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Und nochmals Mordsache Poschacher.

Als Dr. Weberstädter und Fastenrath nach kurzer Zeit vor dem Hause des Feldmarschalleutnants in der Bleichstraße ankamen, warteten dort bereits zwei Männer in bürgerlicher Kleidung und ein Polizeisergeant. Fastenrath hatte auf alle Fälle zwei Konzipisten des Polizeiamts bestellt, von denen einer protokollieren, der andere eventuell notwendige schnelle Ermittlungen vornehmen sollte.

Langsam und vorsichtig löste Fastenrath die Amtssiegel an der Wohnungstür, hieß die drei Unterbeamten auf dem Vorplatz warten und betrat mit Dr. Weberstädter vorsichtig das Mordzimmer. Beide Kriminalisten blieben an der Tür stehen. Weberstädter ging schließlich als erster ans Fenster, öffnete die Flügel und zog mit Behagen die warme Sommerluft ein, die in das dumpfe Wohnzimmer strömte. Dann nahm er am Tisch Platz.

»Es ist noch alles so, wie wir es am 17. Juni verlassen haben!« berichtete Fastenrath, zog aus seiner Mappe mehrere Schlüssel hervor und legte sie vor dem Berliner Kollegen auf den Tisch. »Hier sind die Schlüssel zu den verschiedenen Schränken und zum Schreibtisch.«

Dr. Weberstädter antwortete nicht. Er ging mit langsamen Schritten im Zimmer auf und ab; vor dem Schreibtisch blieb er stehen.

»Also hier lag der Tote!« sagte er leise, mehr zu sich selbst. Dann ließ er sich auf den Boden nieder, wo ein dunkelbrauner, jetzt trockener Blutfleck auf dem Teppich die damalige Lage des Toten erkennen ließ.

Fastenrath war an die Tür zurückgetreten und beobachtete seinen Kollegen, der langsam und systematisch das Zimmer abzusuchen begann. Seine Aufmerksamkeit erstreckte sich auf den gesamten Fußboden. Er lüftete den Teppich und betrachtete die Fußbodendielen, stieg auf einen Stuhl, um die Decke zu besichtigen, und suchte auch die Wände ab. An der dem Fenster gegenüberliegenden Wandseite stutzte er und stieg wieder auf einen Stuhl.

In etwa zwei Meter Höhe zeigte die grüne Zimmertapete ein kleines Loch, aus dem ein ganz geringes Quantum Mörtel herausgequollen war. Dr. Weberstädter richtete einen fragenden, fast ein wenig vorwurfsvollen Blick auf Fastenrath, der langsam und zögernd näher kam.

»Haben Sie damals im Zimmer eine Pistole gefunden?« fragte Dr. Weberstädter ruhig.

»Nein! – Der Feldmarschalleutnant ist doch erdolcht worden!«

Ein flüchtiges, fast etwas spöttisches Lächeln huschte über das Gesicht Weberstädters. Er hatte bereits sein Taschenmesser aufgeklappt und bohrte es in das kleine Tapetenloch.

»Stimmt!« erwiderte er jetzt, »von Poschacher ist erdolcht worden, aber er hat sich anscheinend gewehrt! Hier! Was ist das – – Herr Kollege – –?«

Weberstädter hielt eine kleine etwas abgeplattete Bleikugel in der linken Hand.

»Das hier habe ich soeben aus der Wand herausgebohrt! Eine Pistolenkugel, Herr Fastenrath! Ich behaupte, daß hier in diesem Zimmer ein Kampf stattgefunden hat. Der Feldmarschalleutnant hat auf seinen Mörder geschossen. Die Kugel ging fehl und schlug in die Wand. Hat keiner der Zeugen einen Schuß gehört?«

»Es wurde zwar nicht ausdrücklich danach gefragt,« erwiderte Fastenrath etwas ärgerlich, »aber die Zeugen hätten natürlich auch ungefragt aussagen müssen, wenn sie einen Schuß gehört hätten!«

