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Polizeidirektor Dr. Schultheiß verließ langsam das Rathaus, wo er dem Oberbürgermeister Fellner und dem Senator Bernus einen Vortrag über das Verbrechen an dem Stadtkommandanten und über den Stand der bisherigen Ermittlungen gehalten hatte.
Dem Oberbürgermeister war der Vorfall mehr als peinlich. Der Krieg zwischen Preußen einerseits und Österreich andrerseits war inzwischen ausgebrochen. Frankfurt stand, wie bei der Stimmung seiner Bevölkerung und auch aus vielen anderen Gründen nicht anders zu erwarten war, natürlich auf Seiten Österreichs, und ausgerechnet jetzt mußte ein hoher österreichischer General und Diplomat in Frankfurts Mauern Opfer eines mehr als mysteriösen Verbrechens werden.
Der Mord war, wenn auch noch nicht offiziell bekannt, so doch bereits in der ganzen Stadt durchgesickert, und es gab in Frankfurt kaum einen einzigen Einheimischen, der die Bluttat nicht direkt oder indirekt den Preußen in die Schuhe schob.
Frankfurt am Main war im Jahre 1866 eine große und wichtige Stadt, es war auch die eigentliche Hauptstadt des deutschen Bundes; zahlreiche politische und internationale Fäden zogen sich nach der Handelsstadt am Main und führten wieder hinaus nach den deutschen Mittel- und Kleinstaaten, nach Frankreich, England, Österreich und Italien.
Die Einwohnerzahl des ganzen Staates Frankfurt überstieg aber kaum 100 000 Seelen, und die Kriminalität war auch nicht erheblich. Der sinnenfrohe Frankfurter, der seine Behaglichkeit, gutes Essen und Trinken über alles liebte, neigte nicht zu Exzessen. Kam schon einmal ein wirkliches Kapitalverbrechen vor, dann war der Täter in fast allen Fällen ein ›Ausländer‹. Und ein Ausländer mußte nach Ansicht des Polizeidirektors auch als Mörder des Feldmarschalleutnants in Frage kommen. Diese Theorie stand bei ihm fest, gleichgültig, ob das eigentliche Motiv politischer Natur war, oder ob vielleicht wirklich eine Frau hinter der Sache steckte.
Der Oberbürgermeister berichtete seinem Polizeidirektor, daß sich das österreichische Armeekommando brennend für die polizeiliche Untersuchung interessiere, und daß der stellvertretende Kommandant Oberst von Prohaska den Wunsch ausgesprochen habe, den Polizeidirektor um 2 Uhr in seiner, des Obersten, Wohnung zu sehen.
Dr. Schultheiß überquerte darum den breiten, belebten Römerberg und bog in die Neue Kräme ein, um die Zeil, die Hauptgeschäftsstraße, zu erreichen. Der Oberst wohnte in der Nähe des Bockenheimer Tors.
In den Altstadtgassen, die auf den Römerberg und die benachbarte Paulskirche führten, herrschte ein außergewöhnlich starker und erregter Verkehr. Auf dem Paulsplatz ballten sich die Menschen zusammen und stießen Drohungen und Verwünschungen aus. Der Polizeidirektor stellte fest, daß die Volkswut der preußischen Telegrafenstation galt, die neben der Börse untergebracht und trotz des Krieges immer noch in Tätigkeit war.
Plötzlich gellten Hochrufe auf. Eine Abteilung des in Frankfurt garnisonierenden bayerischen Militärs bog auf den Paulsplatz ein, besetzte die Telegrafenstation und drang sofort in die Amtsräume. Unter dem Gejohl der Menge, in der Hauptsache Altstadtpöbel, der überall zur Stelle ist, wo es gilt Skandal zu machen, wurden die drei preußischen Telegrafenbeamten auf die Straße geführt. Das Militärpikett hatte seine liebe Not, die drei Preußen vor tätlichen Beleidigungen zu schützen. Jetzt trat auch ein bayerischer Offizier aus der Telegrafenstation und brachte in einem offenen Korb die beschlagnahmten Amtsbücher, die Durchschläge der letzten Telegramme und andere Akten. Ein Zug bayerischer Infanterie marschierte unter dem Beifallsgejohl der Menge mit seinen drei Gefangenen ab. Das Telegrafenbüro wurde geschlossen und eine Wache vor den Eingang gestellt.
