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Der Kellner Franz klopfte diskret an die Tür des Zimmers Nummer 9 im Hotel zur Westendhalle.
Eine laute, kräftige Stimme rief: »Herein!«
»Verzeihung, Herr von Sartorius!« sagte der Kellner. »Ich bringe den bestellten Mittagskaffee!«
Ein junger, schlanker Mann mit einem frischen, gebräunten, bartlosen Gesicht saß am Tisch und schrieb. Jetzt schob er seine Papiere zusammen, um Platz für das Kaffeegeschirr zu machen.
Der Kellner Franz ordnete schweigend die Kanne, die Tassen und den übrigen Inhalt seines Tabletts auf einer Tischecke.
»Haben Herr von Sartorius sonst noch Befehle?« fragte er und legte die Hand an die Hosennaht.
Horst von Sartorius sah auf und lächelte.
»Die Frankfurter sind doch bei aller dicken Freundschaft für Österreich selbst sehr wenig kriegerisch gestimmt – –?«
»Die Frankfurter – – jawoll, Herr Premierleutnant. – Das mag sein, aber – ich bin – – Preuße, und habe aktiv bei den Jägern in Lübben drei Jahre gekloppt.«
Sartorius sah ein wenig überrascht, fast etwas mißtrauisch in das lächelnde Gesicht des Kellners.
»Hat man Sie da noch nicht ausgewiesen?« fragte er.
»Aber nein, Herr Premierleutnant! Für jeden Preußen, der trotz Kriegsgeschrei und Kriegsoperationen noch in Frankfurt sitzt, möcht' ich 'nen Thaler haben, dann ging's mir gut. Aber, Herr Premierleutnant erinnern mich an etwas. Sie müssen morgen aufs Polizeiamt mit Ihrem Paß. Schon gestern war ein Polizeidiener hier, der sich nach Ihnen erkundigte.«
»Ich reise heute abend bestimmt ab.«
Der Kellner hob den Kopf.
»Verzeihung, Herr Premierleutnant, dann – – dann wird das Zimmer hier frei? Darf ich über das Zimmer verfügen? Wir erwarten um 5 Uhr einen Geheimen Rat aus Darmstadt, einen Stammgast, den wir nicht abweisen wollen, und unser Haus ist trotz des Krieges bis oben unters Dach besetzt.«
»Ich reise um 11 Uhr!« erwiderte der Premierleutnant. »Aber, wenn ich Ihnen damit einen Gefallen erweise, will ich das Zimmer in einer Stunde räumen.«
»Verbindlichsten Dank, Herr Premierleutnant! Darf ich fragen, von welchem Bahnhof Herr Premierleutnant abreisen? Es – – ist wegen der Besorgung des Gepäcks.«
Horst von Sartorius schien den lauernden Blick des Kellners nicht zu bemerken; er schwieg einen Augenblick, und als er aufsah, hatte der Kellner wieder seine devote Miene aufgesetzt.
»Mein Gepäck besorge ich wahrscheinlich selbst!« erwiderte Sartorius und erhob sich. Dann trat er ans Fenster. In der Großen Gallusgasse herrschte Hochbetrieb. Vor den Fenstern des Hotels lag das Taunustor und vor dem Tor, fast neben einander, der Taunusbahnhof, der Main–Neckar und Main–Weser-Bahnhof. Eine dichte Menschenmenge wogte durch das Tor nach den Bahnhöfen.
»Was geht denn dort unten vor?« fragte Sartorius.
»Die Leute rennen nach dem Main–Weser-Bahnhof. Heute mittag wird ein großer Militärtransport aus dem Norden erwartet. Österreicher, die aus Schleswig-Holstein kommen und wahrscheinlich nach Böhmen weiter geleitet werden.«
Horst von Sartorius brach das Gespräch ab.
»Ich danke Ihnen!« sagte er. »Ich will noch meinen Kaffee in Ruhe trinken und dann mein Gepäck fertig machen. Wegen eines eventuellen Transports zur Bahn gebe ich Ihnen rechtzeitig Bescheid, falls ich meine Absicht, das Gepäck selbst zu besorgen, ändern sollte.«
Der Kellner verneigte sich und verließ das Zimmer.
