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In Deutschland und Österreich widerhallte die Welt im Juli 1866 von Kriegsgeschrei. In der stillen Schweiz dagegen herrschte tiefer Friede. Sommerliche Ruhe lag über dem blauen Wasser des Züricher Sees. Die Schweizer lasen zwar ihre Zeitungen, die über die Kriegshandlungen in Böhmen, Mähren, am Main und an der Tauber ausführlich berichteten; sie stellten mit Verwunderung fest, daß die verlachte preußische Armee, von tüchtigen Offizieren geführt, nicht nur die eigenen Landsleute, Deutsche aus Bayern, Hessen und Baden, zu Paaren getrieben sondern auch dem mächtigen, stolzen Österreich Niederlagen über Niederlagen beigebracht hatte. Aber man las in der Schweiz diese Begebenheiten mit kaum einem größeren Interesse, als man von einem Erdbeben in Guatemala oder vom Mißerfolg einer Forschungsexpedition im Innern Afrikas Kenntnis genommen hätte. Was sich in Deutschland ereignete, interessierte die Schweiz kaum.
Im Stadttheater gastierte seit einigen Tagen die berühmte Sängerin Marquisette Villars, die in Zürich genau so gefeiert wurde, wie sie es auch in anderen europäischen Hauptstädten gewöhnt war.
Marquisette Villars wohnte im Hotel Excelsior am Züricher See und hatte am Morgen des 26. Juli eine kurze Probe zur Abendpremière von ›Pariser Leben‹, der damals neuen Offenbachschen Operette. Als Marquisette gegen ½12 Uhr den Hinterausgang des Stadttheaters verließ, erhob sich von einer Bank am See ein hochgewachsener, junger Mann und kam schnell näher. Zwei andere Herren folgten ihm. Marquisette mutmaßte, daß die Eile der drei Herren ihr galt und verhielt einen Moment ihre Schritte; den breiten, rotseidenen Sonnenschirm hielt sie zum Schutze ihrer Augen über den Kopf. Plötzlich ließ sie den Schirm mit einem freudig erstaunten Ausruf sinken und sprang dem jungen Mann entgegen.
»Horst!« rief sie. »Sehe ich denn richtig, Horst! Mein lieber, lieber Junge! Das ist aber eine Überraschung!«
Horst von Sartorius trat jetzt langsamer auf die Sängerin zu. Ohne allzu große Freude an den Tag zu legen, reichte er Marquisette die Hand.
»Ich bin Deinetwegen nach Zürich gekommen. – Ich – ich muß Dich sprechen, Marquisette, – und – diese Herren hier haben ebenfalls einige Fragen an Dich zu richten.«
Marquisette Villars zog ernüchtert ihre Hand aus der ihres Verlobten.
»Du bist so seltsam, Horst!? – Was ist passiert? Was wollen diese Herren von mir? Sind es Freunde von Dir?«
»Freunde?« erwiderte der Premierleutnant von Sartorius und lachte bitter auf. »Nein, Freunde gerade nicht, aber gute Bekannte, die die weite Reise von Frankfurt nach Zürich nur Deinetwegen unternommen haben. – – Darf ich bekannt machen, Herr Kriminalkommissarius Dr. Weberstädter aus Berlin, Herr Polizeidiätar Fastenrath aus Frankfurt!«
Die Herren zogen höflich den Hut. – Marquisette neigte kaum den Kopf.
Dr. Weberstädter sprach zuerst.
»Madame,« sagte er, »ich habe einige Fragen an Sie zu richten; ich glaube aber nicht, daß der Platz vor dem Stadttheater dazu besonders geeignet ist.«
Marquisette warf den Kopf zurück.
»Ich weiß nicht, was ausgerechnet die preußische Polizei von mir wissen will!« sagte sie kurz.
Weberstädter ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er blieb nach wie vor der höfliche, korrekte Beamte.
»Das werden Sie alles in wenigen Minuten erfahren. Da vorn wartet unser Wagen; vielleicht haben Sie die Güte, uns ins Hotel zu begleiten; wir wohnen im gleichen Hotel wie Sie, meine Gnädige.«
Marquisette schwieg und preßte die Lippen zusammen. Dann sah sie Sartorius an. Das Gesicht des jungen Offiziers war erschreckend bleich; um seine Mundwinkel zuckte es; aber in seinen Augen stand eine Bitte. –
»Marquisette!« sagte er sanft. »Mache den Herren keine Schwierigkeiten. Komme mit uns; alles – alles – wird – muß – sich in wenigen Minuten aufklären!«
Fastenrath öffnete den Wagenschlag. Die Sängerin stieg ein, Weberstädter folgte schnell, dann nahmen auch die beiden anderen Platz.