Als sich die Menge langsam verlief, setzte der Polizeidirektor seinen Weg fort. Aber die Verkehrsstockungen hörten nicht auf. Auf der Zeil standen die Menschen in dichten Massen und begrüßten begeistert eine Abteilung hessen-darmstädtischer Chevauxlegers, der eine Batterie württembergischer Artillerie folgte. Die Truppen versammelten sich auf dem Grindbrunnen im Osten der Stadt, dort, wo heute der Zoologische Garten steht. –
Der Prinz Alexander von Hessen wollte die bisher eingetroffenen Streitkräfte des 8. Bundeskorps mustern; auch der Thronfolger Friedrich von Hessen-Kassel wurde von seinem in der Nähe liegenden Schlosse Rumpenheim erwartet.
Als die Straße wieder frei war, beeilte sich Dr. Schultheiß, den Roßmarkt zu erreichen, und bog in die Große Bockenheimergasse ein. Unmittelbar vor dem Bockenheimer Tor wohnte der Oberst von Prohaska.
Direktor Schultheiß ließ sich melden, wurde sofort angenommen und in ein großes Wohnzimmer geführt, wo bereits ein Dutzend höhere österreichische Offiziere warteten.
»Grüß Gott, Herr Direktor!« sagte der Oberst von Prohaska, ein etwa 50jähriger Mann mit blondem, angegrautem Schnurr- und Backenbart. »Nehmen Sie bitte Platz! Ich darf Ihnen meine Herren vorstellen –? –.«
Der Polizeidirektor hörte eine Anzahl Namen, die er nicht verstand. Beine wurden zusammengeschlagen, Sporen klirrten. Dann nahm er Platz und zog sein Notizbuch, in das er sich einige Notizen gemacht hatte.
»Kennt man bereits den Täter, Herr Direktor –?« fragte der Oberst.
»Im Augenblick noch nicht,« erwiderte Dr. Schultheiß, »aber,« fuhr er beinahe siegessicher fort: »Man wird ihn kriegen; meine Organe sind noch an der Tatstelle beschäftigt; die Verhöre sind ziemlich abgeschlossen, und in großen Umrissen kann ich Ihnen berichten. – Der Tod steht einwandfrei fest, meine Herren, und daß es sich um einen Mord handelt, ist ebenfalls ohne Zweifel. Die Leiche ist bereits abgeholt und wird wohl morgen freigegeben. Die ganze Wohnung des Feldmarschalleutnants wird dann amtlich versiegelt.«
»Sehr nett, Herr Direktor, »meinte der Oberst mit einem leichten Spott, »aber das Wichtigste für uns – – den Täter hat man noch nicht?«
Dr. Schultheiß zuckte die Achseln.
