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Ein blinder König verliert seinen Thron.

König Georg V. von Hannover residierte im Juli 1866 in seinem Sommerschloß Herrenhausen, das im Nordwesten der Hauptstadt Hannover etwa zwei Kilometer von der Stadt selbst entfernt lag.

Die schöne, wohlgepflegte Lindenallee, die die Hannoverstadt mit der Residenz Herrenhausen verband, war am 15. Juli auffallend belebt. Zahlreiche Equipagen rollten von der Stadt nach dem Schloß. Offiziere zu Pferde, im Zweispitz und mit Feldbinde, Meldereiter und Ordonnanzen ritten nach Herrenhausen oder kehrten nach längerem oder kürzerem Aufenthalt im Schloß wieder nach Hannover zurück.

Im Schloßhof selbst wimmelte es von Offizieren, hellblauen Cambridge-Dragonern, weißen Garde du Corps, blauen Königin-Husaren.

Kurz vor 12 Uhr erschien auch der Generalleutnant von Arendtschild, der in dem drohenden Krieg als Oberfeldherr der hannoverschen Armee ausersehen war, und meldete sich sofort beim Kriegsminister von Tschirschnitz, dem langjährigen Generaladjutanten des Königs.

Tschirschnitz kam gerade die Treppe vom Schloß herunter. In seiner Begleitung waren zwei höhere österreichische Offiziere, der k. & k. Gesandte am Hannoverischen Hofe, Graf von Ingelheim, und der Feldmarschalleutnant von Poschacher.

Generalleutnant von Arendtschild hob die rechte Hand an den goldbordierten Hut, die drei Offiziere dankten.

»'Tag, mein lieber Arendtschild!« sagte der Kriegsminister mit einem müden Lächeln. »Noch ist's nicht so weit! – Wir wissen noch gar nichts, jedenfalls nichts Genaues – –«

Graf von Ingelheim setzte ein feines Lächeln auf.

»So a bisserl kann ich ja schon verraten, mein lieber General. – A bisserl mehr weiß ich doch. S' wird morgen losgehen, in – na sag'n wir spätestens einer Stunde haben wir die Entscheidung. – Hannover wird – – – muß mit Österreich gehen – – –!«

Arendtschild streifte behutsam den blütenweißen Lederhandschuh von der Rechten.

»Und – – was tun wir inzwischen, bis – – die Entscheidung fällt – –?!«

Der Kriegsminister lächelte fein.

»Was wir tun?! – – Einfach das, was ich als Generaladjutant meine ganze Dienstzeit hindurch getan habe: Warten! – Was glauben Sie, meine Herren, wie lange ich im Vorzimmer des Königs wartend gesessen habe? Heute und die ganzen Jahre hindurch? – – Ich führe genau Buch über die Zeit, die ich im königlichen Vorzimmer wartend verbringen mußte. Ja, allen Ernstes, meine Herren, man behauptet, ich sei 68 Jahre alt. Das ist aber nicht wahr. Gelebt habe ich nur 59 Jahre, 5 Monate, 1 Woche und 3 Tage. – – Den Rest habe ich gewartet – –!«

Die vier Offiziere brachen in ein herzhaftes Lachen aus. – In diesem Augenblick rollte eine Equipage in den Schloßhof. Im Fond saß ein kleiner, schmächtiger, ungefähr 50jähriger Herr im Diplomatenkostüm: Prinz Gustav zu Ysenburg, der preußische Gesandte beim Königreich Hannover.

Als der Gesandte vorfuhr, legte es sich wie Grabesstille über den Hof. Die paar Dutzend wartenden Offiziere fuhren mit der rechten Hand an ihre Kopfbedeckungen; sämtliche Gesichter schienen plötzlich zu erstarren.

Der Prinz zu Ysenburg stieg langsam aus, streifte die Gruppe um den Kriegsminister mit einem kurzen Blick; und als er ebenfalls zum Gruß den Zweispitz abnahm, hafteten seine Augen etwas länger auf der hohen, schlanken Gestalt des österreichischen Feldmarschalleutnants von Poschacher.

Gerade als eine Escadron Cambridge-Dragoner klappernd in den Schloßhof sprengte, betrat der preußische Gesandte das Schloß.

