer, ging nach der Bleichstraße und hatte nur ein einziges Fenster, dessen Vorhänge geschlossen waren. Im Zimmer herrschte daher ein Halbdunkel, an das sich die Augen erst gewöhnen mußten. An der einen Wandseite, rechts vom Fenster, stand ein großer Schreibtisch mit Aufbau und zahlreichen Schubladen und Schubfächern, daneben ein Sofa aus geblümtem Stoff und zwei Fauteuils um einen runden Tisch. Dieser Tisch nahm ziemlich die Mitte des Raumes ein. Auf seiner Platte lagen Bücher, Broschüren, Zeitungen, ein paar weiße Lederhandschuhe und eine Kleiderbürste. Ein großer, schwerer, geschnitzter Eichenschrank füllte fast die ganze zweite Wandseite aus. Er stand rechts von einer im Augenblick geschlossenen Tür, die in das Schlafzimmer des Feldmarschalleutnants führte. Vor der dritten Wandseite stand eine Kommode aus drei Schubladen, rechts und links davon zwei einfache Rohrstühle. Auf der Kommode sah man eine antike Uhr aus Porzellan unter einer Glasglocke. Die Wand über dieser Kommode zeigte eine Garnitur von Schußwaffen, Luntengewehren, Steinschloß- und Radschloßmusketen, außerdem große Ölbilder des alten Feldmarschalls Radetzky, des jungen Kaisers Franz Josef und des Generals Haynau,
Fastenrath übersah die ganze Zimmereinrichtung mit einem flüchtigen Blick. Dann blieben seine Augen auf einer Stelle vor dem Schreibtisch haften, und er trat mit langsamen, vorsichtigen Schritten näher. Zwischen dem Schreibtisch und dem runden Tisch lag die leblose Gestalt eines österreichischen Offiziers. Die Leiche lag auf dem Gesicht, im Rücken links unter dem Schulterblatt klaffte eine ziemlich große Stichwunde, aus der viel Blut geflossen war. Es hatte den weißen Waffenrock des Toten durchtränkt und auch auf dem persisch gemusterten Teppich einen dunkelbraunen, nassen Flecken hinterlassen.
Fastenrath drehte den Toten vorsichtig um. Ein wachsgelbes Gesicht mit weit aufgerissenen Augen starrte ihm entgegen. Der pechschwarze, langausgezogene Schnurrbart stach gegen das fahle Gelb des Gesichtes auffallend ab. Fastenrath zuckte beinahe unmerklich die Achseln.
»Tot!« sagte er ruhig. »Hier ist nicht mehr zu helfen; es handelt sich tatsächlich um Mord. Sie erkennen den Toten einwandfrei als den Feldmarschalleutnant von Poschacher, Herr Rittmeister – –?!«
»Natürlich – selbstredend!« erwiderte der Rittmeister erstaunt.
Fastenrath schnüffelte schon unter dem Schreibtisch umher, ohne die erstaunte Miene des Offiziers zu beachten. Dann trat er vorsichtig ans Fenster und zog den Vorhang auf. Das helle Licht des Julimorgens flutete in den Raum. Fastenrath besichtigte den Schreibtisch, ohne aber etwas zu berühren. Dann untersuchte er den Fußboden in der Nähe des Tisches, interessierte sich für die Bücher und Zeitungen auf der Tischplatte und öffnete die Tür zum Schlafzimmer des Feldmarschalleutnants, ohne aber den Raum zu betreten.
»Ich habe genug gesehen, meine Herren!« sagte er ruhig. »Der Feldmarschalleutnant ist tot, anscheinend vor Stunden schon ermordet worden. Ich bitte zuerst den Arzt zu hören. Ich habe dann eine ganze Anzahl von Fragen zu stellen.«
Der Rittmeister öffnete die Tür und rief ein tschechisches Kommando hinaus. Eine Minute später erschien der Arzt Dr. Lohmann. Er wohnte in der Nähe, in der Lochstraße, und war bereits vom österreichischen Kommando benachrichtigt worden.
Der Arzt begrüßte die drei Herren, die er persönlich kannte, und ließ sich, ohne ein Wort zu reden, vor dem Toten auf dem Boden nieder.
Fastenrath schnupperte wie ein Spürhund erneut im Zimmer umher und warf nur gelegentlich einen kurzen Blick auf den Arzt. Endlich trat er an die linke Seite des Polizeidirektors, der neben dem Rittmeister schweigend an der Tür stand und sagte leise: »Wir müssen das Gericht benachrichtigen, der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter müssen sofort Meldung bekommen. Vielleicht schickt Herr Rittmeister eine Ordonnanz weg. Außerdem müssen wir uns darüber schlüssig werden, was wir den Leuten von der Presse erzählen wollen.«
Der Rittmeister fuhr auf.
»Um Gottes Willen!« sagte er mit unterdrückter Stimme. »So lange es geht – – nichts in die Presse – –!«
Fastenrath zuckte die Achseln.
»So lange es geht!« wiederholte er. »Aber es geht schon nicht mehr. Unten standen, als wir kamen, schon zwei Journalisten, einer vom Journal und ein zweiter, den ich ebenfalls kenne, von der Neuen Frankfurter Zeitung. Wir müssen den Leuten einen Brocken zuwerfen, sonst schreiben sie uns den schönsten Unsinn zusammen. Ich erledige dies, wenn Herr Direktor gestatten, nachher in der üblichen Weise.«
»Einverstanden!« erwiderte der Polizeidirektor. »Nun – Herr Doktor, Ihre Untersuchung beendet – –?«
Der Arzt erhob sich und putzte seine Hände mit einem Taschentuch ab.
»Der Tod ist einwandfrei! Nach der Leichenstarre zu urteilen, auch nach gewissen Flecken, den sogenannten Totenflecken, die schon auf den Oberschenkeln und an den Armen aufgetreten sind, dürfte die Leiche mindestens zwölf Stunden, eher noch etwas älter sein. Der Tod ist demzufolge gestern abend eingetreten. In der Zeit – – – sagen wir mal vorsichtig – – – zwischen 6 und 9 Uhr abends.«
»Die Todesursache, Herr Doktor?!« fragte Fastenrath.
»Ein Stich mit einer zweischneidigen Waffe, anscheinend einem Dolch, mitten ins Herz. Der Tod muß auf der Stelle infolge innerer Verblutung eingetreten sein. Näheres kann erst die Sektion des Amtsarztes ergeben. Das ist alles, was ich im Augenblick feststellen kann.«
»Das genügt, Herr Doktor!« erwiderte Fastenrath. »Ich glaube, daß wir den Herrn Doktor beurlauben können? – Ich – – ich habe nun einige Fragen an Sie, Herr Rittmeister, zu richten.«
Der Polizeidiätar nahm aus seiner Mappe einige Aktenbogen und mehrere Bleistifte, schob die Bücher und Zeitungen auf dem runden Tisch zusammen und nahm Platz.