»Kennt man wenigstens das Motiv?!«
»Auch hier sind wir noch auf Vermutungen angewiesen, Herr Oberst!« erwiderte der Polizeidirektor ein wenig verärgert. »Die Tat selbst,« fuhr er fort, »muß erst nach ½7 Uhr begangen worden sein. Der Bursche Dreher sprach Herrn von Poschacher noch um 5 Uhr 15; der letzte, der den Feldmarschallleutnant lebend sah, war der Patrouillenführer Pinelli, der das Haus etwa um ½7 Uhr verließ. Der Verdacht richtet sich auf eine sehr mysteriöse Persönlichkeit, auf einen preußischen Offizier, wahrscheinlich im Hauptmannsrange, der zur Zeit der Tat das Haus verlassen haben muß. Ich möchte diesen Verdacht aber doch beinahe von der Hand weisen – –.«
»Warum denn, Herr Direktor?«
»Weil der Hauptmann das Haus wahrscheinlich vor Pinelli verlassen hat.«
»Das steht nicht fest, Herr Direktor!« Der Oberst machte eine wegwerfende Bewegung. »Auf die Beobachtungsgabe eines tschechischen Infanteristen gebe ich nicht viel –!«
»Richtig, Herr Oberst! Ich gebe auf die Behauptung überhaupt so gut wie nichts. Der preußische Offizier ist eine sehr mysteriöse Persönlichkeit. Ich kann nichts damit anfangen. Preußische Offiziere gibt es zur Zeit in Frankfurt nicht mehr.«
»Das wollen wir nicht so ohne weiteres behaupten, Herr Doktor!« meinte der Oberst. »Der Mann ist jedenfalls bestimmt gesehen worden – –?!«
»Ja, und die Aussage des Wachtpostens wird auch noch durch das Zeugnis des Fräulein Wild erhärtet. Fräulein Wild ist eine Putzmacherin, die in der Beichstraße wohnt, vis à vis der Wohnung des Feldmarschalleutnants. Fräulein Christine Wild saß arbeitend am Fenster und hat den preußischen Offizier ebenfalls gesehen. Der Posten an der Tür machte ihm die Honneurs. Das deckt sich mit den Aussagen des Infanteristen Vondracek, allerdings haben sich gewisse und zwar nicht ganz unwichtige Unstimmigkeiten zwischen Fräulein Wilds und Vondraceks Aussagen insofern ergeben, als Fräulein Wild meint, der Hauptmann habe erst gegen 7 Uhr das Haus des Herrn von Poschacher verlassen. Weiter ist es auch sonderbar, daß zwei Zeugen den Hauptmann sahen, als er das Haus verließ, während sich keiner der Zeugen erinnern will, diesen geheimnisvollen Hauptmann gesehen zu haben, als er eintrat.«
»Der Hauptmann kann durch den Garten gekommen sein!«
»Möglich, Herr Oberst! Umso mehr, als die kleine Gartenpforte, die vom Garten nach der Anlage führt, tatsächlich in den letzten Tagen benützt worden ist. Es wurden dahingehende Spuren gefunden. Allerdings läßt sich nicht sagen, daß die Spuren von gestern sind; sie können auch älter sein.
Dann sind ab 6 Uhr bis 7 Uhr ständig Leute im Garten gewesen: die Bonne der Wohnpartei im Erdgeschoß mit zwei Kindern. Niemand aber hat einen Hauptmann oder sonst jemanden im Garten gesehen.«
Prohaska zog den blonden Schnurrbart nachdenklich durch die Finger.
»Herr Direktor!« sagte er, »Ihre interessanten Ausführungen sprechen durchaus nicht gegen die Existenz des Hauptmanns. Im Gegenteil! Ich bin überzeugt, daß er existiert und werde Ihnen nachher auch noch genauer sagen, warum! – Festgestellt ist, daß der Mann das Haus zwischen ½7 und 7 Uhr verließ. Weiter scheint festgestellt, daß ihn niemand hat kommen sehen. – Das ist leicht verständlich; ich behaupte nämlich, daß der Hauptmann beim Betreten des Hauses durch den Garten kam, und, – – daß er das Haus nur deshalb durch die Hauptpforte verließ, weil zwischen ½7 und 7 Uhr, als er wegging, Leute im Garten waren, die ihn nicht sehen sollten!«
»Danach müßte dieser Hauptmann ein Bekannter des Feldmarschalleutnants sein – –?«
»Möglich, aber nicht unbedingt erforderlich, Herr Direktor!«
Dr. Schultheiß zog die Stirn in nachdenkliche Falten.