»Na, ja!« meinte Weberstädter. »Die kleinen modernen Puffer, die jetzt in Frankreich hergestellt werden, machen keinen so lauten Krach. Sie zischen, wie ein schwacher Peitschenschlag, und die Kugel, die ich hier gefunden habe, stammt aus einem sogenannten Lefaucheuxrevolver neuester Konstruktion.«

»Es ist auch nicht gesagt,« wandte Fastenrath ein, »daß die Kugel erst am Mordtage, in Abwehr eines Angriffs, abgefeuert worden ist. Sie kann schon wochen- und monatelang hier gesteckt haben.«

»Möglich!« erwiderte Weberstädter trocken. »Aber wahrscheinlich ist es nicht. Eigentlich hätten Sie die Kugel unbedingt finden müssen, Herr Kollege!«

Fastenrath wollte die Vorwürfe von sich abwälzen.

»Ich glaube nicht an einen Schuß, wenigstens nicht an einen Schuß am Mordnachmittage,« sagte er. »Man hätte die Pistole finden müssen; und Sie dürfen mir glauben, Herr Doktor, daß wir ganz genau gesucht haben.«

»Das beweist noch nichts, lieber Herr Fastenrath!« erwiderte Dr. Weberstädter so milde wie möglich. »Tatsache ist, daß der Mörder bisher nicht gefunden wurde, daß er also das Zimmer hier vor Entdeckung der Tat verlassen hat. Der Mörder wird die Waffe, mit der auf ihn geschossen wurde, mitgenommen haben.«

»Das ist möglich!« mußte Fastenrath zugeben.

»Na, sehen Sie! – Aber gehen wir weiter!«

In der einen Zimmerecke stand ein großer, schwerer Porzellanofen, wie er damals in allen besseren Häusern benützt wurde. Weberstädter öffnete die Ofentür und fuhr mit der rechten Hand in den Feuerraum. Er zog die Hand sofort völlig berußt zurück, entledigte sich schnell seines Rockes, krempelte die Hemdsärmel auf und öffnete nun auch vorsichtig die untere Ofentür, wodurch der Feuerrost frei wurde.

»Hier ist vor ganz kurzer Zeit Feuer gemacht worden, Herr Fastenrath! Den Ofen haben Sie wohl nicht durchsucht?«

»Nein, Herr Doktor! – Dazu hatten wir natürlich keine Veranlassung; oder besser gesagt, wir glaubten, keine zu haben. Aber ich beginne einzusehen, daß mancher Fehler, manche Unterlassungssünde von uns begangen wurde.«

Weberstädter kramte in der Asche.

»Hier in diesem Ofen wurde vor ganz kurzer Zeit ein Kleid verbrannt und zwar – – ein Frauenkleid. – Bitte bewahren Sie – aber vorsichtig – dieses noch nicht ganz verkohlte Stoff-Fragment auf. Es läßt das Dessin noch ziemlich gut erkennen. Schottische Seide, sogenannte Taffetseide. Auch hier die Korsettstäbe sind vielleicht nicht ganz ohne Bedeutung.«

»Korsettstäbe?« fragte Fastenrath erstaunt.

»Ich habe mich vielleicht nicht richtig ausgedrückt!« verbesserte sich Dr. Weberstädter. »Es sind keine eigentlichen Korsettstäbe. Bei den modernen Frauenkleidern arbeiten die Schneiderinnen in die Taille des Kleides, um eine gute, schlanke Figur zu erzielen, schmale Stahl- oder Fischbeinstäbe. Zeigen Sie die Stäbe doch einmal her!«

Weberstädter betrachtete die Fundstücke nochmals eingehend.

»Gutes Material! Guter Stoff, – und hier steht ja auch die Schneiderfirma eingraviert. »Made in England, Expressely made for ›Atelier Moderne‹ Francfort on Main.«

»Das Atelier Moderne ist unser elegantester Modesalon auf dem Steinweg,« erklärte Fastenrath.

»Gut aufbewahren!« mahnte Weberstädter nach einer Weile, die er dazu benützt hatte, weiter in dem rußigen Ofen umherzukramen. Dann reinigte er sich notdürftig die Hände.