»Zuerst Ihre Personalien, Herr Rittmeister?«
»Mathias von Terzky, 36 Jahre alt, katholisch, ledig, geboren in Budweis in Böhmen, k. & k. Adjutant des Feldmarschalleutnants von Poschacher, derzeitigem Kommandanten von Frankfurt am Main. – – Genügt das – – Herr Fastenrath?«
»Jawohl, Herr Rittmeister! – Ich benötige nun zuerst,« fuhr der Polizeidiätar fort, »einige Angaben über den toten Feldmarschalleutnant. Wer dürfte hier in Frankfurt in der Lage sein, auf einige Fragen, die dienstlichen und persönlichen Verhältnisse des Herrn von Poschacher betreffend, Auskunft zu erteilen –?«
»Was das Dienstliche anbelangt, Herr Fastenrath, so glaube ich so ziemlich jede Frage beantworten zu können. Ich war seit drei Jahren sein Adjutant, beinahe sein persönlicher Freund. – Ich bin dadurch auch über die persönlichen Angelegenheiten des Ermordeten sehr genau unterrichtet.«
»Wie hieß Herr von Poschacher mit dem Vornamen?«
»Franz Leopold! – Herr von Poschacher war erst 56 Jahre alt, als ihn der Mordstahl traf. Geboren wurde er in Graz. Er trat mit 20 oder 21 Jahren in die Armee ein, diente in Prag, Olmütz, Jaroslau und in Italien, war kurze Zeit in Wien, zuerst Infanterist, später Dragoner, und ist für k. & k. Verhältnisse sehr früh General geworden. Sie wissen, der Feldmarschallleutnant bei uns entspricht dem preußischen Generalleutnant.«
»Worauf ist die schnelle Beförderung zurückzuführen?«
»Auf die vielen Kriege, die von Poschacher mitmachte. Dabei zeichnete er sich erheblich aus. Er machte den Feldzug unter Frimont gegen Neapel mit, kam später als Hauptmann zum k. & k. Regiment Parma nach Italien – die Lombardei gehörte damals noch zu Österreich – und kämpfte unter Radetzky bei Santa Lucia und Novara. Während des Krim-Krieges befehligte er das Regiment Erzherzog Johann und rückte damit an die Grenze der Moldau. Im Jahre 1859 wurde er bei Solferino leicht verwundet; später erhielt er, um 1860 herum, bereits eine Brigade, wurde aber auch zu gewissen diplomatischen Diensten verwendet. Seit dem Juli des Jahres 1865 hatte er den Posten des militärischen Kommandanten von Frankfurt am Main inne. Dieser Posten ist ja, wie Sie selbst wissen, mehr politisch als militärisch.«
»Ist Herr von Poschacher verheiratet – –?«
»Verwitwet, Herr Fastenrath! Seine Frau starb wohl früh und hinterließ ihm zwei Kinder, einen Sohn, der seit einem Jahre als Offizier bei den Lichtensteinhusaren steht, eine Tochter, die irgendwo in Österreich in einem Kloster erzogen wird.«
»Danke sehr, Herr Rittmeister; das genügt vorerst. Nun zu den heutigen Geschehnissen! Wer hat die Bluttat zuerst entdeckt?«
»Der Bursche des Feldmarschalleutnants, der Ihnen Details selbst erzählen kann; er wartet draußen!«
»Zu der Tat können Sie selbst wohl nicht viel sagen, Herr Rittmeister?«
»Gar nichts, weder zur Tat noch über die Motive zu diesem mir ganz unfaßbaren Morde. Der Bursche des Feldmarschalleutnants fand die Leiche heute morgen, als er das Zimmer betrat. Er rannte sofort, plein carrière, in mein Quartier in der Langestraße. – Ich machte dem Kommando Meldung, ließ den Tatort sichern und war schon, kurz nach 8 Uhr, auf dem Polizeiamt, um Sie, Herr Polizeidirektor, von dem Vorfall in Kenntnis zu setzen. –«
»Wann sahen Sie den Feldmarschalleutnant zuletzt lebend?«
»Am Montag, als er sich von mir verabschiedete!«
»Verabschiedete?« fragte der Polizeibeamte ein wenig erstaunt.
»Jawohl! Herr von Poschacher reiste am Montag in einem halb militärischen, halb diplomatischen Auftrage zum k. & k. Gesandten von Ingelheim nach Hannover und kam erst gestern vormittag wieder zurück. –«
»Ich muß Ihnen jetzt, Herr Rittmeister, eine diskrete Frage vorlegen, die mein Dienst entschuldigt. Ich stelle es natürlich anheim, hierauf zu antworten oder die Antwort zu verweigern. – Wissen Sie, was Herr von Poschacher in Hannover zu tun hatte?«
»Jawohl! Ich war doch der Adjutant des Feldmarschalleutnants, aber – – ich bin nicht berechtigt, Ihnen darüber ohne Genehmigung meiner Vorgesetzten Auskunft zu geben – –.«
Fastenrath schwieg und kratzte sich den Hinterkopf.
»Herr Rittmeister! Ich verstehe durchaus, und meine Frage wurde natürlich auch nicht aus persönlicher Neugierde gestellt. Aber, hinter der Reise des Feldmarschalleutnants nach Hannover könnte vielleicht – – möglicherweise – – – das Motiv zu der Bluttat gefunden werden – – –!«
»Das glaube ich nicht, Herr Fastenrath! – Nein! – Ich will sogar noch weiter gehen. Ich halte dies für durchaus undenkbar!«
»Vielleicht äußern Sie sich aber weiter, Herr Rittmeister! – Haben Sie einen Verdacht hinsichtlich des Tatmotivs?«
»Nein, Herr Fastenrath! Mir ist die Tat vollkommen schleierhaft!«
»Eine Familientragödie?«
Terzky schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht!«
»Ein Racheakt? Ein Raubmord?«
»Ich weiß es nicht, Herr Fastenrath!«
»Aber ein Motiv muß doch wohl vorhanden sein! Nur aus Freude am Mord sticht kein Mensch einen anderen nieder!«
»Sicher! – Aber ich kenne das Motiv nicht, habe nicht den geringsten Verdacht. Ein Raubmord ist wohl ausgeschlossen, denn, so weit ich feststellen konnte, ist nichts gestohlen. Die Wohnung ist auch nicht durchsucht oder gar durchwühlt worden. Alles ist hier an seinem gewohnten Platze.«
»Das besagt nichts, Herr Rittmeister! Vergessen Sie nicht, in welch bewegter Zeit wir gegenwärtig leben. Der Täter kann eine ganz bestimmte Sache, ein Aktenstück, eine Verfügung, ein Dokument gesucht und gefunden haben!«
»Ich kann darauf nichts Bestimmtes antworten. Ich glaube aber nicht, daß der Feldmarschalleutnant in seiner Privatwohnung derartige Dinge aufbewahrte. Wichtige amtliche Dokumente liegen auf dem Kommando.«
Fastenrath erhob sich unvermittelt und trat ans Fenster.