»Die weitere Untersuchung wird diese Geschichte wahrscheinlich klären, Herr Oberst. Ich selbst weiß mit dem Besuch des Hauptmanns wirklich nicht viel anzufangen. – Verzeihen Sie, meine Herren, irgendein alter Lateiner sagte mal: de mortuis nil nisi bene – man soll den Toten nichts Böses nachsagen. Ich bin weit davon entfernt, den toten Herrn von Poschacher zu verunglimpfen, aber es könnte doch eine Liebesgeschichte hinter der Sache stecken. Das › Cherchez la femme‹ ist nach den bisherigen Ermittlungen, nach den positiven Aussagen des Burschen Clemens Dreher, nicht ganz von der Hand zu weisen.«
»Nein, Herr Direktor, eine Liebelei scheidet vollkommen aus!«
Der Polizeidirektor hob vor der bestimmten, mit scharfem Ton vorgebrachten Behauptung erstaunt den Kopf. »Sie scheinen mehr zu wissen, als wir von der Polizei?« sagte er ruhig.
»Jawohl, Herr Doktor; es scheint so! Ich behaupte, daß Herr von Poschacher von einem feindlichen preußischen Spion ermordet worden ist und kenne auch das Motiv zu dem Morde. Man hat bei dem Feldmarschalleutnant wichtige politische Papiere vermutet und – – – auch gefunden. Ich besitze die Beweise, Herr Direktor. Seit einer halben Stunde sind diese Beweise in meinen Händen! – – Ordonnanz –!!«
Der Bursche erschien unter der Tür: »Herr Oberst befehlen?«
»Zwei Flaschen Sherry mit den nötigen Gläsern hierher; außerdem ein Kistel Havannavirginier. Dann warten Sie draußen in der Küche. Für die nächsten 15 Minuten bin ich für niemanden, wer es auch sei, zu sprechen! – Verstanden?«
»Sehr wohl, Herr Oberst!« –
Als der Wein gebracht war und die Anwesenden sich mit Zigarren bedient hatten, verschloß der Oberst selbst die Tür und sagte mit gedämpfter Stimme:
»Was ich Ihnen jetzt erzähle, Herr Polizeidirektor, wollen Sie bitte als vertraulich ansehen. Das heißt, morgen wird alles keine Überraschung mehr sein; morgen werden sämtliche Zeitungen bereits informiert sein, besser vielleicht als wir hier; aber heute bitte ich die folgenden Mitteilungen als streng sekret ansehen zu wollen.« –
»Herr Feldmarschalleutnant von Poschacher fuhr, wie Ihnen bereits bekannt, am Montag an den Hof von Hannover – in einer halb militärischen, halb diplomatischen Mission. – Sie oder einer Ihrer Beamten fragte heute morgen den Herrn Rittmeister von Terzky nach dem eigentlichen Zweck der Reise. Herr von Terzky weigerte sich mit Recht, darüber Auskunft zu geben; aber inzwischen haben sich die Verhältnisse geändert. Nach Lage der Dinge haben Sie nicht nur das Recht, etwas Näheres über die Reise Poschachers zu erfahren, sondern ich fühle mich auch verpflichtet, Sie aufzuklären. Der Mord an dem Feldmarschallleutnant ist meines Erachtens eine Folge der Reise nach Hannover. – Seit gestern ist der Krieg ausgebrochen, ein Krieg, den Preußen seit Wochen vorbereitet und zwar ausgezeichnet vorbereitet hat. Ein preußisches Heer hat bereits die sächsische Grenze überschritten. Es besteht die Möglichkeit, daß die ersten Preußen im Augenblick, wo wir uns hier unterhalten, schon in Dresden einmarschieren –!«
»Das – – wäre ja entsetzlich, Herr Oberst!« warf der Polizeidirektor erschrocken ein.