»Fastenrath! Dieser Fund ist vielleicht wichtiger, als wir annehmen. Sie haben die Haushälterin des Feldmarschalleutnants damals vernommen – –?«

»Jawohl, sie konnte nichts aussagen, weil sie zur Zeit des Mordes beurlaubt war.«

»Richtig! Ich erinnere mich. Ich möchte die Frau aber noch einmal sprechen!«

»Sie ist hier, ist auf alle Fälle bestellt worden!«

»Sehr gut! Rufen Sie bitte die Frau!«

Fastenrath verschwand und kehrte nach kurzer Abwesenheit mit einer älteren, bescheiden gekleideten Frau wieder.

»Hier ist Frau Klemm!« stellte Fastenrath vor.

Die Haushälterin warf einen scheuen Blick auf den Berliner Kommissarius.

»Frau Klemm,« sagte dieser freundlich, »Sie sind damals von der Polizei zur Mordsache Feldmarschallleutnant von Poschacher eingehend vernommen worden.«

»Ja! Aber ich weiß nichts! Ich war gar nicht hier in Frankfurt!«

»Das ist uns bekannt, Frau Klemm. Pflegte Sie der Feldmarschalleutnant häufiger zu beurlauben?«

»Eigentlich nicht! Stadtausgang hatte ich öfter, aber längeren Urlaub erteilte er mir im Juni zum ersten Mal.«

»Erteilte der Herr Feldmarschalleutnant diesen Urlaub aus freien Stücken, oder kamen Sie um die Beurlaubung ein?«

»Ich bat ihn darum. Der Herr Feldmarschalleutnant mußte auf einige Tage nach Hannover verreisen. Ich hatte im Mai eine Schwester durch den Tod verloren – ich stamme aus Erbach im Odenwald – und sollte wegen der Nachlaßgeschichten einmal persönlich nach Hause fahren. Ich bat den Herrn Feldmarschallleutnant während seiner Abwesenheit um Urlaub. Das Haus konnte der Bursche Dreher hüten, und Herr von Poschacher hatte keinen Einwand gegen diesen Vorschlag. Ich reiste am gleichen Tage ab wie er und kam einen Tag nach dem Morde erst wieder. Was sich inzwischen hier ereignet hat, weiß ich nicht. Ich kann nichts – gar nichts aussagen!«

»Schön, Frau Klemm! Nun noch eine Frage! Blieb der Bursche des Feldmarschalleutnants während der Abwesenheit des Herrn von Poschacher allein in der Wohnung?«

»Nein, Herr! Die Wohnung war verschlossen. Der Bursche tat bei seiner Kompanie Dienst, verköstigte sich irgendwo in einer Garküche, und schlief nur abends in seiner Mansarde. Die Wohnung konnte er nicht betreten, denn diese war abgeschlossen.«

»Wer hatte den Schlüssel?!«

»Nur der Herr Feldmarschalleutnant und ich. Ich hatte den Reserveschlüssel. Der Bursche besaß nur einen Drücker. Ich sollte am Donnerstag wiederkommen und alles herrichten. Herr von Poschacher kam aber wider seine Absicht schon einen Tag früher zurück, und an diesem Tage – ist das Unglück passiert. – – Ich habe den armen Herrn Feldmarschalleutnant nicht mehr lebend wiedergesehen!«

Die Haushälterin schluchzte laut auf.

»Beruhigen Sie sich, Frau Klemm!« sagte Weberstädter freundlich. »Sie hingen wohl sehr an Herrn von Poschacher?«

»Ja – – er war ein guter Herr. Er konnte auch mal grob und fuchtig werden, aber er hat mich gut gehalten und war auch mit mir und vor allem mit meiner Küche zufrieden, weil ich früher schon mehrfach in österreichischen Häusern gedient hatte und die österreichische Küche gut verstand.«

»Führte Herr von Poschacher ein großes Haus?«

»Das kann man nicht gerade sagen! Er war als Kommandant von Frankfurt eine Persönlichkeit von Distinktion und hatte natürlich gelegentlich auch Gäste bei sich, so den Herrn von Terzky, der sein Adjutant war; gelegentlich kam auch mal der Oberst von Prohaska oder der Major Rukowina; auch die Exzellenz von Wüllner, der Minister von Nassau, war mehrfach hier. Aber mit Zivil pflegte der Herr Feldmarschallleutnant wenig zu verkehren.«

»Verkehrten auch Damen hier im Hause?«

Die Haushälterin zögerte einen Augenblick mit der Antwort.