Er stieg langsam, den Kopf ernst gesenkt, die breite Treppe empor. Er wußte zu genau, daß er im Begriffe war, eine Mission von weltgeschichtlicher Bedeutung zu erfüllen. Ehrlich hatte er in den langwierigen, endlosen Verhandlungen der letzten Wochen um die Erhaltung des Friedens gekämpft. In der kommenden Abrechnung, die Preußen mit Österreich vorzunehmen hatte, mußte Preußen Rückendeckung nehmen. Das Königreich Hannover schob sich wie ein Keil zwischen die altpreußischen Provinzen und Westfalen mit der preußischen Rheinprovinz. Preußen mußte dringend Bürgschaften haben, durfte nicht dulden, daß eine verhältnismäßig zahlreiche und vor allem tüchtige Armee wie die des Königreichs Hannover die Verbindung mit der preußischen Rheinprovinz abschnitt. Nach Lage der Dinge konnte diese Bürgschaft nur in einem Bündnis zwischen Preußen und Hannover bestehen.

Prinz Gustav zu Ysenburg hatte am Morgen des 15. Juli dem hannoverschen Minister Platen zu Hallermund die preußische Somnation, die einem Ultimatum glich, zugestellt; die Antwort wurde im Laufe des Tages erwartet.

Ähnliche Noten wurden von den preußischen Geschäftsträgern fast gleichzeitig in Dresden und Kassel überreicht.

Prinz zu Ysenburg war sich keinen Augenblick darüber im Zweifel, daß sämtliche Noten ablehnende Antworten erhielten. Er kannte den Eigensinn des Landgrafen von Hessen in Kassel; wußte, daß König Johann von Sachsen sein Korps schon marschfertig hatte, um es mit der großen österreichischen Armee, die sich in Nordböhmen sammelte, zu vereinen; und über die Einstellung des Königs von Hannover, über seine Preußenfeindlichkeit und blinde Freundschaft für Österreich war sich der preußische Gesandte ebenfalls vollkommen klar. Aber ein letzter Versuch mußte gemacht werden.

Als der Prinz die Vorhalle betrat, stand plötzlich die Königin Marie von Hannover vor ihm. Sie schien den preußischen Gesandten erwartet zu haben. Die Königin konnte ihre starke Erregung kaum unterdrücken. Prinz zu Ysenburg verneigte sich respektvoll.

»Durchlaucht!« sagte die Königin leise, fast flehend. »Sie müssen mich anhören, bevor Sie zum König gehen. Sie müssen eine Minute Zeit für mich haben – – –!«

»Mit Vergnügen, Majestät!« erwiderte Prinz zu Ysenburg.

Die Königin hatte die Tür zu einem Nebenzimmer aufgestoßen; der Gesandte folgte.

»Ich beschwöre Sie, Durchlaucht!« bat die Königin. »Behelligen Sie jetzt den König mit Ihrem Ansinnen nicht! Gerade heute – ist der ungeeignetste Moment – –!«

Der Diplomat verzog seinen Mund zu einem schwachen Lächeln und machte eine entschuldigende Geste.

»Ich will von seiner Majestät nichts als die Versicherung seiner Freundschaft. Preußen braucht das Bündnis mit Hannover.«

»Nein, Durchlaucht! – Nein!« rief die Königin gequält. »Sie wissen nicht, was Sie verlangen! Der König kann nicht nachgeben! Er kann und darf die preußischen Bündnisvorschläge nicht akzeptieren! Er kann sich nicht mediatisieren lasten, Durchlaucht! – Es geht nicht! – –«

Prinz zu Ysenburg wollte antworten, als die Tür plötzlich geöffnet wurde.

Ein Flügeladjutant erschien, stand steif, die Hand an der Helmschiene.

»Seine Majestät lassen Seine Durchlaucht, Prinz zu Ysenburg bitten!«

Der Diplomat machte der Königin eine tiefe Verbeugung und folgte dem Flügeladjutanten nach dem Schreibzimmer des Königs. Die Fenster des nur mittelgroßen Raums gingen auf den Schloßgarten hinaus, wo die helle Julisonne schien.