»Nein! Genau so schnell wie die Preußen in Sachsen einrückten, so schnell werden sie auch wieder hinausfliegen. An der Feldherrnkunst unseres Benedeck beißt sich sogar ein Moltke die altersschwachen Zähne aus. Die Sache mit Sachsen ist nicht so schlimm! Es bedeutet auch nicht sehr viel, daß die preußische Division Beyer von Wetzlar aus schon in Kurhessen eingefallen ist, sogar schon auf halbem Wege nach Kassel steht.
»Schlimmer ist etwas anderes! Und – das ist der gleichzeitige Einbruch in das Königreich Hannover. An der Grenze von Hannover stand in Holstein unsere Brigade Kalik unter dem Befehl von Gablenz. Mit dieser Truppenmacht mußten die bei Hamburg konzentrierten Preußen ernsthaft rechnen, und der Feldmarschalleutnant von Poschacher reiste nach Hannover, um eine eventuelle gemeinschaftliche Operation unserer Brigade Kalik mit der königlich-hannoverischen Armee zu verabreden. Den Preußen mußte es darum zu tun sein, so schnell wie möglich zu erfahren, welche Verwendungsabsichten über die Brigade Kalik geplant seien. – Poschacher ist in Hannover sehr genau bespitzelt worden, das ist uns bekannt. Als er von Hannover abreiste, um nach Frankfurt zurückzukehren, nahm er Aufzeichnungen mit, wonach ein heimlicher Transport der österreichischen Brigade Kalik geplant war. Die Brigade wird heute mittag mit der Bahn in Frankfurt erwartet, um an den böhmischen Kriegsschauplatz gebracht zu werden. Diese Tatsache kannten die Preußen schon gestern abend. Sie wußten, daß ihnen bei einem Einmarsch in Nordhannover kein Widerstand geleistet werden konnte. Sie hatten gestern gegen 8 Uhr in Berlin ein Telegramm, das ihnen diese Gewißheit brachte. Ein Spion depeschierte dem preußischen Generalstab den genauen Inhalt der Abmachungen, die Poschacher mit Hannover über den heimlichen Abmarsch der Brigade Kalik getroffen hatte. – Heute in aller Frühe rückten die Preußen denn auch in Hannover ein. Harburg ist bereits besetzt, und die Hannoverische Festung Stade ist durch Überrumpelung vor vier Stunden ebenfalls in die Hände der Preußen gefallen. Hannover ist vom Meere abgeschlossen, und die hannoverische Armee mußte sich südlich auf Göttingen konzentrieren, um eventuell Fühlung mit den von Süden anrückenden Bayern zu nehmen.
Dieser gelungene preußische Vormarsch war aber nur dadurch möglich, daß der Generalstab in Berlin gestern abend schon eingehende Kenntnis der Dokumente besaß, die Poschacher von Hannover mitgebracht hatte. – Ich behaupte nun, Herr Direktor, die Ermordung des Feldmarschalleutnants, gestern in der Zeit von 5 – ½7 Uhr, hat einen rein politischen Hintergrund. Der Mörder wußte, daß er die Papiere, die er suchte, bei dem Feldmarschalleutnant finden könnte, und es kam ihm nicht darauf an, einen Menschen zu töten. – –«
»Das – das – wäre ja entsetzlich, Herr Oberst!
– Aber verzeihen Sie, Herr Oberst, sind das Vermutungen, oder – – – –«
»Tatsachen, Herr Direktor! – Die Papiere sind weder auf dem Armeekommando noch in der Wohnung des Feldmarschalleutnants zu finden; sie sind gestohlen worden!«
»Verzeihen Sie, Herr Oberst, es fällt mir schwer an einen Mord aus politischen Motiven zu glauben –!«
»Ich sagte Ihnen doch deutlich genug, daß der preußische Vormarsch alles beweist!« fiel der Oberst ärgerlich ein.