»Sie müssen hier alles sagen,« forderte sie Dr. Weberstädter auf, »und können auch ruhig aussagen, ohne zu befürchten, eine Indiskretion zu begehen. Also, es kamen auch gelegentlich Damen – –?«

»Ja, zum Jausenkaffee, am Nachmittag!«

»Was waren das für Damen?«

»Vom Theater und so!« erwiderte die Frau; man merkte ihr an, daß sie über diesen Punkt nur höchst ungern und gezwungen Antwort gab; aber Weberstädter ließ nicht locker.

»Blieben diese Damen auch – gelegentlich über Nacht – hier im Hause?«

»Das weiß ich nicht! Darum hatte ich mich nicht zu kümmern!«

»Durchaus richtig, Frau Klemm! Aber man sieht doch, ohne daß man die Herrschaft direkt ausspionieren will, so ganz zufällig aus gewissen Anzeichen – ob sich die Damen längere Zeit hier aufhielten. Ein vergessenes Sacktuch, eine verlorene Haarnadel und so weiter. – – Nun – Frau Klemm! So reden Sie doch! – Haben Sie nie etwas derartiges gefunden?«

»Nein!« erwiderte die Frau kurz abweisend.

»Na, dann nicht!« meinte Weberstädter. »Nun noch eine Frage: Haben Sie einen Verdacht hinsichtlich der Täterschaft?«

»Nein, Herr! Ich kann mir nicht denken, daß irgendjemand dem armen Herrn von Poschacher nach dem Leben getrachtet haben könnte!«

»Hm! – Aber er ist dennoch ermordet worden! Das steht fest! – Sie kannten doch den Burschen des Feldmarschalleutnants gut? Wie hieß er doch?«

»Clemens!«

»Ja, Clemens Dreher! Was war das für eine Sorte Mensch?«

»Ein harmloser Bursche! Der war zufrieden, wenn er anständig und reichlich zu essen hatte, seine Virginia und seinen Seidel Bier erhielt. Der hat den Feldmarschalleutnant bestimmt nicht ermordet.«

»Das behauptet ja auch niemand!« meinte Weberstädter ruhig. »Wissen Sie, wo dieser Bursche jetzt steckt?«

»Nein! Er ist, als die Österreicher Frankfurt räumten, mit dem Bataillon Nobili abgerückt.«

»Sie pflegten die Räume des Feldmarschalleutnants in Ordnung zu halten?«

»Ja!«

»Wieviel Zimmer enthält die Wohnung?«

»Vier, Herr! – Hier, das war das ständige Wohnzimmer; daneben liegt, ebenfalls mit der Front nach der Bleichstraße, der Salon, der aber fast nie, nur, wenn einmal feiner Besuch kam, benützt wurde. Da drüben anschließend nach dem Garten, liegt das Schlafzimmer des Herrn von Poschacher und daneben, auch auf den Garten gehend, das Fremdenzimmer.«

»Wurde das Fremdenzimmer häufiger benützt?«

»Nein, nur ganz selten. Gelegentlich kam einmal Besuch, ein durchreisender höherer Offizier, der nicht im Hotel wohnen wollte.«

»Übernachteten auch Damen im Fremdenzimmer?!«

»Nach meiner Erinnerung nicht, – aber – es wäre immerhin möglich.«

Frau Klemm zuckte die Achseln und schwieg.

»Ich muß nun,« fuhr Weberstädter fort, »nochmals auf meine erste Frage zurückkommen. Sie reinigten also die Zimmer?«

»Ja!«

»Half Ihnen der Bursche mitunter?«

»Nein, der hatte in der Wohnung überhaupt nichts zu suchen. Der war gelegentlich einmal in der Küche und meldete einen Besuch an; sonst tat er im Haushalt nichts.«

»Wissen Sie, wann der Ofen im Wohnzimmer hier, dort dieser große Kachelofen, zum letzten Male benützt wurde?«

»Das ist natürlich schon lange her,« antwortete Frau Klemm nach kurzer Pause. »Im Winter, im Februar oder vielleicht auch im März.«

»Sie haben den Ofen dann natürlich gereinigt und ausgeräumt?«

Frau Klemm lächelte.