Vor dem Schreibtisch stand wartend König Georg V. von Hannover. – Der König hatte die Sehkraft des einen Auges in jungen Jahren verloren, und durch eine mißglückte Operation erblindete auch das rechte Auge. Die zwei glanzlosen Augen lagen in einem edlen, vornehmen Gesicht, das ein kurzer, blonder Vollbart umrahmte; der ebenfalls blonde Schnurbart war leicht nach oben gedreht. Die hohe, schlanke Gestalt des Königs steckte in der grünen, knappgeschnittenen Uniform des Gardejäger-Bataillons. Das Käppi hielt der König in der linken Hand.

Als König Georg die leichten Schritte des preußischen Gesandten vernahm, drehte er seinen Kopf in die Richtung nach dem Diplomaten und schloß fest die Lippen.

Neben dem König stand der Kronprinz Ernst August in der Uniform der Gardehusaren; an der dritten Seite des Schreibtischs hatte sich der Außenminister Graf Platen aufgestellt, sodaß Prinz zu Ysenburg an die vierte, noch leere Seite des Schreibtisches treten mußte.

Prinz zu Ysenburg wartete die Anrede des Königs ab, aber der König starrte schweigend geradeaus.

»Majestät! Verzeihung, Majestät,« sagte Prinz zu Ysenburg leise, »soll ich nochmals den furchtbaren Ernst der Lage klarlegen? – Ich glaube, Majestät entheben mich von dieser Mission. Ich bitte Eure Majestät nur inständigst, flehentlich: nehmen Sie den angebotenen Bündnisvertrag Preußens an. – Hannover darf sich nicht auf die gegnerische Seite schlagen. – Hannover hat ja von Anfang an auch den Neutralitätsgedanken vertreten.«

Jetzt endlich antwortete der König. Seine Stimme klang hart.

»Ich habe meine Ansichten inzwischen den veränderten Verhältnissen anpassen müssen, habe meine Ansichten grundlegend geändert, Durchlaucht! Die preußischen Reformvorschläge passen mir nicht, und die Bedingungen, die man mir heute zu stellen wagt, sind unannehmbar, verstehen Sie, Durchlaucht, inakzeptabel! Würde ich auf diese Forderungen eingehen, so käme dies einer Mediatisierung gleich, und, Durchlaucht, – – das bitte ich Herrn von Bismarck und Ihrem König klipp und klar zu erklären: mediatisieren lasse ich mich nicht. Lieber will ich in Ehren untergehen – – –!«

Prinz zu Ysenburg war innerlich über die Leidenschaftlichkeit des blinden Königs erschüttert; aber er unterdrückte die aufsteigende Unruhe. Er machte nur eine fast entschuldigende Bewegung zu dem Kronprinzen, der, steif auf seinen Degen gestützt, neben seinem blinden Vater stand.

»Ich darf Eurer Majestät nochmals versichern, daß von einer Mediatisierung wirklich keine Rede sein kann.«

»Ich bin etwas anderer Ansicht, Durchlaucht!« erwiderte der König schroff. »Ich weiß, wessen ich mich von Preußen zu versehen habe. Ihr Bündnisvorschlag ist mit meiner Stellung als Welfenfürst und König von Hannover unvereinbar. – Ich lehne jeden dahingehenden Vorschlag entschieden ab.«

Prinz zu Ysenburg schwieg. Plötzlich richtete er seine Augen fest auf den König, der vor innerer Erregung zitterte.

»Es ist mir eine peinliche Pflicht, Eure Majestät ausdrücklich darauf hinweisen zu müssen, daß bei einer Ablehnung der preußischen Note Hannover zuerst die Kriegsleiden verspüren wird. Vierzigtausend Preußen warten an den Grenzen auf den Befehl in das Königreich Hannover einzumarschieren.«

»Sie wagen, mir zu drohen, Durchlaucht!« fuhr der König auf.

