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Polizeidiätar Fastenrath bekommt einen neuen Kollegen.

In unmittelbarer Nähe des Frankfurter Polizeiamts befand sich eine kleine Apfelweinkneipe, die der Polizeidiätar Fastenrath seit einigen Tagen jeden morgen gegen 10 Uhr aufsuchte, um dort zu frühstücken.

Das Frühstück bedeutete zwar für die Beamten des Polizeiamts schon immer eine ebenso angenehme wie wichtige Angelegenheit; aber man pflegte bis zur Okkupation durch die Preußen diese nahrhafte Beschäftigung in den Diensträumen vorzunehmen, und wehe dem 'Untertanen' aus dem Publikum, der es gewagt hätte, die Herren dabei zu stören.

Seit die Preußen Frankfurt aber mit fester Hand besetzt hielten, ging es – wenigstens in den ersten Tagen nach dem Einmarsch der preußischen Truppen – auf dem städtischen Polizeiamt recht gemütlich zu. Die Paßstelle hatte überhaupt nichts zu tun, da das Generalkommando sich für Ein- und Ausreise als zuständig erklärte. Die Gewerbepolizei machte sich die Arbeit ebenfalls sehr leicht, und das Kriminalamt hatte noch nie so wenig Beschäftigung gehabt wie in den Tagen vom 17.-31. Juli. Die radausüchtigen Elemente, deren es in jeder Großstadt und natürlich auch in Frankfurt genug gab, zogen es vor, sich so wenig wie möglich in den Straßen blicken zu lassen; denn mit den zahlreichen preußischen Patrouillen wagten sie nicht anzubinden. Das Bürgertum hatte aber mit Einquartierung und anderen Unannehmlichkeiten, die die preußische Besatzung im Gefolge hatte, mehr als genug zu tun. – –

Fastenrath nahm sich daher jeden Morgen eine halbe Stunde Urlaub, um sein Frühstücksbrot zu verzehren und seinen Schoppen Äpfelwein zu trinken.

Die Preußen behandelten Frankfurt, die ›preußenfeindlichste‹ Stadt von ganz Deutschland, wie eine eroberte Stadt, die die volle Schwere des Kriegsrechts zu tragen hatte. Was man von der preußischen Militärbehörde zu erwarten hatte, davon gab ein ›Befehl‹, der am 16. Juli unmittelbar nach dem Einmarsch ins Rathaus gebracht wurde, eine ganz sanfte Ahnung.

Der Hauptmann, Kommandant der gerade besetzten Hauptwache, befahl dem Magistrat:

Der Magistrat der freien Reichsstadt Frankfurt hat für die Hauptwache sofort zu bestellen:

erstens für die (sechs) Offiziere:
6 Flaschen Champagner,
6 Portionen warmes Abendessen,
200 feine Zigarren;

zweitens für die Mannschaften (75 Mann):
180 Flaschen Bier,
2000 Stück Zigarren, gute Sorte,
400 belegte Butterbrode.

Die umgehende Einsendung der verlangten Gegenstände wird erwartet.

Um zehn Uhr sandte ein einfacher Leutnant einen zweiten noch schärferen Befehl:

Bis jetzt sind für die Hauptwache noch fehlende 110 Flaschen Wein nicht angekommen. Sind dieselben binnen zehn Minuten nicht geliefert, sehen wir uns in der traurigen Notwendigkeit, die Einquartierungskommission verhaften zu lassen.

Zehn Uhr abends.

N. N. Lieutenant und Wachthabender.

Einen Tag später wurden schon die ersten bedeutenden Requisitionen ausgeschrieben, die sich unter anderem auch auf 300 gut zugerittene Reitpferde erstreckten, die die Frankfurter Bevölkerung abzuliefern hatte, und, wenn auch zähneknirschend, ablieferte.

Hart war die Forderung, die Löhnung für die gesamte preußische Mainarmee auf ein Jahr sofort an die Feldkriegskasse abzuliefern. – Der Feldintendant Großmann berechnete diese Löhnung auf nahezu 6 Millionen Gulden, eine ungeheuere Summe, die aufzubringen selbst der reichen Stadt Frankfurt schwer fiel.

Aber am drückendsten war natürlich die Einquartierung, die gleichgültig ob reich oder arm jeden einschneidend belästigte. – Das Generalkommando war sogar derart vorsorglich, daß es einen eingehenden Speisezettel aufstellte, der genau vorschrieb, was Offiziere und Mannschaften von ihren Quartierwirten zu beanspruchen hatten.