Das Verbrechen mußte bei aller Geheimhaltung bereits durchgesickert sein, denn unten auf der Straße standen schon eine große Anzahl Menschen, die entweder neugierig oder scheu nach den Fenstern des ersten Stocks emporsahen oder in Gruppen zusammenstanden und ihre Ansichten austauschten.
Vor dem Hause ging der Infanterieposten vom Regiment Nobili in langsamen, taktmäßigen Schritten auf und ab; ihn schien die ganze Sache nicht zu interessieren.
Fastenrath drehte sich jetzt um.
»Kann ich den Burschen des Feldmarschalleutnants sprechen?«
»Gewiß!« erwiderte der Adjutant. »Er wartet bereits in der Küche. Ich rufe ihn – und – – ist es gestattet, dem Verhör beizuwohnen?«
»Selbstverständlich, Herr Rittmeister! Wir bitten sogar darum. Es wird im Laufe der weiteren Vernehmungen notwendig sein, die eine oder die andere Frage noch an Sie zu richten.«
Der Bursche des ermordeten Feldmarschalleutnants, ein junger Infanterist, trat ins Zimmer.
»Diese Herren sind vom Kriminalamt!« erklärte der Rittmeister. »Sie haben auf alle Fragen, die Ihnen gestellt werden, wahrheitsgemäß zu antworten!«
»Jawohl, Herr Rittmeister!«
Fastenrath nahm einen neuen Bogen zur Hand.
»Zuerst Ihre Personalien?« fragte er.
»Clemens Dreher, Infanterist im k. & k. Infanterie-Regiment Wernhardt, zur Zeit Bursche des Herrn Feldmarschalleutnants von Poschacher!«
»Der ist vor zwaa Jahr'n g'storben, Herr Kriminaloffiziant!«
Fastenrath konnte trotz der ernsten Situation ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken.
»Sie haben mich mißverstanden. Ich meinte, wie alt sind Sie?«
»Ach so! Verzeihung! Ich war zu Johanni 24 Jahre!«
»Religion?«
»Katholisch!«
»Ledig – natürlich!«
»Jawohl!«
»Wo sind Sie geboren?«
»In Iglau, Herr Kriminaloffizial!«
»Und Ihr Zivilberuf?«
»Koch! Zuletzt war ich Markeur in einem Wiener Kaffeehaus. Seit drei Jahren bin ich zu den Kaiserlichen assentiert.«
Der Bleistift des Beamten fuhr über das Papier. Jetzt setzte er den Bleistift ab, sah den Offiziersburschen scharf an und sagte: »Herr Dreher! Sie machen den Eindruck eines intelligenten Mannes. Sie werden uns bestimmt manches sagen können, was zur Aufklärung des grauenhaften Verbrechens dient. Sie sind Katholik, Herr Dreher, und wissen, daß sie vor Gott die volle, reine Wahrheit sagen müssen, nichts verschweigen und nichts hinzufügen dürfen. – Unter Anrufung des Namen Gottes, werden Sie alles das, was Sie hier deponieren, vor Gericht unter Eid wiederholen müssen. Also, Herr Dreher, richten Sie Ihre Aussagen gleich so ein, daß Sie diese mit gutem Gewissen beeiden können.«
»Woll, woll, Herr Polizeikommissarius!« erwiderte der Soldat. »Das will ich schon, aber trotzdem werden 's von mir eh nix erfahr'n können. I weiß gor nix. I hob nix g'sehn. I wor gor nit im Haus, als der Mord g'schehn is –!«
Fastenrath spitzte die Ohren.
»Woher wissen Sie die Zeit des Mordes?« fragte er kurz und senkte die Augen. »Die wissen wir nämlich selbst noch nicht einmal.«
»Ich auch nicht, Herr Kriminaloffizial, Ihnen zu dienen. Ich mein nur, daß der Mord gestern abend geschehen sein muß, denn um – sag'n wir mal beiläufig – um Fünfe gestern nachmittag hab' ich Herrn von Poschacher noch g'sprochen, und heute morgen gegen Siebene, als ich hier ins Zimmer einikam, da war er tot. Also muß er in der Zeit von Fünfe bis Siebene heute morgen erdolcht worden sein.«
Fastenrath ging auf die Ausführungen des Burschen im Augenblick gar nicht weiter ein.
»Wie lange sind Sie Bursche beim Feldmarschallleutnant?«
»Seit August vorigen Jahres. Als mein Regiment, das Infanterieregiment Wernhardt um Sylvester 65 abgelöst wurde und nach Mainz kam, blieb ich auf besondere Verwendung des Feldmarschalleutnants hier«.
»Danach muß Herr von Poschacher mit Ihren Leistungen sehr zufrieden gewesen sein –?«
»Woll! Woll! Herr Kriminalkommissarius; das kann man wohl schon sag'n. I hab mein Dienst immer g'wissenhaft versehen, mir nie was zu schulden kommen lass'n.«
»Wer hat die Bluttat zuerst entdeckt?«
»Ich, Herr Kriminalkommissarius! Das war so: Leute morgen – ich komm immer so gegen 7 Uhr herunter – meine Kammer ist nämlich oben auf der Mansard'n, wie das hier in Frankfurt so üblich ist fürs Personal; – – also ich komm auch heut nichtsahnend in die Wohnung. Der Herr Feldmarschallleutnant ist ein Frühaufsteher; ich hab sofort das Kaffeewasser auf den Herd g'stellt und bin dann ins Arbeitszimmer hier gangen, und da sind ich – die Bescherung. Zuerst hat's mir fast die Red derschlag'n, aber dann hab ich sofort gewußt, was ich zu machen hab. Hab' die Wohnung abg'schlossen. Wir sind nämlich eben allein zu Haus. Die Haushälterin Frau Klemm ist auf acht Tag zu ihren Verwandten ins Hessische beurlaubt. Also ich hab' das Zimmer hier abg'schlossen, und renn, was i rennen kann, in die Langestraß 'n zu Herrn von Terzky. Dann hat mir Herr von Terzky verschiedenes bestellt, was ich inzwischen erledigen sollt'. Dann hab ich in der Küche draußen gewartet und drauf geachtet, daß niemand das Zimmer oder auch nur die Wohnung betritt, bevor die Polizei 'kommen ist. Mehr kann i net sag'n.«
»Gut, Herr Dreher! Das war heute. Aber, was geschah gestern? – Strengen Sie Ihr Gedächtnis an! Jedes, auch das nebensächlichste Detail kann für die Untersuchung von allergrößter Bedeutung werden!«
Der Offiziersdiener schwieg einen Augenblick und schien nachzudenken.