»Gewiß, ja! Daß die Preußen auf irgendeine Weise von den Papieren Kenntnis bekamen, das bezweifele ich nicht, aber daß die Papiere hier in Frankfurt gestohlen wurden, ist doch nur eine Vermutung.«
Der Oberst lächelte, aber um seine Mundwinkel legte sich ein boshafter Zug.
»Herr Direktor, ich weiß natürlich sehr wohl, was ich sage, und habe selbstverständlich auch für diese Behauptung meine Beweise. Der Inhalt der Dokumente wurde gestern abend um 7 Uhr 25 von Frankfurt nach Berlin depeschiert. Ich bitte von diesem Depeschendurchschlag Kenntnis zu nehmen. Er ist vor einer Stunde bei der Schließung der hiesigen preußischen Telegrafenstation beschlagnahmt und mir durch einen Eilboten sofort zugestellt worden. – Bitte, lesen Sie, Herr Direktor, und – – ich glaube Sie sind nun überzeugt?«
»In der Tat, Herr Oberst; das ändert natürlich alles!«
»Sie werden doch wohl zugeben,« fuhr der Oberst fort, »daß der preußische Offizier, der von zwei Zeugen beobachtet wurde, jetzt feste Gestalt annimmt, daß er aufhört eine, wie Sie selbst sagten, sehr mysteriöse Person zu sein, daß es sich um einen Menschen aus Fleisch und Blut und zwar um einen sehr gefährlichen Menschen handelt. – Unterstellen wir, daß die Tat kurz vor 7 Uhr begangen wurde, dann war es doch durchaus möglich, den verhältnismäßig kurzen Weg von der Bleichstraße nach der preußischen Telegrafenstation in 10-15 Minuten zurückzulegen und das Telegramm aufzugeben!«
»Ja, Herr Oberst!« erwiderte der Direktor und atmete tief auf. »Das scheint allerdings durchaus möglich!«
»Na, sehen Sie!« erwiderte der Oberst lachend und trank sein Südweinglas mit einem einzigen Zuge leer. »Es ist nun Ihre Sache, Herr Direktor, den Täter ausfindig zu machen, falls er noch in Frankfurt sitzt. Ich habe mir sagen lassen, daß die Haupttätigkeit der Frankfurter Polizei in den letzten Wochen Spionenriecherei betraf –?«
Der Polizeidirektor übersah das malitiöse Lächeln des österreichischen Obersten nicht.
»Spionenfurcht oder Riecherei kann man unsere Maßnahmen kaum nennen, Herr Oberst,« erwiderte er etwas ärgerlich. »Wie notwendig unsere dahingehende Tätigkeit war, scheint ja jetzt bewiesen.«
»Herr Direktor!« erwiderte der Oberst liebenswürdig. »Bitte, keine Mißverständnisse; es lag mir fern, irgendwelche Kritik an diesen Maßnahmen zu üben. Sie haben, wenn ich recht unterrichtet bin, eine ziemlich große Liste von suspekten preußischen Untertanen, die sich zur Zeit hier aufhalten, zusammenstellen lassen –?«
»Ich habe diese Liste in Kopie bei mir, Herr Oberst!«
»Famos! – Darf ich bitten, mir die Namen zu verlesen? Wir sind hier – –« wieder stahl sich ein feines Lächeln um den Mund des Offiziers, »auch nicht ganz untätig geblieben und können Ihre Liste vielleicht ergänzen oder auch rektifizieren.«
Dr. Schultheiß schlug einen Aktenbogen auf.
»Die Liste erhebt natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit, Herr Oberst. In Frankfurt leben viele Preußen, – Handlungskommis und Handlungsreisende, sogenannte commis Voyageurs, außerdem Vertreter preußischer Handlungshäuser. Jeder von diesen kann ein Spion sein. Als besonders suspekt galt uns der Baron von Reedern – –.«
Prohaska schüttelte den Kopf: »Der scheint harmlos!«
»Gustav von Knesebeck?«
»Kenne ich gar nicht!«
»Willy Leberecht Knoll?«
»Ebenfalls unbekannt! – Observieren Sie den Börsenagenten Kamnitzer aus der Obermain-Anlage, Herr Direktor?«
»Selbstverständlich, obgleich ihm nichts nachzuweisen ist! – Dann wäre hier noch ein Premierleutnant von Sartorius, seit vorgestern erst angekommen –?«
»Wer – – – – wie war der Name?« Der Oberst sprang plötzlich auf.