Dieser Speisezettel ist aus kulturhistorischen Gründen sehr interessant:

Die Offiziere, die im Offiziersrange stehenden Beamten, die Feldwebel, die Portepéfähnriche und die in Offiziersstellen fungierenden Beamten hatten zu verlangen:

des Morgens Kaffee mit Zutat,
des Mittags Suppe, Fleisch, Gemüse, Braten und eine Flasche Wein,
des Abends Abendbrot und außerdem täglich acht Stück gute Zigarren.

Die mit Verpflegung einquartierten Mannschaften erhielten:

des Morgens Kaffee mit Zutat,
des Mittags ein Pfund Fleisch, das dazu erforderliche Gemüse sowie Brot und eine halbe Flasche Wein,
des Abends einen ausreichenden Imbiß, ein Seidel Bier und täglich acht Stück Zigarren.

Wenn man in Betracht zieht, daß die preußischen Truppen ungeheure Marschleistungen hinter sich hatten – von den Kriegsoperationen gar nicht zu reden – ferner bedenkt, daß die Preußen sich in einer feindlichen, eroberten Stadt fühlten, dann kann von einer ›unverschämten Forderung‹ nicht gerade gesprochen werden.

Aber die meisten Frankfurter, so weit sie nicht den oberen Ständen angehörten, leisteten sich damals kaum einmal in der Woche außer Sonntags einen Braten, und sie sollten nun ihre ungebetenen Gäste täglich mit einem ganzen Pfund Fleisch füttern. Das war ein bißchen zu viel. –Aber noch mehr erzitterten die Zigarrenlieferungen, mit denen es eine ganz besondere Bewandtnis hatte. Diese mußten nämlich von der Feldintendantur der Mainarmee aus einem besonderen Requisitionsmagazin bezogen und bezahlt werden, und zwar zu ›amtlich‹ festgesetzten ›angemessenen‹ Preisen. Die Preußen verdienten also nochmals an ihrer eignen Einquartierung.

In Wirklichkeit lagen die eigentlichen Gründe dieser an sich ja etwas sonderbaren Forderung anders: Die Preußen hatten in Böhmen und Mähren große Quantitäten österreichischer Regiezigarren erbeutet, die sie nun verwerfen wollten. Es wäre natürlich das Naheliegendste gewesen, die für sie anscheinend so wichtige Zigarrenfrage in der Form zu lösen, daß die Militärverwaltung die Verteilung einfach in ihre eigenen Hände genommen hätte. Der befohlene Umweg über den Geldbeutel der Frankfurter Bürger schien zumindest etwas neu und eigenartig. – Über die acht preußisch-österreichischen Zigarren wurde jedenfalls in jenen Tagen in allen Kneipen gehörig geschimpft.

In den Gaststätten, wo nur Einheimische zusammenkamen, machte man aus seinem Herzen kaum eine Mördergrube, und als Fastenrath mit seinem umfangreichen Frühstückspaket am 19. Juli morgens in der Kneipe erschien, bildete das Kapitel Einquartierung am Stammtisch natürlich wieder einmal das übliche Gesprächsthema. Ein Schlosser führte das große Wort.

»Wieviel Mann haben Sie eigentlich?« fragte Fastenrath.

»Ich hab nur drei, awwer des genügt mir – –«

»Benehmen sich die Leute anständig –?«

»Ach ja, iwwer das Benehme, da könnt ich eigentlich gar net klage; awwer die Kerle fresse mich direkt arm. Ich hab auch noch das besondere Glück, ausgerechnet Pollacke aus Owerschlesie gekriegt zu hawwe. No, und was die fresse können, Herr Fastenrath, davo mache se sich kaan Begriff. Und dann, jeder von dene Kerls verlangt natierlich sei Pfund Fleisch, was ihm zusteht – –!«

»Da hat er an sich nicht unrecht!« meinte der Polizeidiätar schmunzelnd.

»Richtig! Awwer stelle se sich vor, ich und wahrscheinlich noch sehr viel mehr Bürger leiste sich günstigenfalls einmal am Sonntag einen armselige Brate, und jetzt soll ich jedem von dene Pollacke pro Tag e Pfund Fleisch hinstelle! Mei Alt zieht mer seit vier Tag e Schnut bis an den Fußbode, weil natierlich das Wirtschaftsgeld vorne und hinte net reicht. – Und der Magistrat zahlt pro Mann und pro Tag lumpige 60 Kreuzer. – Könne Se mit 60 Kreuzer e Preuße satt mache? Ich kanns net! – Und dann – die verdammte Zigarre. Gestern hab ich auf dem Depot für mei gut Geld Widder e ganze Kist Zigarr'n kaufe müsse, die hält – 24 Stück muß ich pro Tag liefern – knapp vier Tag. Dann kann ich e frische Kist kaufe. Ich leist mer beim Schmidt in der Saalgaß Zigarren für 2 Kreuzer das Stick und die genüge mir. Für meine Herrn Preuße muß ich aufs Depot renne und Zigarr'n des Stück für 5 Kreuzer kaufe.