»Nicht nur damals – sondern jeden Tag!«

»Das verstehe ich nicht ganz!« meinte Weberstädter. »Der Ofen, sagten Sie selbst, ist seit Februar oder März nicht mehr benützt worden?«

»Ja, zum brennen! – Aber Herr von Poschacher, der sehr eigen war, warf jedes Stückchen Papier, jeden Zigarrenstummel, jeden, auch den kleinsten Abfall, in den Ofen, und ich räumte ihn täglich aus.«

»Das taten Sie auch noch am Tage vor Ihrer Abreise?«

»Selbstverständlich! Ich reinigte, da ich ja auf Urlaub fuhr, die Zimmer mit ganz besonderer Gründlichkeit.«

Weberstädter erhob sich, ein flüchtiges Lächeln huschte über seinen Mund.

»Ich danke Ihnen, Frau Klemm! – Warten Sie bitte draußen! – Falls ich Sie vielleicht doch noch einmal benötige, lasse ich Sie rufen! – –«

»Nun – Herr Kollege Fastenrath?« meinte Weberstädter befriedigt, als Frau Klemm die Tür hinter sich geschlossen hatte. » Cherchez la femme! – Wie ich gesagt habe! Jetzt geben Sie mir einmal bitte den Schreibtischschlüssel!«

Dr. Weberstädter öffnete die verschiedenen Schubladen und kramte in den Papieren, Tagebüchern, Heften, Dokumenten, Rechnungen umher. – Die Durchsuchung währte fast eine halbe Stunde.

»Die Sachen hier,« erklärte er, »werden nachher versiegelt und mitgenommen. Sie müssen nochmals genau überprüft werden.«

»Das ist schon geschehen!« erwiderte Fastenrath.

»So?« fragte Weberstädter.

»Selbstverständlich! Das lag doch wirklich nahe! – Aber wir fanden nichts. Lauter harmlose, unwichtige Familienkorrespondenzen, die zu dem Morde nicht die geringsten Beziehungen hatten.«

»Jawohl!« erwiderte Weberstädter, »diesen Eindruck habe ich auch. Hier ist allerdings noch etwas, was vielleicht gewisse Recherchen notwendig macht. – Haben Sie dieses Bankbuch der Firma Paul Roth gesehen – –?«

»Gewiß! – Ich habe es durchgeblättert!«

»Am 17. Juni morgens hat der Feldmarschalleutnant auf dieses Buch laut Quittung eines gewissen Heilmann die Summe von 20 000 Gulden abgeholt. – Am gleichen Tag ist Herr von Poschacher ermordet worden. Hat man in der Wohnung die immerhin recht erhebliche Geldsumme gefunden?«

»Nein, man fand keinen Kreuzer Geld; danach haben wir natürlich genau gesucht.«

»Doch etwas sonderbar, lieber Herr Fastenrath! – Stellen Sie sich einmal vor, Herr von Poschacher kommt am Morgen aus Hannover von einer längeren Reise zurück. Er geht am gleichen Tage, wahrscheinlich am Morgen, denn mittags sind die Bankschalter geschlossen, auf seine Bank, holt sich 20 000 Gulden, wird am Abend in seiner Wohnung erstochen, und – das Geld fehlt auch. – – Seltsam, seltsam! Na, nehmen Sie das Buch auch an sich. – Wir gehen anschließend, wenn wir die Untersuchung hier abgeschlossen haben – wenn's heute nicht mehr klappt, dann morgen – nach dem Atelier Moderne und ins Bankhaus Roth.

Bewahren Sie die diversen corpora delicti gut auf! Jetzt wollen wir einmal einen Blick in das Schlafzimmer werfen. – Kommen Sie mit, Herr Fastenrath!«

Das große Schlafzimmer ging nach dem Garten. Es war noch nicht hergerichtet, zeigte aber keine weitere Unordnung, da der Feldmarschalleutnant vor seiner Ermordung das Bett nicht mehr benutzt hatte.