Der Berliner Kommissarius beobachtete unter gesenkten Augenlidern das Gesicht der Mörderin. Marquisette Villars schien aber entweder vollkommen gefaßt, oder sie legte sich inzwischen ihre Verteidigung zurecht. Jedenfalls sprach sie kein Wort, auch nicht zu Sartorius. – Weberstädter sagte sich, daß die ihm gegenübersitzende, junge, nach neuester Pariser Mode gekleidete Frau entweder eine zynische, kalte Verbrecherin oder eine noch bessere Schauspielerin, vielleicht auch beides sein mußte.
Vor dem Hotel angekommen, sprang Weberstädter zuerst aus dem Wagen und half der Sängerin beim Aussteigen. – Im Hotelvestibül sagte die Sängerin laut:
»Ich bin gespannt, meine Herren, was Sie mir aus Frankfurt zu berichten haben. Vielleicht bemühen wir uns auf mein Zimmer. Ich wohne im ersten Stock.«
Oben angekommen nahm Marquisette Villars Platz und forderte die anderen ebenfalls zum Sitzen auf.
Weberstädter wickelte vorsichtig den Stoffrest aus einem Stück Seidenpapier und legte ihn vor sich auf den Tisch.
»Gnädiges Fräulein!« sagte er. »Sie werden sich erinnern, daß Sie vor etwa einem Monat aus dem Atelier Moderne in Frankfurt eine Seidenrobe bezogen. Besitzen Sie diese Robe noch?«
»Das weiß ich nicht! – Wahrscheinlich! Ich müßte erst nachsehen lassen.«
Weberstädter lächelte fein und schob den Stoffrest direkt vor die Sängerin.
»Diese Arbeit können Sie sich ersparen, Madame!« meinte er. »Sie sind mit dem Feldmarschalleutnant von Poschacher in Frankfurt gut bekannt gewesen – –?«
»Ja!« erwiderte Marquisette. »Das kann man schon sagen. Wir sind sehr gute Bekannte. Der Feldmarschalleutnant hat mir sogar das bewußte Kleid geschenkt, eine Tatsache, die Ihnen, meine Herren von der Polizei, vielleicht nicht einmal neu ist!«
Weberstädter überhörte den Spott und legte nur wie zufällig seine Hand auf den Arm des neben ihm sitzenden Sartorius.
»Ruhe behalten!« flüsterte er; dann wandte er sich wieder zu der Frau:
»Das Kleid, dessen Spender, wie Sie ehrlich zugaben, der Herr von Poschacher war, wurde von uns unter recht seltsamen Umständen in der Wohnung des Feldmarschalleutnants gefunden. Wir fanden es, bis auf den kleinen Rest, der hier vor Ihnen auf dem Tische liegt, verbrannt im Ofen des Wohnzimmers.«
»Das ist möglich,« erwiderte Marquisette hochmütig, »denn ich habe es, wie mir eben einfällt, im Hause von Poschachers zurückgelassen.«
»Sie leugnen also nicht, am 17. Juni 1866 allein mit Herrn von Poschacher in dessen Wohnung gewesen zu sein?«
»Nein, mein Herr!« erwiderte Marquisette. »Da der Polizei diese welterschütternde Angelegenheit ja schon bekannt scheint, warum sollte ich da noch leugnen!«
Sartorius sprang auf, sein Stuhl fiel polternd zu Boden. – Fastenrath ergriff den erregten Offizier am Arm.
»Ruhe!« zischte er. »Sie verderben alles!« Weberstädter erhob sich nun ebenfalls.
»Madame!« sagte er ernst. »Wir wollen kein Verstecken spielen und mit offenen Visieren kämpfen. Ich bedauere, Sie verhaften zu müssen. Sie dürfen das Zimmer nicht verlassen! Unten wartet ein Polizist des Kantons Zürich, den ich sogleich heraufbitten lasse, um die formelle Festnahme vorzunehmen.«
Auch Marquisette Villars hatte sich erhoben. Bleich und leicht zitternd stand sie vor dem Kriminalkommissarius.
»Darf ich nicht wenigstens wissen, wessen man mich beschuldigt?« fragte sie spöttisch aber mit einem bitteren Zug um die Lippen.
»Jawohl!« erwiderte Weberstädter. »Des Mordes an dem Feldmarschalleutnant!«
Marquisette Villars fuhr zwei Schritte zurück.