Es war schon ohne die Preuße viel scheener in Frankfurt. Das könne se glauben, Herr Fastenrath!«

Unter der Tür der Äpfelweinkneipe erschien plötzlich ein städtischer Polizeisoldat und gab Fastenrath einen Wink.

Dieser erhob sich sofort. »Was gibts?« fragte er.

»Der Direktor ist soeben gekommen und läßt im ganzen Amt nach Ihnen suchen, Herr Fastenrath!«

Der Polizeidiätar verschwand sofort und beeilte sich, in einem kleinen Bogen das nahe Polizeiamt zu erreichen.

Der Senator Dr. Schultheiß empfing den Diätar sehr ungnädig.

»Zum Donnerwetter, Fastenrath, wo stecken Sie denn?«

»Ich hatte in der Fahrgasse eine wichtige amtliche Feststellung zu machen, Herr Direktor!«

Dr. Schultheiß beruhigte sich.

»Machen Sie mal die Tür zu, Fastenrath! Ich bin in größter Aufregung wegen – – – wegen – – – – des Aktenstückes Feldmarschalleutnants P.

Ich – – ich – – finde den Akt nicht, trotzdem ich Ihr Amtszimmer von oben bis unten durchsuchen ließ. Sie erinnern – – sich – – Herr Fastenrath, daß ich Ihnen den – – – ausdrücklichen Befehl erteilte, das Aktenstück sehr gut aufzubewahren. Sie – verstehen Sie mich – Sie machten zwar eine Bemerkung, den Akt so – unter der Hand – verschwinden zu lassen, – – aber ich – – ich – – verbot dies, – – wie Sie wohl noch wissen werden – – –?!«

Fastenrath weidete sich innerlich an der Angst seines Vorgesetzten.

»Der Akt ist gut aufgehoben!« erwiderte er ruhig.

»Gott sei Dank! Aber ich fand ihn nicht in Ihrem Büro?!«

»Ja!« erwiderte der Polizeidiätar. »Wenn Herr Senator dort gesucht hätten, wo der Akt hingehört, nämlich hier in Ihrem eigenen Aktenregal, dann hätten Sie ihn gefunden.«

Fastenrath nahm das dicke, blaue Aktenstück aus dem Regal und legte es lächelnd auf den Schreibtisch.

Der Direktor nahm es sofort an sich und fuhr mit der Hand, beinahe liebkosend, über den Kartondeckel.

»Gott sei Dank!« sagte er nochmals mit einem tiefen, befreienden Seufzer. »Mir fällt ein Stein vom Herzen. Nehmen Sie Platz, Fastenrath! – Sie wissen, ich war beim General von Falckenstein. Der Mann wollte mit mir Schlitten fahren, aber er hatte kein Glück! Ich habe ihm die Zähne gezeigt – und wie!

Wir kommen scheinbar ohne unangenehme Weiterungen aus der Schweinerei heraus. Allerdings – – es gibt noch einmal Arbeit!«

»Wenn ich richtig informiert bin,« meinte Fastenrath, »so ist der Premierleutnant von Sartorius, der in meinen Augen nach wie vor als einziger Täter in Frage kommt, von den Preußen bereits auf freien Fuß gesetzt worden?!«

»Ja, aber gegen Ehrenwort! Er muß sich der Untersuchung zur Verfügung stellen, und diese Untersuchung wird uns aus den Händen genommen. – Der General schickt in den nächsten Tagen einen Kriminalbeamten aus Berlin, der soll die Sache schmeißen. – Na, mir mag's recht sein! Wir haben getan, was zu tun war, und ich freue mich schon, wenn der Preuße mit langer Nase abziehen muß! Ich sehe ihn schon vor mir, den Herrn Polizeikommissarius aus Preußisch-Berlin. Typ Unteroffizier, der 15 Jahre gekloppt hat. Schnurrbart bis an beide Ohren, und so 'ne Riesenklappe. – Ich höre in Gedanken die Kürassierstiebel des Herrn Preußen schon hier in den Amtsräumen dröhnen. Viel Vergnügen, Herrn Fastenrath! Sie werden mit dem Herrn Kollegen aus Preußen zusammenarbeiten müssen. Ich ersuche Sie um Höflichkeit, Korrektheit, aber auch um äußerste Zurückhaltung. Haben Sie mich verstanden?«

»Jawohl, Herr Senator!«

In diesem Augenblick öffnete der Schreiber Müller die Tür einen kleinen Spalt breit, steckte seinen Vogelkopf ins Zimmer und meldete: »Herr Kriminalkommissarius Weberstädter aus Berlin bittet Herrn Senator sprechen zu dürfen!«

Dr. Schultheiß sah seinen Untergebenen Fastenrath mit einem grimmigen Blick an; dann lachte er unvermittelt auf.