Auf dem Waschtisch stand noch das gebrauchte Waschwasser; daneben lag ein zusammengelegtes Taschentuch, das anscheinend als Kompresse, Umschlag, oder zu einem ähnlichen Zweck gedient haben mochte. Es war inzwischen natürlich getrocknet, strömte aber noch einen schwachen Duft von Kölnischem Wasser aus. Eine Flasche Kölnisches Wasser stand auf dem oberen Waschtischbrett neben dem Gestell für die Zahnbürste und dem Wasserglas.

Vorsichtig nahm der Berliner Kommissarius das Wasserglas zur Hand, es enthielt den Rückstand einer schwach riechenden, farblosen Flüssigkeit, mußte also am Tage des Mordes, wenn man die Verdunstung einrechnete, noch bis zu einem Achtel gefüllt gewesen sein. Auf dem Glase waren verschiedene Fingerabdrücke.

»Geben Sie mir doch bitte ein Stück Papier aus dem Wohnzimmer!« bat Weberstädter. »Diese Fingerabdrücke scheinen von verschiedenen Händen herzurühren. Die Franzosen haben eine neue, noch nicht sehr bekannte Methode erfunden, derartige Abdrücke zu sichern und auf Papier abzuziehen. Ich kenne die Methode und will auf jeden Fall einen Abdruck herstellen. Wer weiß, wozu es gut ist. – Der Rückstand in dem Glas muß dem Gerichtschemiker zur Untersuchung übergeben werden. Bitte veranlassen Sie das noch heute. Ich will einige Zeilen dazu schreiben, dann draußen die Abdrücke herstellen, und wir schicken vielleicht am besten den Polizeisergeanten sogleich fort, damit wir möglichst morgen schon das Ergebnis in Händen haben.«

»Halten Sie das Corpus delicti für so wichtig?« fragte Fastenrath.

»Ich halte alles, was ich hier finde, für wichtig, lieber Freund!«

»Wir haben das natürlich alles auch gesehen, aber nicht weiter beachtet!«

»Was vielleicht ein Fehler war, Herr Fastenrath!«

»Wir hielten es für einen Rückstand des Mundwassers, dem wir keine weitere Bedeutung zumaßen.«

»Vielleicht haben Sie recht! Jetzt will ich noch einen Blick in das sogenannte Fremdenzimmer werfen und mir auch einmal den Salon ansehen. Inzwischen teilen wir uns vielleicht die Arbeit, Herr Fastenrath! Ich brauche Sie im Augenblick doch nicht, und es ist immerhin schon fast 5 Uhr. Gehen Sie hinunter ins Parterre, und fragen Sie die Bewohner, die Ihnen ja bekannt sind, ob sie am Mordtage keine Schußdetonation in der Wohnung des Feldmarschallleutnants gehört haben.«

»Jawohl! – Wird gemacht!«

Fastenrath, anscheinend froh, der langen Untätigkeit enthoben zu sein, beeilte sich ins Erdgeschoß hinab zu gehen.

Weberstädter durchsuchte nochmals genau die vier Zimmer, öffnete mit den mitgebrachten Schlüsseln den verschlossenen Kleiderschrank, der sauber geordnet Wäsche und Uniformen enthielt, und ging ins Wohnzimmer zurück.

Jetzt kam auch Fastenrath wieder.

»Nichts!« sagte er. »Die Leute unten haben nichts gehört!«

Weberstädter zuckte die Achseln.

»Da kann man halt nix mach'n! sagen unsere zur Zeit feindlichen österreichischen Brüder. – Jetzt hinauf in den zweiten Stock. Hier kann alles so bleiben, wie es ist. Natürlich werden die Siegel wieder angelegt!«

Fastenrath verschloß und versiegelte die Wohnung. Frau Klemm, die Haushälterin, und die beiden Konzipisten wurden entlassen. Der Polizeisergeant hatte sich schon vorher mit dem sorgfältig verpackten Corpus delicti, dem Wasserglas, auf den Weg gemacht.