»Sartorius, Horst von Sartorius, wohnt seit vorgestern im Hotel Westendhalle!« erwiderte der Polizeidirektor ruhig.
Der Oberst sprang an seinen Schreibtisch, kramte in einer Schublade und nahm ein Blatt Papier zur Hand.
»Darf ich fragen, Herr Direktor, was gegen diesen Premierleutnant von Sartorius vorliegt –?« fragte Prohaska mit auffallender Ruhe.
»Eigentlich noch gar nichts. Er gilt aber bei uns als Preuße und als Offizier in der heutigen Zeit eo ipso als suspekt.«
»Wissen Sie, von wo Herr Premierleutnant von Sartorius zugezogen ist – – –?«
Dr. Schultheiß sah in seine Liste.
»Er hat im Fremdenbuch des Hotels als letzten Aufenthaltsort Koblenz angegeben und will heute nach Erfurt abreisen. Sein Paß liegt schon auf dem Polizeiamt, wenn er nicht inzwischen abgeholt wurde.«
»Herr Direktor!« sagte nun Prohaska auffallend ernst. »Sobald Herr von Sartorius seinen Paß holen will, falls es noch nicht geschehen ist, nehmen Sie den Mann fest. – Ich behaupte – – bitte, fahren Sie nicht auf: der sogenannte Premierleutnant von Sartorius ist der Mörder des Feldmarschalleutnants.«
Schultheiß nahm sich zwar zusammen, schreckte aber dennoch auf. Prohaska fuhr fort: »Die Angabe des Herrn, er käme aus Koblenz, ist eine Lüge. Wir wissen, daß Herr von Sartorius zur Botschaft in Hannover gehörte, daß er vorgestern und zwar mit dem gleichen Zuge, den Poschacher benützte, von Hannover abreiste, daß Sartorius beziehungsweise sein Auftraggeber oder direkter Vorgesetzter, der preußische Gesandte Prinz zu Ysenburg in Hannover, Poschacher in geradezu auffallender Weise bespitzeln ließ. Wir wissen weiter, daß ein Versuch, den Feldmarschalleutnant im Zuge nach Frankfurt zu bestehlen, an der Aufmerksamkeit des Feldmarschalleutnants scheiterte. Was dort versucht wurde und mißlang, gelang gestern abend in der Frankfurter Wohnung des Feldmarschallleutnants von Poschacher. – Herr Direktor!« der Oberst erhob sich erneut. »Es ist zwecklos, hier lange Reden zu halten. Ihre Jagd gilt einem mehr als gefährlichen Wild. Sie werden wissen, was Sie zu tun haben! Fahnden Sie mit allen Mitteln nach diesem Manne; hoffentlich gelingt Ihnen seine Festnahme noch auf dem Gebiete der freien Stadt Frankfurt!«
»Sie haben recht, Herr Oberst!« sagte Dr. Schultheiß, stopfte schnell seine Papiere in die Tasche und griff nach seinem Hut.
»Wo kann ich Sie erreichen, Herr Oberst?«
»Ich bin bis ½7 Uhr in meiner Wohnung. Ich gehe heute abend in die Oper, zur Abschiedsvorstellung der französischen Sängerin Marquisette Villars. Von 7-10 Uhr bin ich im Theater, Loge 9, rechts, Balkon; dann wieder zu Hause. Ich bitte mich, wenn nötig, auch mitten in der Nacht zu benachrichtigen. Und jetzt – – viel Glück und Erfolg, Herr Dr. Schultheiß!«