»Sie dürfen sich setzen, Herr Dreher!« forderte Fastenrath auf.
Clemens Dreher warf einen fragenden Blick auf den Rittmeister. Dieser nickte fast unmerklich.
»Kiß d'Hand!« sagte Dreher und zog sich einen Stuhl heran. »Was gestern war, Herr Kriminalkommissarius? – Ja, da muß ich erst mal genau nachdenken. Alsdann, ja, der Herr Feldmarschalleutnant kam mit dem Nachtzug an, erschien gestern morgen gegen 8 Uhr in seiner Wohnung und war a bisserl müde und marode. Er hat sich bis gegen 11 Uhr niedergelegt. Dann hat er zu Mittag g'speist. Dabei hab' ich serviert. Ich hab' ihm dann den Schwarzen serviert und die Post gebracht – –«.
»Einen Moment! – Wissen Sie, was die Post brachte?«
»Den Inhalt der Briefe? – Nein, den kenn ich natürlich nit! Es waren zwei Zeitungen, ein Dienstbrief mit dem Adlersiegel, wann i nit irr, aus Wien, außerdem ein privates Schreiben.«
»Danke! – Weiter! – Was geschah dann?«
»Herr von Poschacher hatte sich dann wieder hingelegt und ausgeruht, und es mag beiläufig drei Uhr gewesen sein, da hat er mich beurlaubt auf den Spätnachmittag und den Abend.«
»Wann gingen Sie von hier weg, Herr Dreher? – Die genaue Beantwortung der Frage ist sehr wichtig!«
»Gegen Fünfe bin ich auf meine Mansarde gegangen und hab mich umg'zogen. Am 5 Uhr 15 oder 5 Uhr 20 hab ich das Haus verlassen.«
»Und wann kamen Sie zurück?«
»Gegen 11 Uhr!«
»Gingen Sie dann sofort auf Ihre Mansarde?«
»Pflegten Sie, wenn Sie Ausgang hatten, nicht erst nochmals die Wohnung aufzusuchen?«
»Nein, wenn der Herr Feldmarschalleutnant noch einen Befehl hatte, klingelte er. Es geht ein Klingelzug vom Schlafzimmer in meine Mansarde.«
»Wo haben Sie die Zeit von 5 Uhr 15 oder 5 Uhr 20 bis zu Ihrer Rückkehr verbracht? Erinnern Sie sich dessen?«
»Aber ja, Herr Kriminalkommissarius! Ganz genau! Ich ging direkt nach dem Röderbergweg, wo meine Braut wohnt.«
»Sie haben eine Braut?«
»Jawoll, Dienstmädchen beim Medizinalrat Hefter im Röderbergweg. – Dort blieb ich bis ½8 Uhr; hab dort auch genachtmahlt. Dann bin ich mit meiner Braut zum Tanzen in Gräfs Garten am Allerheiligentor gegangen.«
»Und dort blieben Sie bis 11 Uhr?«
»Nein, net ganz! – Gegen ½11 Uhr bin i weggangen, denn der Weg vom Allerheiligentor bis hierher in die Bleichstraßen ist doch ziemlich weit.«
»Sie gingen also direkt in Ihre Mansarde?«
»Jawohl!«
»Und – – irgendetwas Verdächtiges, etwas Auffallendes haben Sie nicht bemerkt?«
»Nein, 's war alles wie ansonsten auch.«
»Sagen Sie mal, Herr Dreher, kam es häufiger vor, daß der Herr Feldmarschalleutnant Sie um 5 Uhr wegschickte und sich ohne Diener behalf?«
»Häufig? – Na – das kann man eigentlich nit sag'n, aber mitunter kam's schon vor. Manchmal war der Herr Feldmarschalleutnant irgendwo zu Gast geladen, oder er speiste mit Freunden im Russischen oder Englischen Hof. – –«
»Traf eine dieser Voraussetzungen auch gestern zu?«
Der Bursche schwieg.
»Sie haben mich anscheinend nicht verstanden. – Speiste der Herr Feldmarschalleutnant auch gestern außerhalb?«
»Nein! Er muß schon zu Haus geblieben sein, denn er hat sich aus der Küche selbst etwas zu essen geholt; das Geschirr steht noch in der Küche.«
»Das ist doch ein wenig auffallend, Herr Dreher!«
»Was, Herr Kriminalkommissarius? Was soll auffallend sein?«
»Na, ich meine, daß eine Persönlichkeit wie der Herr Feldmarschalleutnant seinen Burschen wegschickt und sich selbst bedient.«
»Mein Gott, Herr Kriminalkommissarius, das ist eh schon vorgekommen –!«
»Das ist, wenn ich Sie richtig verstanden habe, schon mehrfach vorgekommen?«
»Aber ja! Der Herr von Poschacher hat mitunter Besuch erwartet, und da – –«
»Da wollte er wohl ungestört sein – –?«
»Ja, das ist möglich!«
»Was war das denn für Besuch – –?«
Der Bursche schwieg und warf einen scheuen Blick auf den Adjutanten.
Dieser sagte ruhig: »Sie müssen alles sagen, Dreher, alles, was Sie wissen!«
»Herr von Poschacher empfing gelegentlich wohl auch Damenbesuch in seiner Wohnung?« forschte Fastenrath.
»Ja, ab und zu.«
»Und – da schickte er Sie immer weg?« fiel Fastenrath ein.
»Ja, fast immer!« meinte der Bursche zögernd.
»Befürchten Sie nicht, Herr Dreher,« sagte Fastenrath ruhig, »Indiskretionen zu begehen, wenn Sie uns die volle, reine Wahrheit sagen. Erstens bleiben Ihre Aussagen amtlich geheim, und zweitens kann ich sowieso nichts dabei finden, wenn ein Herr wie der Herr Feldmarschalleutnant, ein Witwer in den besten Jahren, auch mal gelegentlich den Besuch einer Dame empfängt.«
»Jawohl!« erwiderte der Bursche.