»Da ist er schon – der Preuß! Gut, Müller, lassen Sie den Kerl eintreten. – Bleiben Sie gleich hier, Fastenrath!«

Als der Kriminalkommissarius aus Berlin ins Zimmer trat, waren die beiden Frankfurter Polizeibeamten angenehm überrascht. Sie erwarteten einen zweiten Bismarck, Typ Halberstädter Kürassier, und sahen einen mittelgroßen, elegant gekleideten Herrn von knapp vierzig Jahren, einen Weltmann, der wie ein Diplomat wirkte, und dessen Äußeres alles andere als ›unteroffiziermäßig‹ wirkte. Er machte dem Polizeidirektor, der ein wenig steif vor seinem Schreibtisch stand, eine höfliche Verbeugung und meldete:

»Kriminalkommissarius Weberstädter, auf Befehl des Generalkommandos zur Unterstützung der Frankfurter Polizei kommandiert, und dem Herrn Senator Dr. Schultheiß unterstellt

Die Liebenswürdigkeit und Bescheidenheit des ›Preußen‹ entwaffnete den an sich gutmütigen Senator sofort. Er reichte dem Berliner spontan herzlich die Hand und sagte:

»Sie sind mir bereits angezeigt, Herr Kriminalkommissarius! – Ich freue mich, mit Ihnen zusammenarbeiten zu können! Herr Fastenrath, der die Angelegenheit bisher bearbeitete, wird jederzeit zu Ihrer Verfügung stehen!«

»Herzlichen Dank, Herr Senator!«

Dem Senator fiel ein Stein vom Herzen. Die beiden Polizeibeamten reichten sich die Hände.

»Sie sprechen für einen Berliner einen recht seltsamen Dialekt, Herr Kriminalkommissarius!« meinte der Polizeidirektor.

Der ›Berliner‹ lächelte.

»Ich bin nur in Berlin im Dienst. Ich stamme aus Wetzlar an der Lahn, darf daher vielleicht darauf Anspruch erheben, als näherer Landsmann von Ihnen angesehen und behandelt zu werden. – In der Sache selbst bin ich schon ziemlich unterrichtet, Herr Senator. Ich habe auch bereits einige Ermittlungen vorgenommen, aber ich lege den größten Wert auf eine möglichst enge und gute Zusammenarbeit mit Ihren Herren und. darf mir vielleicht das Aktenstück der hiesigen Polizei zur Durchsicht ausbitten?«

»Aber selbstverständlich!« erklärte der Direktor. »Der Akt ist peinlich sorgfältig unter meiner eignen Obhut aufbewahrt worden. Er liegt für Sie bereit.«

»Vielen Dank, Herr Senator! – Ich habe – den Premierleutnant von Sartorius in mein Hotel bestellt; vielleicht – – macht mir der Herr Kollege Fastenrath die große Freude, heute mittag zum Essen mein Gast zu sein. Wir verhören Herrn von Sartorius gemeinsam und gehen dann, wenn Herr Senator gestatten, ebenfalls gemeinsam in die Wohnung des Feldmarschalleutnants von Poschacher. Ich wohne im Hotel Russischer Hof; darf ich den Herrn Kollegen erwarten? – Vielleicht um ½1 Uhr zur Table d'hôte?«

»Durchaus einverstanden, Herr Kriminalkommissarius! Herr Fastenrath wird pünktlich zur Stelle sein.«

Kriminalkommissarius Weberstädter machte dem Senator erneut eine lächelnde Verbeugung. Dieser reichte ihm zum Abschied die Rechte und sagte, als der Berliner das Zimmer verlassen hatte, erfreut zu seinem Diätar: »Dieser Herr ist eine sehr angenehme Überraschung! Es ist jedenfalls der feinste, angenehmste ›Preuße‹, den ich seit Jahrzehnten gesehen habe. Seien Sie unter allen Umständen pünktlich im Hotel zum Russischen Hof, Herr Fastenrath! Ich lege den größten Wert darauf, daß der Herr Kollege aus Berlin die beste Aufnahme und das weitgehendste Entgegenkommen findet!«


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