»Verzeihung, nein Majestät! – Aber, es ist meine Pflicht, meine – ich gebe es zu – peinliche Mission, hier offen vorzutragen, wohin Ihr Auftreten gegen Preußen Hannover und Ihre Krone, Majestät, bringen kann – –.«

»Meine Armee ist jedem Ansturm Ihrer Truppen gewachsen, Durchlaucht! – –.«

»Ich gestatte mir, Majestät, anderer Ansicht zu sein. – Majestät werden, sobald der Krieg ausbricht, ohne jeden Bundesgenossen dastehen. Österreich kann Ihnen nicht helfen. Österreich hat, wenn der Krieg erst einmal erklärt ist, mehr als genug mit sich selbst zu tun. Ich kenne sehr wohl die Gründe, die eine Wendung in Ihrer Politik hervorbrachten, Majestät: Preußen hat Ihnen bei einem Bündnis Ihren jetzigen Besitzstand garantiert. Kaiser Franz Josef ist weiter gegangen, er hat Hannover mehr versprochen, Gebiete von Oldenburg, von Waldeck, Lippe, auch von Preußen selbst. – Versprechungen aber sind billig, Majestät! – Habsburg hat im Laufe der Geschichte schon viel, sehr viel versprochen, aber – – – wenig gehalten – –!«

Der König schien betroffen.

»Das sind Vermutungen, Durchlaucht!«

»Nein, Majestät! – Gewißheiten! – – Wir wissen zu genau, mit welchen nie zu erfüllenden Versprechungen Habsburg sich Bundesgenossen gegen Preußen zu verschaffen sucht. – Ich kann es nur aufrichtig bedauern, daß es mir nicht gelungen ist, Eure Majestät noch im letzten Augenblick von dem Wege abzubringen, der namenloses Unglück über Ihr Land bringen muß! – Ich bitte zu Gott, daß er Sie erleuchten möge, noch in letzter Stunde, in letzter Minute den richtigen, einzig richtigen Weg zu finden – – – –!«

König Georg richtete sich steif empor.

»Ich weiß, wohin ich gehöre, Durchlaucht! Ich kenne meinen Weg! Ich betrachte die Unterredung als beendet! – Einen definitiven Bescheid erhalten Sie durch meinen Ministerrat, der in wenigen Stunden zusammentritt – –!«

Der Gesandte Prinz zu Ysenburg verbeugte sich schweigend und ging rückwärts zur Tür.

Wenige Minuten später rollte die Equipage des Prinzen in schnellem Tempo nach Hannover zurück.

* * *

Für den preußischen Gesandten Prinz zu Ysenburg bedeutete die Rückfahrt von Herrenhausen nach dem Palais der preußischen Gesandtschaft eine körperliche und seelische Tortur.

Die Würfel waren gefallen, und in Hannover selbst schien jeder bereits zu wissen oder wenigstens zu ahnen, daß die Schicksalsstunde des Königreichs geschlagen hatte.

Die Straßen der Residenzstadt waren mit einer tobenden und schreienden Menschenmenge angefüllt. Dazwischen marschierten geschlossene Trupps von Militär, die sich nur schwer einen Weg bahnen konnten.

Am Hotel Union hielt ein Zivilist eine Ansprache. Der Gesandte konnte im Vorbeifahren die Worte nicht hören, die in dem Gebrüll der erregten Massen untergingen. Hochrufe auf Hannover, Schmährufe auf Preußen gellten auf.

Der Gesandte drückte sich in den Fond seiner Equipage und war glücklich, als er das Gesandtschaftspalais ohne weiteren Zwischenfall erreicht hatte.

Im Arbeitszimmer des Gesandten erwartete ihn bereits ein junger, schlanker, hochgewachsener Mann mit einem kräftigen, langausgezogenen, blonden Schnurrbart. Als der Prinz zu Ysenburg müde und mit schleppenden Schritten das Zimmer betrat, erhob sich der Wartende.

»Durchlaucht,« sagte er ernst, aber mit einem gewissen Triumph in der Stimme, »die beiden ersten Entscheidungen sind da! – Sachsen lehnt ab! – Kurhessen auch! – – Das ist der Krieg!«

»Und meine Mission ist auch gescheitert, Herr von Sartorius! – Betrachten Sie sich nur den Hexenkessel, der unten auf der Straße tobt, dann wissen Sie genug. – König Georg ist verbohrt, er rennt in sein Verderben. Ich kann ihm nicht mehr helfen!