»Haben Sie Grund zur Annahme, daß Herr von Poschacher auch gestern – sagen wir mal um 6 Uhr oder später – den Besuch einer Dame erwartete –?«
»Nein, Herr Kriminalkommissarius, das kann ich natürlich net sagen. – Ich bitte, ich muß noch erwähnen, daß ich auch häufiger weggeschickt wurde, ohne daß gerade Damen erwartet wurden.«
»Verzeihung, Herr Fastenrath!« fiel der Adjutant von Terzky ein. »Ich möchte hier etwas richtigstellen. Selbstverständlich ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß ein noch verhältnismäßig junger Mann, der zudem auch frei und ledig ist, – Herr von Poschacher war Witwer – gelegentlich Beziehungen zum anderen Geschlecht anknüpfte; aber aus dem Fortschicken des Burschen darf natürlich nicht mit Sicherheit geschlossen werden, Herr von Poschacher habe ein galantes Abenteuer vor den Augen seines Burschen verheimlichen wollen. Die Stellung des Feldmarschalleutnants, vor allem auch die gegenwärtige Zeit brachte es mit sich, daß er mitunter auch Besuche politischer Art empfing, Verhandlungen diplomatischer, sekreter Natur zu pflegen hatte, und daß mancher Besuch streng geheim gehalten werden mußte. – Ich kann natürlich nicht positiv behaupten, gestern gegen 6 Uhr wurde hier in diesen Räumen eine wichtige, geheime Besprechung politischer Natur gepflogen; aber es geht natürlich noch weniger an, sich auf die zweite Möglichkeit, auf ein galantes Abenteuer festzulegen. Im übrigen muß unschwer festzustellen sein, wer gestern hier in der strittigen Zeit erschienen ist. – Sie dürfen nicht vergessen, daß vor dem Laufe des Feldmarschalleutnants ständig ein Militärposten steht, und die drei in Frage kommenden Infanteristen sind auch bereits bestellt und warten auf ihre Vernehmung.«
Fastenrath verbeugte sich im Sitzen.
»Ich bewundere Ihre Vorsorglichkeit, Herr Rittmeister!« sagte er höflich. »Ich danke Ihnen! Nur noch eine Frage an Dreher.«
Der Bursche erhob sich.
»Bitte bleiben Sie ruhig sitzen. Es spricht sich besser. – Wissen Sie, Herr Dreher, welche Parteien außer dem Herrn von Poschacher das Haus hier noch bewohnen?«
»Jawohl! – Im Parterre wohnt Herr Hoff mit Frau und Kindern.«
»Der Bankier Hoff aus der Neuen Kräme?«
»Jawohl; und im zweiten Stock eine Witwe Baumgarten. Der Mann war mal früher an der Stadt beschäftigt.«
»Ja, ich weiß, der Stadtsekretarius Baumgarten, der vor zwei Jahren gestorben ist. Die Witwe vermietet Zimmer an Chambregarnisten.«
»Jawohl, aber ich glaub', es wohnt eben nur ein Herr bei ihr, ein Hauptmann vom Frankfurter Linienbataillon. In der Mansarde habe ich meine Kammer; außerdem schläft dort noch die Köchin vom Herrn Hoff.«
»Herr Hoff hat Kinder?«
»Jawohl, einen Buben von beiläufig 10 oder 12 Jahren und ein Madel, das ein wenig jünger ist.«
»Da ist doch wohl auch noch eine Bonne, ein Kinderfräulein beschäftigt?«
»Ja!« erwiderte der Bursche. »Elise heißt sie; sie wohnt aber unten in der Wohnung, schläft mit im Kinderzimmer.«
»Wissen Sie, wer von den übrigen Hausbewohnern gestern nachmittag anwesend war?«
»Da – – das kann i natürlich nit sag'n, Herr Kriminalkommissarius.«
»Na, das läßt sich durch Befragung leicht feststellen. Jetzt nur noch eine kleine Aufklärung, Herr Dreher. Das Haus hat nur den einen Eingang, das große Portal an der Bleichstraße?«
»Jawohl!«
»Also ein Zugang zum Haus ist nur durch das Hauptportal möglich, und – wer das Haus betritt, muß vom Posten, der alle zwei oder drei Stunden abgelöst wird, gesehen werden?«
»Ja, das wird wohl so sein, Herr Kriminalkommissarius.«
»Ist es nicht möglich, auch durch den Garten ins Haus zu kommen?«
Der Bursche schien nachzudenken.
»Ganz unmöglich wär das natürlich nit. Einbrecher könnten vielleicht auch über das Gartenstackett klettern.«
»Einbrecher scheiden aus!«
»Na – ja, und dann ist hinten im Garten noch a klaans Eisentürl, das auf die Anlage hinausgeht, aber das ist immer versperrt und wird nie benützt.«
»Besitzen Sie einen Schlüssel zu dieser kleinen Gartenpforte?«
»Nein, ich nit; ich hab auch einen Schlüssel dazu nie gesehen!«
»Sie wissen also auch nicht, ob Herr von Poschacher einen solchen Schlüssel besitzt?«
»Nein! Ich weiß nur, daß das Türl nit benützt wird; wer bisher zu uns kam, ging immer durch den Haupteingang an der Bleichstraße am Militärposten vorbei – –.«
Fastenrath klappte den Aktenbogen zu.
»Herr Dreher, ich danke Ihnen; mehr will ich, im Augenblick wenigstens, von Ihnen nicht wissen. Aber halten Sie sich in der Wohnung bereit; es ist durchaus möglich, daß ich im Laufe der Verhöre noch die eine oder die andere Frage an Sie richten muß.«
Der Bursche nahm vor dem Adjutanten Habt-acht!-Stellung ein und verließ das Zimmer.
Der Rittmeister von Terzky zog ein Stück Papier aus der Tasche.
»Ich habe hier ein Verzeichnis der Militärposten, die gestern abend in der in Frage kommenden Zeit zum Postenstehen vor dem Hause kommandiert waren. Die Posten werden jeweils nach drei Stunden abgelöst, in Frage kommen die Posten von 5-8, 8-11 und 11-2 Uhr nachts. Die drei Soldaten sind vorsorglich aus der Kaserne im Karmeliterkloster hierher bestellt worden und stehen zu Ihrer Verfügung.«
Der Polizeidirektor Dr. Schultheiß, der bisher die ganzen Verhöre allein seinem Beamten überlasten und nur schweigend zugehört hatte, wandte sich jetzt mit einem verbindlichen Lächeln an den Rittmeister:
»Ich muß Ihnen mein Kompliment machen, Herr von Terzky,« sagte er. »An Ihnen ist ein tüchtiger Kriminalist verloren gegangen. Sie denken an alles und haben uns durch Ihre Vorsorge die Arbeit sehr erleichtert.«
Rittmeister von Terzky verbeugte sich im Sitzen.
»Wir haben natürlich ein dringendes Interesse daran, daß die Sache auf dem schnellsten Wege geklärt wird. Was ich tat, Herr Direktor, geschah auch in unserem eigenen Interesse. Darf ich die Posten heraufholen lassen?«
»Ich bitte darum!« erwiderte Fastenrath liebenswürdig.
