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Herr August Fastenrath saß in seinem Sonntagsanzug im Vestibül des Hotels zum Russischen Hof und fühlte sich. Die Güte der Table d'hôte im Hotel war zwar Herrn Fastenrath vom Hörensagen wohl bekannt, aber das Essen selbst zu versuchen, dazu gab sich für ihn kaum Gelegenheit.
Der Kollege aus Berlin, der, anscheinend mit Spesen wohlversehen, ihm zu diesem guten Mittagessen verholfen hatte, gefiel ihm mit jeder Minute besser.
Erst beim Hotelportier hatte Fastenrath zufällig erfahren, daß der bescheiden auftretende Herr Weberstädter sogar den Doktortitel besaß. Während des Diners wurde vom Dienst überhaupt nicht gesprochen. Fastenrath speiste mit gesundem Appetit, griff zur Freude seines Gastgebers, aber zum geringeren Vergnügen des vornehmen Oberkellners, zwei und dreimal zu und, als er sein Weinglas austrank und den Stuhl zurückschob, meinte er lachend:
»Jetzt, Herr Doktor, bin ich aber wirklich satt, und nun kann's an die Arbeit gehen!«
Der Speisesaal wimmelte von preußischen Offizieren, die dort einquartiert waren. Die beiden Polizeibeamten gingen deshalb ins Vestibül hinaus, ließen sich ihren Kaffee servieren, und Weberstädter bot dem Kollegen die gefüllte Zigarrentasche.
»Die sind aber bestimmt nicht aus dem staatlichen Depot der preußischen Feldintendantur?!« meinte Fastenrath prüfend.
Weberstädter verstand den Witz nicht gleich, ließ sich die Erklärung geben und mußte diese Frage herzlich lachend verneinen.
»Hören Sie zu, lieber Herr Fastenrath!« sagte er jetzt. »Bevor wir an die Arbeit gehen, Herrn von Sartorius vernehmen und dann in die Bleichstraße pilgern, muß ich ein paar offene, ehrliche Worte mit Ihnen sprechen. – Ich bitte mir nichts übel zu nehmen – –!«
»Nach einem solchen Essen bin ich mehr als friedlich!« meinte Fastenrath und zog den Rauch seiner Zigarre mit Behagen ein.
»Ich habe die Akten durchgesehen. Es ist, ehrlich zugegeben, eine Unmenge Arbeit geleistet worden. Die Verhöre sind genau und vor allem erschöpfend. Aber die andere Ermittlungsarbeit ist mehr als dürftig. Sie haben sich hier anscheinend sofort auf die eine Möglichkeit festgelegt, daß von Sartorius der Mörder sein müsse, haben andere Möglichkeiten gar nicht in Betracht gezogen und sich darauf beschränkt, den Indizienbeweis gegen Sartorius so dicht wie möglich zu schließen – –?«
»Ich vertrete auch nach wie vor die Ansicht, daß von Sartorius allein als Täter in Frage kommt –!«
»Ich nicht! – Ich verdächtige jeden und keinen! Vieles spricht für Sartorius, sehr vieles aber auch gegen ihn. Ihr Fehler bestand darin, daß Sie sich nicht auch der Mühe unterzogen, Verdachtsmomente und Indizien herbeizuholen, die vielleicht von Sartorius exkulpieren konnten. Es ist jetzt, nach mehr als vier Wochen, für mich schwer, vielleicht unmöglich, diesen Fehler wieder gutzumachen, denn damals war der Tatort jungfräulich, heute ist er alt.«
»Doch nicht ganz, Herr Doktor! Die Wohnung des Feldmarschalleutnants ist von mir persönlich versiegelt worden und wurde in der Zwischenzeit von keinem Menschen betreten!«
»Das ist noch Glück im Unglück! Aber der Fehler, die Untersuchung nur halb geführt zu haben, ist nun einmal gemacht worden.«
Fastenrath glaubte sich entschuldigen zu müssen, umso mehr als er innerlich zugab, daß der vornehme und kluge Berliner Kollege mit seinen Vorwürfen nicht ganz im Unrecht war.