»Was wollen wir eigentlich von der Witwe Hallgarten im zweiten Stock noch erfahren?« fragte Fastenrath.

»Ich weiß es nicht, mein Lieber!« erwiderte Weberstädter. »Ich habe hier so viel Neues und Interessantes gesehen, daß sich der Weg nach dem Oberstock vielleicht lohnt.«

Der zweite Stock hatte keinen abgeschlossenen Vorplatz. Auf den Treppenpodest mündeten eine Anzahl Türen. Im Hintergrunde führte eine schmale Treppe nach den Mansarden. Zwischen den Türen war eine Kleiderablage angebracht. Hier hingen eine Anzahl weiblicher Kleidungsstücke, ein Hauskleid, eine Mantille, wie sie damals von älteren Damen getragen wurden, und ein kleiner, weiblicher Kapothut. In einer Ecke standen zwei Militärtornister. An einer Tür, die das Schildchen ›Amalie Hallgarten, Stadtsekretariuswitwe‹ trug, zog Weberstädter die Klingel. Eine ältere Frau erschien und grüßte, als sie Fastenrath erkannte. Weberstädter zog den Hut.

»Kriminalkommissarius Weberstädter aus Berlin! – Dürfen wir eintreten?«

»Bitte, meine Herren, kommen Sie rechts ins Wohnzimmer! Ich bin ein bißchen beengt wegen der Einquartierung.«

»So, Sie haben Einquartierung?«

»Ja, leider! – Zwei Mann. – Die sind aber jetzt im Dienst, sie exerzieren drüben an der Mainlust.«

Die Frau hatte die Tür zu einem etwas altmodischen aber nicht ungemütlichen Wohnzimmer geöffnet. Die beiden Beamten nahmen auf einem Fauteuil Platz.

»Frau Hallgarten,« eröffnete jetzt der Berliner Kommissarius das Verhör, »wir kommen nochmals in der Mordsache von Poschacher.«

»Das kann ich mir denken, aber ich weiß nichts, und ich bin auch schon zweimal von Herrn Fastenrath vernommen worden.«

»Es haben sich inzwischen einige neue Momente ergeben, Frau Hallgarten, die eine nochmalige Befragung wünschenswert erscheinen lassen. – – Sie erinnern sich doch noch an die Vorgänge des Mordtages, Frau Hallgarten?«

»Ja, so weit ich hier im Hause war. Ich ging aber mittags fort zum Besuch meiner Schwester nach Oberrad und kam erst spät in der Nacht wieder. Das habe ich alles schon damals zu Protokoll gegeben. Mehr weiß ich wirklich nicht, Herr Polizeikommissarius!«

»Na – ja!« meinte Weberstädter lächelnd. »Das ist zwar herzlich wenig. Sie vermieten Zimmer, Frau Hallgarten?«

»Im Moment nicht, weil ich Einquartierung hab'.«

»Aber damals, als die Tat geschah, da hatten Sie vermietet?«

»Ja, damals wohnte der Hauptmann Simmermacher vom Frankfurter Linienbataillon bei mir.«

»Wo wohnt der jetzt?!«

»Er ist, wenn ich nicht irre, zu seiner Schwester in die Pfingstweidgass' gezogen, denn das Frankfurter Linienbataillon ist ja von den Preußen aufgelöst worden, und er weiß im Augenblick gar nicht, wohin er gehört.«

»Herr Hauptmann Simmermacher war am Mordtage, wie ich aus den Akten ersah, nicht in Frankfurt?«

»Nein, er hatte dienstlich in Darmstadt zu tun.«

»Dumm!« brummte Weberstädter. »Aber vielleicht können Sie uns doch mit einer Auskunft dienen. Die Uniform der Frankfurter Offiziere ist von der preußischen Infanterieuniform kaum zu unterscheiden?«

»Das stimmt, Herr Kommissarius! Der Frankfurter Adler ist nur ein kleines bißchen anders als der preußische, und die Kokard' ist bei den Frankfurtern rotweiß, während die Preuße schwarzweiße Kokarden tragen. Aber man muß natürlich schon ganz scharf zusehen, um die Frankfurter Offiziere von den Preußen zu unterscheiden.«

»Die Ähnlichkeit ist demnach so groß, daß man einen Frankfurter leicht für einen Preußen und umgekehrt halten könnte?«

»Ja, Herr Kommissarius, unbedingt!«

Weberstädter schwieg.