Eine Minute später erschien wieder ein weißröckiger Infanterist im Zimmer. Es war ein dicker, kleiner Kerl, der vor dem Rittmeister stramm stand und die rechte Land an den Tschako legte. Der Rittmeister von Terzky stellte dem Soldaten eine Frage in tschechischer Sprache. Dieser grinste und antwortete Deutsch.
»Herr Rittmeister, zu Befehlen; Melde gehursamst, sprech ich sehr gut Daitsch. So gut wie behmisch. War ich als Schuster drei Jahr bei daitsche Meister in Prag.«
»Sie haben gehört, Herr Fastenrath. Auch hier stößt das Verhör in deutscher Sprache auf keine Schwierigkeiten.«
Dann wandte sich der Rittmeister nochmals, an den Soldaten.
»Die beiden Herren hier sind von der städtischen Frankfurter Polizei. Sie werden Ihnen einige Fragen vorlegen, die Sie genau so ehrlich und wahrheitsgemäß beantworten müssen, als ob ich oder ein anderer Vorgesetzter Ihnen diese Fragen stellt. Laben Sie verstanden?!«
»Sehr genau, Herr Rittmeister!«
»Wie ist Ihr Name?« eröffnete nun Fastenrath das Verhör.
»Vaclav Vondracek, –Herr Beamter. Infanterist bei k. und k. Nobili Infanterie, 2. Kompanie!«
»Wie alt?«
»25 Jahre.«
»Geboren – – in?«
»In Pribram, im Jahre 1841!«
»Katholisch?«
»Jawohl!«
»Verheiratet sind Sie nicht?«
Der Soldat grinste: »Naa, ist doch verboten bei Kommiß!«
»Von Beruf sind Sie Schuhmacher, das sagten Sie ja bereits.«
»Jawohl, Herr Beamter, Schuhmacher von Berufs, ober seit sechs Jahr'n bin ich bei den Kaiserlichen.«
»Herr Vondracek,« sagte jetzt Fastenrath, »Sie wissen, daß der Herr Feldmarschalleutnant von Poschacher gestern, wahrscheinlich in der Zeit von 5-8 Uhr, ermordet wurde?«
»Hob ich gehehrt, Herr Beamter. Is sehr schade. War sehr anständiger Vorgesetzter, der Herr Feldmarschalleutnant von Poschacher.«
»Na, gut, Herr Vondracek. Sie sind vielleicht in der Lage, Aussagen zu machen, die zur Festnahme des Mörders führen. Sie standen gestern vor dem Hause Posten.«
»Jawoll, Wache Nummer 7, von 5-8 Uhr. Abgelöst bin ich wurden vun Infanterist Goldgulden, wos is zufällig guter Landsmann vun mir aus Breznice.«
»Als Wachposten gehen Sie unten vor dem Laufe auf und ab, Herr Vondracek. Worin bestehen nun eigentlich Ihre Obliegenheiten?«
Der Soldat grinste von neuem.
»In gor nix, Herr Beamter! Auf und Abgehen, sonst nix!«
»Gewiß, aber Sie müssen doch selbstverständlich auch die Augen offen halten –?«
»Natierlich muß ich, seehr genau!«
»Sind Sie verpflichtet, Leute, die ins Haus wollen, anzuhalten, nach ihren Wünschen zu fragen?«
»Nein, Herr Beamter! Dos geht ja auch gor nit, denn außer Feldmarschalleutnant wohnt auch Zivilistenbagasch' hier im Haus.«
Die drei Zeugen dieses Verhörs mußten wider Willen und trotz der alles andere als heiteren Umgebung herzlich lachen.
»Sie lassen also jeden, der es wünscht, ungehindert eintreten?«
»Jawohl, muß ich noch Instruktion,« Herr Beamter.«
»Sie standen nun gestern von 5-8 Uhr vor dem Haus!«
»Nein, niecht stand; ich muß gehen – so hin und her. Zehn Schritt vor, links um, dann zehn Schritt zurieck, rechts um und wieder wie vorhin.«
»Gut! Wenn Sie auch niemanden anhalten dürfen, so beobachten Sie aber doch?«
»Natierlich, Herr Beamter, gonz genau!«
»Ich stelle Ihnen jetzt eine präzise Frage; versuchen Sie Ihr Gedächtnis anzustrengen und diese Frage auch präzis zu beantworten: Tat während Ihrer Wachzeit jemand das Haus betreten?«
»Ja, Herr Beamter! War hiebsches Madel mit zwei Kinderl.«
»Das Kinderfräulein aus dem Parterre wohl?«
»Weiß ich nicht, steh gestern erstmolig Posten vor Quartier vun Feldmarschalleitnant!«
»Erinnern Sie sich noch der Zeit, wann das Mädchen mit den beiden Kindern das Haus betrat?«
»Gonz genau, Herr Beamter; kaum schlug Mädchen Tier zu, schlug auch Uhr von Petterskirch 6 Uhr.«
»Also um 6 Uhr kam das Mädchen, wahrscheinlich das Kinderfräulein aus dem Erdgeschoß, hier an. Wer kam nachher?«
»Niemand, Herr Beamter!«
»Strengen Sie Ihr Gedächtnis an, Vondracek!«
»Pardon, natierlich! Hob ich ganz vergessen. Vielleicht eine Stunde nachher kam Gefreiter von Kommando mit Mappe.«
Fastenrath sah den Rittmeister an.
»Das stimmt, Herr Fastenrath!« sagte dieser. »Am diese Zeit pflegt eine Ordonnanz vom Kommando in der Wohnung des Kommandanten vorzusprechen. Sie bringt die Meldungen, die Parole, die notwendigen Unterschriften, alles liegt in einer verschlossenen Mappe, zu der nur der Adjutant des Kommandos und der Feldmarschalleutnant je einen Schlüssel besitzen.«
»Ist diese Ordonnanz zu sprechen, Herr Rittmeister?«
»Der Patrouillenführer Pinelli wartet bereits, um von Ihnen vernommen zu werden!«
»Vielen Dank!« erwiderte der Polizeibeamte, der sich jetzt wieder an den Wachposten wandte: »Also, um nochmals zu wiederholen, Herr Vondracek, während Ihrer Wachzeit kam nur das Kinderfräulein aus dem Parterre und der Patrouillenführer vom Kommando, sonst niemand?«
»Sonst niemand!« erwiderte der Soldat.