»Ich hatte nicht in allem freie Hand, Herr Doktor!« erwiderte er. »Vieles erledigte unser Chef, dann hing sich die Justiz hinein, und da sowohl unser Alter wie auch der Untersuchungsrichter höhere Gehälter beziehen als ich, so hatten sie natürlich auch immer recht. Hinzu kommt, daß ich nach wenigen Tagen überhaupt jede Untersuchung einstellen mußte und gar nicht dazu kam, den Fall selbständig zu Ende zu führen, weil das Gericht aus Gründen, die mir unbekannt sind, die Voruntersuchung einstellte –!«
»Herrn von Sartorius aber ruhig nach wie vor in Haft behielt!« meinte Dr. Weberstädter bedenklich. »Na, genug davon!« fuhr er fort. »Was ich Ihnen an – sagen wir mal ruhig – Vorwürfen zu sagen hatte, ist jetzt gesagt. Nun kommt die praktische Arbeit! – Ich habe Ihre Protokolle in den Vormittagsstunden genau gelesen, habe auf drei Uhr den Premierleutnant hierher ins Hotel bestellt. Das Weitere wird sich finden.«
»Herr Doktor!« meinte Fastenrath ein wenig bedenklich. »Ich möchte Sie doch warnen, dem Premierleutnant allzu viel Vertrauen zu schenken. Er ist und bleibt belastet, und zwar sehr schwer. Er besaß nachgewiesenermaßen die Dokumente, die dem Feldmarschalleutnant entwendet wurden.«
»Das leugnet er ja auch gar nicht! Aber er braucht sie doch nicht gerade durch einen Mord bekommen zu haben. Es gibt vielleicht auch andere Wege. Wir werden Herrn von Sartorius nachher fragen. – Er wird uns Auskunft geben.«
»Das möchte ich bezweifeln!«
»Der kommandierende General hat ihm ausdrücklich die Genehmigung erteilt, auszusagen. Und, wenn Herr von Sartorius nachweist, daß er die Dokumente von einer ganz anderen Stelle erhalten hat, dann scheidet er als Mörder meines Erachtens sehr schnell aus –!«
Fastenrath hatte immer noch Einwände.
»Sie vergessen den preußischen Offizier, der von zahlreichen Zeugen gesehen wurde. Wer war dieser Offizier –?«
»Das weiß ich nicht, Herr Fastenrath, – – noch nicht!«
»Sartorius trug noch in Hannover einen starken Schnurrbart. Hier in Frankfurt hat er sich den Bart abnehmen lassen und ging glatt rasiert! Das ist doch auch nicht ganz sauber!«
Weberstädter wollte antworten, als ein hochgewachsener junger Mann in dunklem Zivilanzug das Hotel betrat und an die Portierloge ging.
»Still!« sagte Weberstädter und erhob sich. »Herr von Sartorius ist soeben angekommen!«
Auch Fastenrath erhob sich und legte die Zigarre zur Seite.
Der Premierleutnant von Sartorius trat näher, reichte dem Berliner Beamten die Hand und machte Fastenrath eine steife Verbeugung.
Weberstädter vermittelte. »Herr Premierleutnant, ich bitte den Herrn hier von seinem Amt zu trennen. Herr Kollege Fastenrath mußte von Amtswegen gegen Sie vorgehen. Er hat heute selbst das größte Interesse daran, Ihre Unschuld, an die ich schon felsenfest glaube, an den Tag zu bringen. Darf ich die Herren auf mein Zimmer bitten?«
Fastenrath, der hinter den beiden Herren die teppichbelegten Treppen zum zweiten Stock emporstieg, ärgerte sich ein wenig über seinen Kollegen, der anscheinend von der Unschuld Sartorius' felsenfest überzeugt war, also ebenso voreingenommen war wie er selbst, nur im umgekehrten Sinne, aber er sagte nichts und nahm im Zimmer Weberstädters auf einem Fauteuil Platz. Sartorius setzte sich gegenüber.
Weberstädter holte dann das Aktenstück ›Mordsache Feldmarschalleutnant P.‹ aus dem Schrank und nahm ebenfalls Platz.
»Herr Premierleutnant!« sagte er höflich. »Sie sind auf Ehrenwort freigelassen. Ich hatte vor zwei Stunden eine kurze Unterredung mit dem kommandierenden General Vogel von Falckenstein und glaube Ihnen Ihre vollkommene Freiheit in Aussicht stellen zu können, wenn Sie mir, vor allem auch dem Frankfurter Kollegen hier, einige kurze Fragen beantworten, die mehr oder weniger Formsache sind.«
»Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Herr Doktor!« antwortete von Sartorius kurz und zündete sich eine Zigarre an.