Horst von Sartorius eilte auf leisen Sohlen zur Tür und horchte auf die sich entfernenden Schritte des Kellners. – Dieser stieg, sein Tablett unter dem Arm, die Treppe hinab. Sartorius öffnete nun die Tür einen Spalt und huschte auf den dämmerigen Hotelgang hinaus, gerade als der Kopf des Kellners auf der Treppe verschwand.
Langsam und vorsichtig stieg auch Sartorius in das Erdgeschoß hinab, wo der Gastraum lag. Durch die Glasscheiben der Tür konnte er einen Teil des Gastzimmers übersehen. Am Schanktisch stand ein Polizeidiener, der gerade den Schaum eines soeben getrunkenen Glases Bier von seinem borstigen, roten Schnurrbart wischte. Der Kellner Franz trat zu ihm und schien eine Meldung zu machen, wobei er unauffällig mit den Augen einen Wink nach oben gab. Der Polizeibeamte nickte befriedigt und schob sein Glas über den Schanktisch, der Kellner füllte es sofort noch einmal.
Sartorius hatte genug gesehen.
Es schien Zeit – höchste Zeit, zu verschwinden.
Mit schnellen Schritten, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte er in sein Zimmer und schloß ab.
Er besaß nur eine einzige Reisetasche mit einem festen Boden. Der obere Teil war nach der damaligen Mode in allen möglichen Farben bestickt und zeigte ein Blumenmuster mit der Inschrift: Bon voyage.
Sartorius beeilte sich, seine wenigen Effekten in die Tasche zu legen, dann öffnete er die Tischschublade und entnahm ihr eine Anzahl Papiere. Unschlüssig wog er den Stoß einen Augenblick in der Hand, dann stopfte er alles in den Ofen.
Der Ofen schien jetzt im Hochsommer allgemein als Papierkorb gedient zu haben; auch frühere Gäste hatten ihre Abfälle, zerrissene Briefe, Packungen von Schokolade, Obstschalen, Zigarrenstummel einfach in den Ofen gesteckt.
Unter diesem Kehricht verbarg Sartorius seine Papiere und Briefschaften, reinigte sich am Waschtisch die Hände und griff nach einer Brieftasche. Sie enthielt neben einigen Briefen und seinem Paß die Kabinettfotografie einer jungen, bildschönen Frau von unverkennbar südlichem Typus. Die Rückseite des Bildes trug eine kurze Inschrift in französischer Sprache: › A mon petit, bien aimì Horst Marquisette!‹
Als Sartorius das Bild betrachtete, nahm sein ernstes Gesicht einen sanften Ausdruck an. Dann legte er das Bild in die Brieftasche zurück und griff nach Hut und Stock.
Unten im Hoteleingang stand wartend der Kellner, er zeigte ein gleichgültiges Gesicht und fragte höflich: »Herr Premierleutnant geben mir wegen des Gepäcks noch Bescheid – –?«
»Ja!« erwiderte Sartorius kurz. »Aber – – – ich will gleich jetzt meine Rechnung bezahlen.«
»Sehr wohl, Herr Premierleutnant! Darf ich Herrn Premierleutnant bitten, einen Augenblick Platz zu nehmen – –.«
Sartorius ließ sich in einen Fauteuil aus verblichenem Samt fallen und sah auf die Straße hinaus.
Der Trubel hatte beinahe noch zugenommen. In ganzen Trupps pilgerten die Frankfurter nach den Bahnhöfen, um die einrückenden Österreicher zu begrüßen.
Als der Kellner die Rechnung brachte, zeigte die Uhr im Hotelvestibul gerade sechs. Sartorius zog seine Geldbörse, legte den Betrag der Hotelrechnung in preußischen Thalerstücken, die man in Frankfurt trotz der hier eingeführten Guldenwährung sehr gern nahm, auf den Tisch und ließ das Wechselgeld für den Kellner zurück.