»Hat während der Zeit, wo Sie auf Posten standen, jemand das Haus verlassen?«
»Jawoll! War sich kurz nach 5 Uhr, kaum, daß ich aufzog auf Posten, gieng Offiziersbursche, wo jetzt draußen in der Kuchel sitzt, fort.«
»Sie meinen den Burschen Clemens Dreher?«
»Jawoll! Heißt sich Dreher!«
»Richtig, Herr Vondracek! Das ist uns bekannt! Außer Dreher hat aber niemand mehr das Haus verlassen, in der Zeit, da Sie auf Posten standen?«
»Doch! War sich preißischer Hauptmann!«
»Ein preußischer Hauptmann?« erwiderte Fastenrath erstaunt. »Das ist doch nicht gut möglich!«
»Doch!« erwiderte der Soldat. »Weiß ich ganz genau, denn hab' ich Honneur gemacht!«
»Es gibt aber zur Zeit keine preußischen Offiziere mehr in Frankfurt!« meinte Fastenrath nachdenklich.
Der Tscheche zuckte die Achseln. »Kann ich nur sagen, daß preißischer Hauptmann Haus verlassen hat.«
»Um welche Zeit?«
»Kurz nachdem Patrouillenführer Pinelli kam!«
»Also nachher! – – Bestimmt nachher –?«
»Ja!« erwiderte der Tscheche ein wenig unsicher.
Bestimmt nachher, kann ich nicht mehr sagen, ich glaub' nachher.«
Fastenrath machte sich eine Notiz auf seinen Aktenbogen. »Herr Vondracek!« meinte er bedenklich. »Die Frage ist derart wichtig, daß ich sie nochmals stellen muß. War es bestimmt ein preußischer Offizier?«
»Ja, natierlich, kenn ich doch preißische Montur!«
»War der Offizier groß, klein – –?«
»Mittel, so groß, wie ich beileifig. Schlank, ziemlich jung, bartlos, langer, blauer Ieberrock mit zwei Stern auf Epauletten. Trug keinen Helm sondern Schirmkappe, wie sie Preißen-Offizier trog'n, außer Dienst.«
»Und dieser Preußische Offizier hat das Haus verlassen, nachdem der Österreicher vom Kommando mit der Mappe kam?«
»Weiß ich nicht mehr ganz bestimmt, Herr Beamter; aber es war kurz nach ½7 Uhr.«
»Haben Sie den Offizier kommen sehen?«
»Nein!«
»Dann muß auch der Posten vorher befragt werden, Herr Rittmeister!« sagte Fastenrath zu Terzky. »Dieser sonderbare Besuch ist wahrscheinlich wichtiger, als wir glauben.«
Vondracek wurde entlassen mit dem Auftrage, den Patrouillenführer Pinelli heraufzuschicken. Auch der Polizeidirektor verließ das Zimmer, um im Parterre festzustellen, ob die weibliche Person, die mit zwei Kindern um sechs Uhr das Haus betreten hatte, tatsächlich die Angestellte des Bankiers Hoff war. –
Vor dem Polizeidiätar Fastenrath stand jetzt der Gefreite oder, wie man damals in der k. und k. Armee sagte, der Patrouillenführer Pinelli. Die weißen Aktenbogen vor dem Polizeibeamten bedeckten sich mit zahlreichen, eng beschriebenen Notizen. Fastenrath nahm jetzt einen neuen Bogen und einen frisch gespitzten Bleistift zur Hand.
Der Rittmeister sprach inzwischen den Gefreiten an.
Dieser, ein junger Mann mit militärisch geschnittenen, tiefschwarzen, glänzenden Haaren und einem kleinen, dunklen Schnurrbärtchen machte einen weit intelligenteren Eindruck als sein tschechischer Kamerad, der soeben das Mordzimmer verlassen hatte.
Der Gefreite trug an seinem blauen Monturkragen die beiden Sterne seines Dienstgrades.
»Sie sprechen Deutsch, Pinelli?« fragte von Terzky.
»Zu Befehlen, Herr Rittmeister!«
»Gut! Der Herr hier hat eine Anzahl Fragen an Sie zu stellen. Ich bitte um wahrheitsgemäße Beantwortung. Sie sind wahrscheinlich der wichtigste Zeuge in der furchtbaren Angelegenheit, die wir aufklären müssen. – Herr Fastenrath, der Patrouillenführer Pinelli steht zu Ihrer Verfügung.«
Pinelli machte eine kleine Wendung und setzte, wie beim Kommando ›Steht kommod!‹ den linken Fuß vor.
»Bitte nehmen Sie Platz, Herr Pinelli!« sagte Fastenrath höflich. »Wie ist Ihr Vorname?«
»Giacomo, 26 Jahre alt, geboren in Udine bei Venedig, Patrouillenführer bei Wernhardt-Infanterie, 9. Kompanie, derzeit kommandiert zum k. und k. Armeekommando in Frankfurt.«
»Sie sind ledig, Herr Pinelli, katholisch?«
»Jawohl!«
»Und Ihr Zivilberuf?«
»Musiker, mein Herr!«
»Schön! – Sie wissen, Herr Pinelli, daß der Herr Feldmarschalleutnant gestern ermordet wurde. Die Tat ist nach unseren bisherigen Ermittlungen in der Zeit von 6 bis 9 Uhr abends verübt worden. Es ist auch festgestellt worden, daß Sie wahrscheinlich – der Mörder natürlich ausgenommen – die letzte Person waren, die den Feldmarschalleutnant gestern noch lebend angetroffen hat.«
»Jawohl, mein Herr!«
»Sie hatten gestern abend dienstlich hier zu tun?«
»Jawohl!«
»Bitte berichten Sie etwas ausführlicher!«
»Der Adjutant des Armeekommandos, Herr Leutnant Stepanowicz, gab mir gestern eine Mappe mit den Unterschriften und sonstigen amtlichen Papieren, die ich hierher in die Wohnung des Herrn Feldmarschalleutnants bringen sollte.«
»Wann war das?«
»Beiläufig um 6 Uhr. Ich ging auf dem direkten Wege von der Großen Gallusstraße durch die Taunusanlage hierher und war ungefähr um 6 Uhr 15 am Haus. Der Feldmarschalleutnant öffnete mir selbst und hieß mich eintreten.«
»Wohin gingen Sie, Herr Pinelli?«
»Hierher, in das gleiche Zimmer, wo wir augenblicklich sind.«
»Was tat nun der Herr Marschalleutnant?«
»Er schloß die Mappe auf und setzte sich an seinen Schreibtisch. Ich wartete in ›Habt acht‹-Stellung an der Tür, bis der Herr Feldmarschalleutnant die Unterschriften geleistet und die Papiere in die Mappe verschlossen hatte, dann ging ich wieder weg.«
»Wie lange waren Sie ungefähr hier in der Wohnung?«
»Vielleicht zehn Minuten!«
»Was taten Sie später?«
»Ich ging auf dem geraden Weg nach dem Kommando zurück, lieferte dem Rechnungsunteroffizier die Mappe ab, und suchte mein Quartier auf.«
Fastenrath schwieg und schrieb einige Worte auf den vor ihm liegenden Aktenbogen.