»Sie standen bisher unter dem Verdacht des Mordes, begangen am Feldmarschalleutnant von Poschacher.«
»Ich bin unschuldig! Ich kenne den Feldmarschallleutnant gar nicht, hatte auch keine Ahnung, wo er wohnte, und bin nie in seiner Wohnung gewesen. –«
»Möglich! – Der Verdacht basierte auf zahlreichen Indizien. Es handelte sich, wie die Frankfurter Polizei ermittelt haben will, um einen Raubmord. – Dem Feldmarschalleutnant wurden wertvolle Papiere geraubt, Dienstpapiere von ungeheuerer Wichtigkeit. Diese Papiere besaßen Sie – –?«
»Möglich! Sogar wahrscheinlich! Aber, ich bestreite, daß ich sie raubte – –!«
»Weiter! – Der mutmaßliche Täter wurde von mehreren Zeugen gesehen. Er trug die Uniform eines preußischen Hauptmanns, vielleicht auch nur eines Premierleutnants. Die Zeugen sind gerade keine militärischen Fachleute. Die k. & k. Posten konnten den zweiten Stern auf den Epauletten vielleicht nur angenommen haben, ohne daß er vorhanden war; aber die Beschreibung dieses preußischen Offiziers paßt auf Sie.«
»Unsinn! – Verzeihung, Herr Doktor; aber das ist doch wirklich eine ganz unhaltbare Annahme. Ich wiederhole, daß ich nie in der Wohnung des Feldmarschalleutnants war und sie also auch am Mordtage nicht verlassen haben kann. Ich besitze auch gar keine Hauptmannsuniform, habe nur Zivilkleidung bei mir; und angenommen, ich hätte wirklich den Feldmarschallleutnant aufgesucht, meinetwegen, um ihn zu bestehlen, oder gar mit Mordabsichten, – glauben Sie, daß ich zu diesem Vorsatz ausgerechnet Uniform angezogen hätte, die, weil sie in jenen Tagen in Frankfurt mehr als selten war, unbedingt auffallen mußte? –«
Der Premierleutnant lachte herzlich auf.
»Ich habe im Morden keine Routine, meine Herren von der Polizei! Ich bin auch kein versierter Kriminalist; aber hätte ich die Tat begangen, dann bestimmt in Zivilkleidung!«
»Erinnern Sie sich, Herr Premierleutnant, wie Sie am Mordtage Ihre Zeit einteilten – –?«
»Nein, Herr Doktor! Genau kann ich mich natürlich nicht mehr erinnern. In großen Umrissen verlief der Tag wie folgt: Am Vormittag hatte ich eine Besprechung mit unserem Frankfurter Agenten, unserem Vertrauensmann, der Name dürfte hier nicht interessieren – –!«
»Nein!«
»Gegen ein Uhr speiste ich im Hotel und ging anschließend ins Café Milani auf der Zeil. Gegen 4 Uhr erhielt ich die – – Papiere, kehrte ins Hotel zurück und ging dann aufs Telegrafenamt am Paulsplatz. Wenn ich mich recht entsinne, ging ich von dort nochmals ins Hotel, packte meine Sachen, zahlte die Rechnung, dann ging ich ins Theater und fuhr mit meiner Braut an den Ostbahnhof. – Dort wurde ich verhaftet, gerade als ich den Bahnhof verlassen wollte.«
»Schön, Herr Premierleutnant! Ich stelle Ihnen jetzt noch eine einzige Frage, deren Beantwortung Sie wahrscheinlich voll und ganz entlastet. Um es vorweg zu nehmen, ich für meine Person kenne die Antwort schon; aber es ist mir darum zu tun, daß auch der Frankfurter Kollege hier unterrichtet wird und die Angaben aus Ihrem eigenen Munde hört. Der kommandierende General hat Ihnen ausdrücklich die Erlaubnis zur Aussage erteilt. – Sie, Herr Kollege Fastenrath, brauche ich kaum besonders darauf aufmerksam zu machen, daß die Antworten des Herrn Premierleutnants streng vertraulich behandelt werden müssen. – Also, Herr von Sartorius: Wie kamen Sie in den Besitz der Papiere des Feldmarschalleutnants von Poschacher?«
Sartorius schwieg einen Augenblick und fuhr sich über die Oberlippe, wo früher sein langer, kräftiger Schnurrbart gewesen.