Als Sartorius auf die Straße trat, hörte man aus der Richtung der Bahnhöfe lautes Jubeln und Schreien, untermischt mit Hochrufen. In die Rufe dröhnten Paukenschläge, die aus der weiten Entfernung dumpf herüber schallten. Jetzt vernahm er auch die Klänge einer Marschmusik. – Der Radetzkymarsch!
Als die Musik einsetzte, verstärkte sich der Jubel der Menge.
Sartorius drückte sich beim Hotel du Nord in die große Einfahrt des Wagnerschen Hauses, um sich den Vorbeimarsch der Österreicher anzusehen. Für die Frankfurter bedeutete der Durchmarsch der k. & k. Brigade Kalik eine Überraschung. Er lächelte still in sich hinein. – Diese Neuigkeit hätte er, der preußische Premierleutnant von Sartorius den Schreihälsen da draußen schon gestern mitteilen können. – In Berlin war man darüber früher unterrichtet als in Frankfurt oder München; und er, Sartorius, war daran schließlich nicht ganz unbeteiligt.
Vom Jubel der Menge umbraust tauchte jetzt am Taunustor die Spitze der Marschkolonne auf. – Die Wache des Frankfurter Linienbataillons trat ins Gewehr. Voran die Regimentsmusik, rückten die Österreicher in die Stadt.
Sartorius lächelte, als er die österreichischen Musikanten sah. Der Kapellmeister wirbelte, weniger militärisch stramm als geschickt artistisch, seinen langen Tambourstock; hinter ihm kam sofort die große Pauke, auf einem kleinen Wagen vor dem Tambour. Dieser Wagen wurde von einem großen Hund gezogen, der sich bemühte, im Takt der Musik mitzutraben, und ein ganz jämmerliches Gesicht schnitt, das mit dem Jubel der Bevölkerung und den strahlenden, siegesgewissen Mienen der einrückenden Österreicher nicht ganz im Einklang stand.
Die Österreicher marschierten in Kolonnen zu Vieren durch die Große Gallusgasse hinter der schmetternden Musik her. Ihre weißen Monturen und blauen Hosen wirkten weniger parademäßig als feldmäßig benützt. Die Tschakos trugen einen Wachstuchüberzug und waren mit Eichenlaub geschmückt.
Sartorius, der scharf beobachtete, mußte innerlich zugeben, daß die Truppen einen strammen Eindruck machten. Man merkte ihnen, den Siegern von Översee, Jagel, Fridericia und Veile an, daß sie dänisches Pulver gerochen hatten.
Hinter dem Infanterieregiment Graf Khevenhüller folgten Jäger vom 22. Bataillon mit wallenden, grünen Federbüschen auf den Hüten. Dann folgte das Infanterieregiment Graf Coronnini-Kronberg und zum Abschluß eine Batterie Artillerie.
Die Zusammenstellung dieser Brigade unter Anführung des Generalmajors Kalik, der mit seinem Stabe hinter der Musik ritt, bot ein getreues Spiegelbild der ganzen, großen k. & k. Armee. Das Regiment Khevenhüller bestand aus Tschechen, die die Hoch- und Hurrahrufe der Frankfurter mit ›Razdar!‹ erwiderten, während die Ungarn vom Regiment Ramnig ›Eljen, Eljen!‹ brüllten. Das 22. Jägerbataillon rekrutierte sich aus Polen. – Mit Ausnahme der wenigen Offiziere verstand kaum einer der österreichischen Soldaten Deutsch. Das hinderte aber die Frankfurter nicht, in ihrer kaum zu zügelnden Begeisterung die Truppen, als sie auf dem nahen Goethe-Platz halt machten, zu umringen, ihnen Zigarren, Flaschen Wein, belegte Butterbrote und Geld zuzustecken; denn Polen, Tschechen und Ungarn waren, sobald sie die Waffenröcke der österreichischen Armee trugen, dicke Freunde; dagegen die stammverwandten deutschsprechenden Preußen verhaßte Feinde, die man zu allen Teufeln wünschte.
Sartorius, der sich, nach dem Vorbeimarsch der Brigade von der Menge treiben ließ, betrachtete sich das Leben und Treiben auf dem Goethe-Platz nur kurze Zeit.