»Am Mordtage sahen verschiedene Zeugen einen derartigen Offizier das Haus verlassen. Ein Preuße war es nicht, das steht fest.«

Frau Hallgarten lachte.

»Aber ein Frankfurter kann's auch nicht gewesen sein, denn Herr Simmermacher war ja net hier. Vielleicht kam aber Besuch für Herrn Simmermacher, der wieder fortging, als er die Wohnung hier verschlossen fand.«

»Das wäre möglich. Seltsamerweise hat der Posten, der vor dem Hause auf und ab patrouillierte, diesen Offizier, einen, wie er glaubte, preußischen Hauptmann, nur gehen aber nicht kommen gesehen. – Das ist doch mehr als sonderbar!«

Frau Hallgarten zuckte die Achseln.

»Möglicherweise hat der Posten nicht genau achtgegeben; er beachtete den Offizier vielleicht nicht, als er kam, kehrte ihm vielleicht gerade den Rücken, denn der Posten steht bei den Österreichern nicht an einer Stelle wie bei uns, sondern er geht auf und ab.«

»Das wäre eine Erklärung!« meinte Weberstädter. »Leider sind die österreichischen Militärzeugen nicht mehr, wenigstens im Augenblick nicht, zu hören. – Na, gut! – Wie sind Sie mit Ihrer Einquartierung zufrieden, Frau Hallgarten?«

Die Zimmervermieterin zog ein schiefes Gesicht.

»Gott ja!« meinte sie. »Die Leut' sind ja so weit sehr anständig. Der eine ist ein Schlosser aus Osnabrück, der andere ist ein Bauersmann aus der Gegend von Solingen, also beides keine echten Preußen, mehr Mußpreußen. Sie sind auch beide katholisch!«

»Also ein echter Preuße,« fragte Weberstädter lachend, »muß Protestant sein, aus Pommern, Brandenburg oder Ostpreußen stammen, und nährt sich nur von Schnaps, Kartoffeln und am Sonntag von kleinen Kindern –?«

»Nein,« meinte Frau Hallgarten fast erschrocken, »das will ich nicht sagen. Es gibt auch unter den Preußen sehr anständige Menschen, und meine zwei Soldaten, die ich hab', sind bescheiden und höflich, mache net viel Arbeit; nur Hunger haben se den ganzen Tag; und was die zusammenfressen können, Herr Kommissarius, das geht auf keine Kuhhaut! –«

»Der gute Appetit beim Kommiß ist nun mal sprichwörtlich!« meinte Weberstädter amüsiert.

»Ja! Schon richtig! – Aber füttern Sie mal mit einem Gulde zwanzig Kreuzer zwei Soldate mit dem bekannte Appetit. Ich leg jeden Tag einen Gulden zu. Dabei die Bedingungen, die gestellt werden. Jeden Tag pro Mann ein Pfund Fleisch und acht gute Zigarre – – und das alles für 60 Kreuzer den Tag. Das solle mir die Preuße erst emal vormache!« –

Weberstädter riß lachend aus. Er hatte mit der Zimmervermieterin, bevor er sich empfahl, noch einige freundliche Worte wechseln wollen und stach nun mit seinen Fragen gegen seinen Willen in ein Wespennest. Daß er jedem Frankfurter die Laune gründlich verdarb, wenn nur das Wort ›Einquartierung‹ fiel, das wußte er damals noch nicht.

Auch Fastenrath lachte, als er mit seinem Berliner Kollegen die Treppe hinabstieg.

An der Hauptwache trennten sie sich. Fastenrath wollte noch auf einen Sprung ins Amt, dem Direktor Dr. Schultheiß Bericht erstatten. – Weberstädter suchte den Gerichtschemiker auf. Vorher verabredeten die beiden noch eine Zusammenkunft im Hotel am gleichen Abend.


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