»Ich war dem Prinzen zu Ysenburg, unserem Gesandten in Hannover, zu speziellen Dienstleistungen unterstellt, deren Art sich aus meiner hiesigen Tätigkeit ja ohne weiteres ergibt. Der Prinz zu Ysenburg hatte erfahren, daß die Papiere, die uns brennend interessierten, im Besitze des Feldmarschalleutnants von Poschacher waren. Ich hatte den Auftrag, diese Papiere um jeden Preis in die Hände zu bekommen. Ich fuhr deshalb mit dem Feldmarschalleutnant im gleichen Zuge nach Frankfurt, fand aber unterwegs keine Gelegenheit zu einem – na nennen wir's ruhig beim richtigen Wort – zu einem Diebstahl, den ich ruhig auf mich genommen hätte.
Hier in Frankfurt ging ich sofort zu unserem Vertrauensmann, erzählte ihm die Sache, und er stellte nur eine Frage: ›Wieviel zahlen Sie für den Besitz dieser Papiere?‹ Ich antwortete: ›Die Papiere sind von solcher Wichtigkeit für uns, daß jede vernünftige Summe gezahlt wird. Mein Fond ist dementsprechend reichlich bemessen. Nur muß die Sache sehr schnell erledigt werden!‹ – ›Heute mittag haben Sie die Papiere,‹ erwiderte unser hiesiger Agent! – Und gegen Zahlung von 10 000 Gulden bekam ich die Dokumente des Feldmarschalleutnants. Sie wurden mir durch einen Mittelsmann ins Hotel gebracht. Ich machte mir die notwendigen Auszüge, die ich später, dummerweise, in den Ofen meines Hotelzimmers steckte, depeschierte den Text nach Berlin und vernichtete die Originale des Feldmarschalleutnants. Diese schwammen schon einige Minuten später mainabwärts gen Mainz. Die Auszüge fand man wahrscheinlich im Hotel, denn der Kellner muß ein Spion der Österreicher gewesen sein, und das führte meine Verhaftung herbei – –.«
»Stimmt!« erwiderte Fastenrath. »Sie ersehen daraus, Herr Premierleutnant, daß Ihre Festnahme nicht ganz unberechtigt war!«
»Ich habe sie nie, von Ihrem Gesichtspunkt aus betrachtet, als ungesetzlich oder willkürlich angesehen.«
»Noch eine Frage, Herr Premierleutnant!« fiel Weberstädter ein. »Wissen Sie, wer Ihrem Mittelsmann die Papiere aushändigte, beziehungsweise, wer die Geldsumme von 10 000 Gulden bekam?«
»Ja!«
»Bitte den Namen!«
»Muß ich diesen Namen nennen?«
»Ja!«
»Es ist der k. und k. Leutnant Stepanowicz vom k. und k. Armeekommando!«
»Unglaublich!« entfuhr es Fastenrath.
Sartorius lachte.
»Mit den Österreichern und Russen ist gegen gute Bezahlung viel zu machen. Nicht mit den Deutschen in Österreich. Ich rate Ihnen nicht, einem deutschen Offizier, einem Tiroler, Steiermärker, Niederösterreicher, mit einem derartigen Vorschlag zu kommen. Aber mit den vielen Polen, Ungarn, Tschechen und Kroaten, die in der k. und k. Armee dienen, haben Sie, wenn auch nicht in allen, so doch in vielen Fällen Glück.«
»Na – – ich will mir's merken, falls ich mal in den politischen Dienst gehen sollte!« meinte Fastenrath. Dann fuhr er fort: »Mit dieser Erklärung, Herr Doktor, ist die Unschuld des Herrn Premierleutnant von Sartorius wohl erwiesen?«
»Jawohl, Herr Fastenrath!«
»Die Spionagesache geht uns nichts an; wir suchen den Mörder des Feldmarschalleutnants von Poschacher.«
»Sehr richtig!« erwiderte der Berliner Kriminalist. »Herr von Sartorius ist frei. Ich bitte aber, sich uns noch einige Tage zur Verfügung zu halten.«
»Ich habe Zeit, meine Herren! Es interessiert mich nämlich auch, zu erfahren, wer nun wirklich der Mörder des Feldmarschalleutnants ist.«
»Tscha,« brummte Fastenrath, »das möchten wir auch gern wissen!«
»Ich glaube es zu wissen!« meinte Weberstädter. Und auf einen fragenden Blick der beiden anderen erwiderte er kurz: » Cherchez la femme, Messieurs! – – Und jetzt gehen wir beide in die Wohnung des Feldmarschalleutnants von Poschacher nach der Bleichstraße! – Sie, Herr Premierleutnant sind frei! – Vielen Dank für Ihr freundliches Erscheinen!«