Nein, weg von hier! So schnell wie möglich heraus aus dieser Stadt, aus diesem Hexenkessel einer irregeleiteten Begeisterung!
Die hinter dem Roßmarkt liegende Hauptwache war vorschriftsmäßig mit einem Wachkommando des Frankfurter Linienbataillons besetzt. Der Posten unter Gewehr mußte alle zwei Minuten das schwere Miniégewehr hochreißen und vor den zahlreichen Frankfurter, Kurhessischen und Österreichischen Offizieren präsentieren.
Äußerlich sahen diese Frankfurter, wie Sartorius fast ärgerlich feststellte, den Preußen geradezu zum Verwechseln ähnlich; aber in ihrer Gesinnung waren sie alles andere als Preußen.
Am nahen Theaterplatz fuhren schon die ersten Wagen vor. Von der Katherinenkirche hatte es gerade ¾7 Uhr geschlagen, und die Vorstellung begann um 7 Uhr.
Sartorius studierte die großen Plakate, auf denen in Riesenlettern zu lesen stand, daß die Abschiedsvorstellung der berühmten Sängerin Marquisette Villars heute unwiderruflich stattfinden würde. – Mademoiselle Marquisette Villars mußte unmittelbar nach der Vorstellung nach München abreisen. Den Frankfurtern zeigte sie sich heute noch ein letztes Mal in ihrer besten Rolle als Violetta in Verdis gleichnamiger Oper.
Sartorius zog seine Taschenuhr.
»Noch drei Stunden!« murmelte er ärgerlich. Dann bog er schnell in die Biebergasse ein und betrat einige Minuten später das Hotel zum Russischen Hof auf der Zeil.
* * *
Die Musik Verdis war verklungen. Violetta hatte unter tiefster Anteilnahme des voll besetzten Theaters auf der Bühne ihren Geist aufgegeben. Der frenetische Beifall, der aus dem Parkett und von den Rängen herunter losprasselte, erweckte sie wieder zum Leben. Immer und immer wieder mußte sich die zierliche, schlanke Französin verneigen; das Publikum gab keine Ruhe. Schon wurden die Gasflammen an der Bühnenrampe ausgedreht, aber immer wieder erschien die Villars vor dem Vorhang, immer noch wollte sich das Publikum, das das Theater nur widerwillig zu verlassen schien, nicht beruhigen.
Jetzt hob die Villars die kleine, beringte Hand.
Tiefes Schweigen legte sich über den Zuschauerraum.
Die Sängerin trat an die Rampe. Sie hatte ihre Rolle als Violetta in französischer Sprache gesungen, und nun sprach sie zum Erstaunen der Zuschauer Deutsch und zwar ein sehr gutes, nur ganz leicht ausländisch gefärbtes Deutsch.
Sie dankte in herzlichen Worten für die liebe Aufnahme in der schönen Stadt, bedauerte den Abschied, aber sie könne nichts daran ändern, denn schon morgen müsse sie in München auftreten. Sie warf einige Kußhände in das Publikum und verschwand schnell hinter dem Vorhang, der sich jetzt auch nicht mehr öffnete.
Langsam leerte sich das Theater.
Marquisette Villars durcheilte einen langen, engen und sehr spärlich erleuchteten Gang und öffnete die Tür zu ihrer Garderobe.
An der Tür blieb sie erschrocken stehen und stieß einen leichten Ruf der Überraschung aus.
Ein junger Mann, der in der Garderobe gesessen hatte, erhob sich, legte die Finger warnend auf den Mund und schloß die Sängerin leidenschaftlich in seine Arme.
»Horst!« rief Marquisette Villars und machte sich sanft frei.
»Das ist aber eine angenehme Überraschung!« sagte sie und verschloß die Tür. »Ich glaubte Dich schon im Zuge nach Berlin, und jetzt bist Du doch nochmals gekommen!«
»Ich konnte nicht weg, Marquisette!« rief der Mann. »Ich mußte Dich noch einmal sehen. Wer weiß, wie lange wir auf ein Wiedersehen warten müssen!«
Die Sängerin strich dem Manne, der einen Kopf größer war als sie, mit ihrer kleinen, weißen Hand sanft und zärtlich über das Haar.