Jetzt – – Herr Premierleutnant von Sartorius – – beginnt Ihre Mission. – Darf ich bitten, Platz zu nehmen! Die Ablehnung unseres – nennen wir es beim richtigen Wort – Ultimatums bedeutet keine Überraschung. Man hat in Berlin mit einer Annahme unserer Forderung kaum gerechnet und bereits entsprechende Maßnahmen getroffen: Die preußische Division Beyer, die sich in Wetzlar gesammelt hat, rückt in diesem Augenblick, da wir uns hier unterhalten, bereits in Kurhessen ein. In Minden stehen unsere Truppen bereit, um in Hannover einzumarschieren. Auch bei Wilhelmsburg warten die preußischen Truppen nur darauf, über die Elbe zu setzen, Hannoverisches Gebiet zu betreten und die Küstenbefestigungen von Hannover zu nehmen.«

»Dann scheint ja alles in bester Ordnung!« meinte Premierleutnant von Sartorius befriedigt.

Der Gesandte antwortete nicht.

Er hatte sich erhoben und durchmaß sein Arbeitszimmer mit langen Schritten.

Premierleutnant von Sartorius hatte ein Zeitungsblatt aus der Tasche gezogen und hielt es dem Gesandten hin. Dieser überflog flüchtig die Überschriften, in der Hauptsache Schmähartikel gegen Preußen.

Am Kopfe des Blattes, in der ersten Spalte, stand ein Gedicht, als ›Neue preußische Hymne‹ bezeichnet:

Bronzell beschimmelt
Düppel entbrannt
Doppelbekümmelt
Reußenverwandt
Stehen wir da
Schreien Hurra!!

»Wie gefällt Ihnen das, Durchlaucht?« fragte der Premierleutnant mit grimmigem Auflachen.

Der Prinz wehrte ab.

»Kindereien!« sagte er. »Das dort unten ist weit ernster zu bewerten.«

Prinz zu Ysenburg trat ans Fenster und sah hinter dem Vorhang halb verborgen auf die wildbewegte Straße hinab. Premierleutnant von Sartorius folgte und trat hinter den Gesandten.

Die sonst so ruhige Stadt Hannover schien tatsächlich der Schauplatz einer kaum zu schildernden Verwirrung. Größere und kleinere Militärtransporte marschierten singend und in leidlicher Ordnung in der Richtung nach dem Bahnhof vorbei. Die Truppen waren feldmarschmäßig ausgerüstet, die Tschakos der Infanteristen und Jäger waren durch Überzüge verdeckt. Dazwischen sah man halbwüchsige Burschen, die auf Schubkarren Patronenpakete, Feldflaschen und Tornister nach dem Bahnhof fuhren. Sämtliche Dienstmänner von Hannover schienen aufgeboten, um Militäreffekten zu transportieren. Eine Frau aus dem Volk schleppte in jeder Hand eine große Trommel, eine dritte Trommel hatte sie über den Rücken gehängt. Zwischen den hastenden und schreienden Menschen suchten schimpfende und fluchende Kutscher Raum für ihre Fuhrwerke. Eine elegante Equipage, von einem livrierten Kutscher gefahren, war bis oben mit Uniformen vollgepfropft. Ein Jägerbataillon kam aus einer Nebenstraße und mußte gezwungenermaßen halten. Die Bataillonmusik spielte – – – den österreichischen Radetzkymarsch. –

Der Prinz zu Ysenburg trat vom Fenster zurück.

»Mein lieber Sartorius!« sagte er. »Sie erhalten einen Auftrag, von dessen Erledigung möglicherweise der Erfolg oder Mißerfolg des ganzen norddeutschen Feldzugs abhängt. Es handelt sich um einen Auftrag, der, wenn er gelingen soll, so diskret wie möglich behandelt werden muß. Sie haben den grauenhaften Wirrwarr hier mit eigenen Augen gesehen. Bei uns klappt die Sache anders, dessen dürfen Sie versichert sein. Zum Einmarsch in Hannover und Hessen-Kassel steht eine ausreichende Truppenmacht verfügbar.

Aber – – ein Aber ist dabei! – – – Wir haben nämlich vergessen, einen wichtigen Faktor in Rechnung zu stellen, und das sind – – – die – – Österreicher – – –!«

Premierleutnant von Sartorius blickte überrascht auf.

»Ich verstehe Durchlaucht nicht ganz!« erwiderte er. »Österreich ist der größte und gefährlichste Gegner, und unsere Armeeoberleitung wird doch wohl gerade Österreich gegenüber die notwendigen Maßnahmen bestimmt getroffen haben – –?!«

Der Gesandte lächelte.