»Ich habe noch eine Frage, Herr Pinelli: Sie sind, wie ich aus Ihrem ganzen Benehmen festzustellen glaube, ein Mann guter Intelligenz. – Ist Ihnen bei Ihrer gestrigen Anwesenheit hier nichts Besonderes aufgefallen?«
»Ich wüßte nicht, mein Herr!«
»Wunderten Sie sich nicht, daß der Herr Feldmarschalleutnant selbst die Tür öffnete. Das macht doch wohl sonst der Bursche?«
»Das fiel mir nicht auf, mein Herr. Ich kenne die Gepflogenheiten hier im Hause nicht.«
»Hatten Sie nicht täglich in der Zeit zwischen 6 und 7 Uhr die Dokumententasche hierher zu bringen?«
»Nein, das war sonst Sache des Patrouillenführers Czermak.«
»Und warum kam Czermak gestern nicht?«
»Weil er sich am Morgen zur Marodenvisite gemeldet hatte und vom Regimentsarzt krank geschrieben wurde.«
»Wer erteilte Ihnen den Befehl, gestern an Stelle des Czermak die Mappe hierher zu bringen?«
»Ich sagte es bereits: der Adjutant, Herr Leutnant Stepanowicz!«
»Richtig! Sie haben also die Wohnung gegen ½7 Uhr wieder verlassen?«
»Jawohl!«
»Haben Sie in der Wohnung außer dem Feldmarschalleutnant noch eine zweite Person angetroffen?«
»Nein, ich habe niemanden gesehen!«
»Ist Ihnen auf der Treppe irgendjemand begegnet?«
»Nein!«
»Sahen Sie keinen preußischen Offizier?«
»Hier in der Wohnung, mein Herr?«
»In der Wohnung oder auch auf der Treppe?«
»Nein, ich habe niemanden gesehen! Ich ging mit meiner verschlossenen Mappe die Treppe hinunter. Die Hintertür unten im Stiegenhaus, die nach dem Garten führt, stand offen. Ich sah nur eine junge Frau, anscheinend ein Kinderfräulein, und hörte Stimmen von Kindern. Die Kinder selbst sah ich nicht, habe mich auch nicht weiter darum gekümmert sondern bin nach meiner Kanzlei in der Großen Gallusstraße zurückgekehrt.«
»Wann erfuhren Sie den Tod des Feldmarschallleutnants?«
»Heute morgen; der Feldwebel, der mir den Befehl erteilte, hierher zu kommen, sprach davon.«
»Tscha, Herr Pinelli!« meinte der Polizeibeamte. »Sie sind wahrscheinlich der Letzte gewesen, der den Feldmarschalleutnant noch lebend angetroffen hat. Besinnen Sie sich, denken Sie genau nach, ob Ihnen vielleicht nicht doch irgendetwas hier in der Wohnung auffiel, eine Bagatelle, eine Kleinigkeit, die aber vielleicht auf die Spur des Täters führt – –?«
»Ich – ich kann nichts mehr sagen – – ich weiß nichts!«
»Wie war der Feldmarschalleutnant? War er erregt, nahm er sich Zeit, die von Ihnen gebrachten Schriftstücke genau anzusehen? War es ihm darum zu tun, Sie schnell wieder loszuwerden?«
Der Gefreite zuckte die Achseln.
»Von einer Erregung merkte ich nichts. Der Herr Feldmarschalleutnant zeigte auch keine Hast oder Eile; er las alles genau durch, unterzeichnete einige Dokumente, verschloß alles wieder in die Mappe und verabschiedete mich.«
»Wissen Sie, was die Mappe enthielt?«
»Dokumente, die Parole, den Tagesbericht – –.«
»Sie haben mich nicht genau verstanden. Kannten Sie den genauen Inhalt der Dokumente; wußten Sie, was die Mappe im Einzelnen enthielt – –?«
»Nein! Der Inhalt der Mappe ist sekret. Sie wird vom Adjutanten verschlossen und erst vom Feldmarschalleutnant geöffnet, der sie nach Kenntnisnahme des Inhalts wieder verschließt.«
»Danke, Herr Pinelli! – Mehr habe ich im Augenblick nicht zu fragen.«
Der Patrouillenführer nahm die Beine zusammen und legte die Hand an den Tschako.
»Ich bitte dem Herrn Rittmeister von Terzky noch eine dienstliche Meldung machen zu dürfen!«
Der Rittmeister nahm den Gefreiten in eine Zimmerecke; dann wandte er sich an Fastenrath.
»Ich muß schnell in die Gallusstraße zum Armeekommando!« sagte der Rittmeister zu dem Polizeibeamten. »Der stellvertretende Kommandant, Herr Oberst von Prohaska, erwartet mich zum Rapport!«
Der Rittmeister stülpte die Mütze auf; Fastenrath hatte sich höflich erhoben.
»Ich habe im Augenblick auch keine Frage mehr an Sie zu richten, Herr Rittmeister. Wo kann ich Sie später eventuell erreichen?«
»Bis 2 Uhr in der Großen Gallusstraße, später in meiner Wohnung. Ich würde es dankbar begrüßen, Herr Fastenrath, wenn Sie mich von dem Ergebnis Ihrer weiteren Untersuchung in Kenntnis setzten.«
»Sehr wohl, Herr Rittmeister! Wenn Sie gestatten, komme ich heute mittag selbst auf einen Sprung zu Ihnen?!«
»Sie sind mir jederzeit willkommen! – Habe die Ehre, Herr Fastenrath!«
Unter der Tür stieß der Rittmeister mit dem Polizeidirektor zusammen, der vom Erdgeschoß herauf kam.
»Die Sache stimmt,« sagte der Direktor. »Die Bonne des Bankiers Hoff war mit den beiden Kindern in der ›Promenade‹ und kehrte um 6 Uhr nach hier zurück. Sie ging dann mit den Kindern in den Garten, wo sie sich bis gegen 7 Uhr aufhielt. Als Frau Hoff zum Abendessen rief, schlug es gerade 7 Uhr. – Die Gattin des Herrn Hoff kann überhaupt nichts sagen. Sie kennt den Feldmarschalleutnant nur vom Ansehen. Der Gatte kehrte erst um 10 Uhr von seinem Abendstammtisch heim und weiß noch weniger. Wenn Sie hier fertig sind, Fastenrath, würde ich empfehlen, Frau Witwe Baumgarten noch zu vernehmen, und dann das Nötige zu veranlassen, damit die Leiche wegkommt.«
Fastenrath verbeugte sich und trat ans Fenster. – Unten fuhr eine Droschke vor.
»Das Gericht!« meldete der Polizeibeamte. »Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter sind soeben vorgefahren.«