»Sind Deine – – Geschäfte – – hier erledigt?« fragte sie leise, beinahe ein wenig ängstlich.
Der Mann wehrte schnell ab: »Sprechen wir möglichst wenig davon!« sagte er schnell. »Alles ist erledigt und zur vollkommenen Zufriedenheit. Es klappt bei uns ausgezeichnet. Kassel ist bereits besetzt. In diesem Augenblick marschiert eine preußische Armee unter Vogel von Falckenstein schon in Hannover ein, und die Hauptarmee der Preußen überschreitet in langen Kolonnen die Gebirgspässe in Schlesien und Sachsen und überschwemmt Böhmen. Alles steht glänzend. Wenn der Krieg zu Ende ist, Marquisette, dann hole ich Dich, und müßte ich Dir über den Ozean nachfahren!«
Marquisette Villars lachte herzlich auf.
»Derartige Strapazen verlangt niemand von Dir. Ich bleibe vorerst in Deutschland, habe ein Engagement in München, anschließend in Stuttgart und dann in Zürich. Bis dahin wird dieser dumme Krieg wohl zu Ende sein?!«
»Gott gebe es!« antwortete Horst von Sartorius ruhig.
»Mein Gott!« rief Marquisette. »Es ist schon 10 Uhr vorbei; um 11 Uhr 15 geht mein Zug vom Ostbahnhof ab, und ich sitze immer noch im Kostüm!«
»Mein Wagen steht unten, ma chérie!« erwiderte Sartorius. »Ich bringe Dich zur Bahn.«
»Charmant! – Aber jetzt, bitte, mein Herr, treten Sie hinter diesen Paravant! Ich muß mich umziehen, und – – daß Du Dich nicht rührst – – nicht hinter dem Paravant herausblinzelst! – Compriss, Monsieur?«
»Es wird mir schwer fallen; aber ich verspreche, zu gehorchen!«
Marquisette klingelte der Garderobière, die sofort erschien und das Straßenkleid der Sängerin brachte. Sie schminkte sich vor dem Spiegel sitzend ab und plauderte inzwischen mit dem hinter der spanischen Wand sitzenden Geliebten.
»So!« sagte sie nach einer kleinen Pause. »Jetzt kannst Du wieder aus Deinem Gefängnis herauskommen. Henriette, schließen Sie die Robe am Rücken.«
Die Garderobière erledigte die Arbeit mit geschickten Fingern, die eine gewisse Routine in derartigen Arbeiten verrieten.
»Wie steht's mit dem Wagen, Horst?« fragte die Sängerin noch einmal.
»Der wartet bereits unten! Wir können jederzeit abfahren! In spätestens 15 Minuten sind wir am Ostbahnhof. Die Zeit reicht vollkommen. –«
Henriette, das alte Garderobenfaktotum des Frankfurter Schauspielhauses, hatte inzwischen schon die Wäschestücke und Toilettenutensilien in die Reisetasche verpackt.
»Wie sieht's mit dem großen Gepäck aus, Madame?« fragte sie.
»Das hat der Laufbursche vom Englischen Hof schon an den Bahnhof gebracht. Bringen Sie das Gepäck hinunter an den Wagen, bitte!«
Die Garderobière verschwand.
Marquisette erhob sich auf die Zehen und legte beide Arme zärtlich um den Hals des Mannes.
»Gib mir noch einen Kuß, Horst, und gräme Dich nicht! Alles wird noch gut werden! Du weißt, daß Du Dich meiner nicht zu schämen brauchst, daß die Sängerin Villars aus guter Familie stammt und Dir – – eben – – eben – – wie sagt man nur auf Deutsch – –?«
»Ebenbürtig!« half Sartorius aus.