»Ich habe mich nicht ganz klar ausgedrückt, Herr von Sartorius –!« sagte er. »Sie können beruhigt sein, zum Einmarsch in Böhmen haben sich bereits drei preußische Armeen formiert. Von der großen österreichischen Hauptarmee, die wir in Böhmen, vielleicht auch schon in Sachsen zu bekämpfen haben werden, spreche ich nicht. Ich dachte an eine ganz andere österreichische Armee – – an die österreichischen Truppen, die für Hannover leicht erreichbar in Holstein stehen. Die Besatzung von Holstein bildet, wie Sie ja wohl wissen, eine kriegsstarke und kriegsgeübte Division unter dem Befehl des Feldmarschalleutnants von Gablenz. Es wäre für uns nicht nur erwünscht sondern sogar dringend notwendig, über die eventuellen Dispositionen dieser Österreicher genauestens informiert zu sein. Falls diese österreichische Division sich nach Nordhannover in Marsch setzt, können unsere geringen Truppen, die zur Wegnahme der nordhannoverischen Festungen ausersehen sind, in eine recht bedenkliche Lage kommen.«

Der Premierleutnant strich seinen langen, blonden Schnurrbart.

»Wenn ich Eure Durchlaucht richtig verstehe, so werde ich wohl stante pede nach Holstein abreisen müssen – –?!«

»Abreisen – – – ja!« erwiderte der Gesandte und lächelte fein. »Aber – – nicht nach – – Holstein – – – sondern – – – nach Frankfurt am Main – –!«

»Nach Frankfurt?« fragte der Premierleutnant von Sartorius erstaunt.

»Jawohl!« erwiderte der Gesandte. »Der Kommandant von Frankfurt, der österreichische Feldmarschalleutnant von Poschacher, ist im Augenblick hier in Hannover. Er kehrt, wie ich zufällig erfahren habe, heute mittag nach Frankfurt zurück. Noch haben unsere Truppen Kurhessen nicht besetzt, und die Bahnlinie von Hannover über Kassel, Marburg nach Frankfurt ist noch frei. Der Feldmarschalleutnant von Poschacher, einer der fähigsten Führer der österreichischen Armee, besitzt, wie ich zu wissen oder – vorsichtiger ausgedrückt – zu ahnen glaube, die österreichischen Dispositionen, deren Kenntnis für uns eine dringende Notwendigkeit bedeutet. Es ist Ihre Aufgabe, Herr von Sartorius, diese Papiere mit allen Mitteln in die Hände zu bekommen.«

Premierleutnant von Sartorius erhob sich.

»Tscha – –!« machte er. »Das ist ein heikler Auftrag, Durchlaucht, mit allen Mitteln sagten Sie – – –?«

»Jawohl, Herr von Sartorius – mit allen Mitteln – – die Sie vor sich selbst verantworten können, ausgenommen selbstverständlich brutale Gewalt. – – – Der Auftrag ist nicht leicht, Herr Premierleutnant, aber Sie sind der Mann – der ihn durchführen kann – –!«

»Ich bin Eurer Durchlaucht für die gute Meinung sehr verbunden, aber – – – ich weiß im Augenblick noch nicht, wie ich die Sache durchführen soll. Nur so viel weiß ich, daß ich mich schleunigst auf den Weg machen muß, um den Frankfurter Schnellzug noch zu bekommen.«

Der Gesandte reichte dem vor ihm stehenden, hochgewachsenen Offizier, der ihn um mehr als Haupteslänge überragte, die Hand.

»Frankfurt ist augenblicklich ein sehr gefährliches Pflaster für einen preußischen Offizier,« meinte er etwas bedenklich. »Seien Sie mehr als vorsichtig, und exponieren Sie sich nicht allzu stark. Ich werde heute oder morgen ebenfalls Hannover verlassen. Wohin Sie Ihre Meldungen gegebenenfalls zu machen haben, wissen Sie ja selbst. Und nun – Herr Premierleutnant, viel Glück auf den Weg!«

Die beiden Männer schüttelten sich die Hände.

Unten auf der Straße schmetterte die Musik und hallte der Marschtritt eines vorbeimarschierenden hannoverischen Infanteriebataillons.


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