»Ja, richtig, ebenbürtig ist. Ich konnte die familiäre Angelegenheit, die ich hier regeln wollte, leider noch nicht erledigen, so sehr ich mich auch bemühte. Aber ich wiederhole Dir, Du brauchst Dich meiner bestimmt nicht zu schämen!«
»Das weiß ich, Marquisette, und wenn es nach mir ginge, so nähme ich Dich vom Fleck weg, so wie Du bist!«
»Das geht nicht! – Daran ist nichts zu ändern! – Du bist preußischer Offizier, hast dienstliche und familiäre Rücksichten zu nehmen, und die Schauspielerin Demoiselle Marquisette Villars ist keine Frau für Dich; aber vielleicht die Comtesse – – – – – Na – – reden wir jetzt nicht darüber! Ich kann jetzt noch nicht sprechen. – Ich will Dich vor ein fait acomplit stellen. – – Und jetzt, mein lieber, guter Horst, müssen wir Abschied nehmen. Gib mir noch einen Kuß! Seit Du Dir den Schnurrbart abnehmen ließest, sind Deine Küsse noch süßer als bisher!«
Wortlos riß der Mann die schlanke Frau in seine Arme und verschloß ihre Lippen mit einem heißen Kuß. – – Dann riß er sich los.
»Wir müssen vernünftig sein, Marquisette! Du versäumst sonst den Zug – und – – ich auch.
Ich reise um Mitternacht nach Berlin. Was dann mit mir geschieht, das weiß nur der liebe Gott und das Kriegsministerium.«
Eng untergefaßt verließen die beiden die Garderobe des Frankfurter Stadttheaters und bestiegen den unten wartenden Wagen.
»Zum Ostbahnhof, Kutscher!« rief Sartorius.
Der Weg ging durch die nachtstillen Straßen der Stadt über die jetzt unbelebte Zeil, an der Konstabler Wache vorbei, nach der Allerheiligenstraße. Hinter dem Allerheiligentor, am Ausgang der Hanauerlandstraße, lag der Ostbahnhof. Der Nachtzug nach Hanau-Würzburg-München stand bereits unter Dampf, die Kondukteure warteten auf dem Bahnsteig. Marquisette bestieg ein Abteil erster Klasse, hatte sich kaum eingerichtet und einen Abschiedsgruß durch das Fenster gewinkt, als auch schon die Pfeife des Zugführers ertönte. – – Langsam, mächtige Dampfwolken aufwerfend, keuchte der Zug aus der Halle des Frankfurter Ostbahnhofs, hinaus in die dunkle Julinacht.
Sartorius winkte, bis der Zug verschwunden war; dann kehrte er nach dem Ausgang zurück. Dort standen zwei österreichische Offiziere und zwei Frankfurter Polizeisoldaten, daneben ein großer, starker Mann in Zivil.
Als Sartorius aus dem Bahnhof gehen wollte, stellte sich ihm plötzlich der Mann in Zivil in den Weg und zog seinen Hut.
»Herr Premierleutnant von Sartorius?« fragte er.
Sartorius nickte, ohne lange nachzudenken. Er stand noch ganz im Banne der letzten Stunde.
»Polizei der freien Stadt Frankfurt am Main!« sagte jetzt der Mann und fuhr ernst fort: »Ich habe den Auftrag, Sie zu verhaften, Herr Premierleutnant. Bitte folgen Sie mir unauffällig!«
Sartorius sah den Mann mit einem scharfen Blick an. – – Die beiden Polizeisoldaten hatten bereits die Pistolen gezogen.
Da lachte der Premierleutnant auf: »Ich weiß zwar nicht, was Sie von mir wollen …, aber ich denke gar nicht daran, hier zu nächtlicher Stunde eine Theateraufführung zu machen. Ich komme mit Ihnen.«
»Daran tun Sie sehr gut, Herr Kamerad!« fiel einer der beiden österreichischen Offiziere ein.
Sartorius verbeugte sich ironisch.
»Sogar Militär ist aufgeboten? Alle Hochachtung, meine Herren! Wollen Sie mich fesseln?« fragte er und streckte seine Hände aus.
»Wir verzichten!« erwiderte der Polizeibeamte in Zivil. »Da drüben steht unser Wagen. – – Bitte folgen Sie mir!«