»Was sagen Sie? – – Mord? – Am Feldmarschalleutnant?!«
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Marquisette Villars den Kriminalkommissarius an. »Von welchem Feldmarschalleutnant sprechen Sie, mein Herr?!«
Weberstädter bewunderte innerlich die Verstellungskunst der Sängerin. Er antwortete kalt:
»Ich spreche, wie Sie sehr wohl wissen, vom Feldmarschalleutnant von Poschacher.«
Marquisette hielt die Lehne des Stuhles mit beiden Länden umkrampft; nun begannen ihre Arme zu zittern, und ein schwacher Wehruf entrang sich ihrer Brust.
Fastenrath, der die Frau genau beobachtete, schob ihr schnell einen zweiten Stuhl hin. Er sah das blutleere Gesicht und merkte als alter Menschenkenner, daß in diesem Augenblick die Verstellung aufgehört hatte.
Marquisette Villars fiel in den Stuhl und sackte zusammen.
»Hoffmannstropfen!« hauchte sie mehr, als daß sie es sprach. »Dort – dort – auf dem Schreibtisch – – die braune Flasche!«
Sartorius brachte ein Glas Wasser. Fastenrath zählte 20 Tropfen ab, brachte aber das Fläschchen erst an die Nase, denn, daß ertappte Verbrecherinnen sehr leicht Selbstmord begehen, wußte er aus seiner mehr als dreißigjährigen Praxis, und er als Polizist mußte Selbstmordabsichten unter allen Umständen verhindern. Aber der Geruch sagte ihm, daß das kleine, braune Fläschchen tatsächlich nur harmlose Hoffmannstropfen enthielt.
Marquisette griff nach dem Glase, trank in kleinen Schlucken und reichte es dem besorgt neben ihr stehenden Premierleutnant mit sichtlicher Anstrengung. Dann richtete sie sich auf.
»Verzeihung!« stammelte sie und fuhr sich über die Stirn.
»Mir kommt alles vor wie ein Traum. Sie sprachen von einem Mord, von einem Verbrechen, begangen an dem Feldmarschalleutnant von Poschacher in Frankfurt?«
»Ja!« erwiderte Weberstädter, »der Feldmarschallleutnant von Poschacher ist am 17. Juni abends erdolcht worden.«
»Allmächtiger Gott!« stöhnte Marquisette. »Das – das – kann nicht sein! – Das – darf nicht sein!«
»An der Tatsache ist leider nichts zu ändern!« erwiderte Weberstädter mit grausamer Ruhe.
Und ich – ich soll – – Herrn von Poschacher ermordet haben?! Ausgerechnet ich?!«
Weberstädter schwieg.
»Und Du, Horst,« fuhr Marquisette bitter fort, »Du hast diese – – absurde Behauptung geglaubt?!«
Sartorius wehrte ab.
»Ob Mörderin oder nicht – – etwas anderes – ist für mich weit schlimmer. – – Die Tat – wenn im Affekt begangen – könnte ich vielleicht verstehen; aber daß Du, ausgerechnet Du, Marquisette, auf deren Reinheit ich Häuser gebaut hätte, die Geliebte des alten Poschachers gewesen bist, das – – verschmerze ich nicht – – das – trennt uns für immer!«
Marquisette Villars sah die drei Herren mit einem großen, fast kindlich erstaunten Blick an, dann brach sie unvermittelt in ein lautes Lachen aus.
Die drei Männer standen starr.
»Verzeihen Sie!« sagte sie. »Sie werden mich für verrückt halten; aber ich kann nicht anders. – Trotz der entsetzlichen Mitteilung, die Sie mir soeben machten, und die mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen mußte, kann ich nicht anders. Ich muß herzlich lachen. – Ich – ausgerechnet ich – – die Mörderin! – Nein, meine Herren! Den Mörder dieser furchtbaren Tat, den müssen Sie ganz woanders suchen! – –
Es stimmt; ich war am fraglichen Mittag in der Wohnung in der Bleichstraße; ich habe auch dort mein Kleid zurückgelassen, ein Kleid, das ich zum ersten Male trug. – Ich bin aber trotzdem weder die Mörderin – noch – – die Geliebte des Feldmarschallleutnants gewesen!«
Marquisette griff plötzlich mit beiden Händen an den Hals und riß den Kragen des eng und hochanschließenden Kleides gewaltsam und mit sichtbaren Zeichen der Angst auf.
»Verzeihen Sie!« stöhnte sie leise, abgehackt. »Ich bin – herzkrank – – muß jede Aufregung vermeiden. – Herr von Sartorius kennt meine Herzbeschwerden. Lassen Sie mich drei Stunden allein, ich muß – mich niederlegen – – muß heute abend im Theater meine Nerven unter allen Umständen zusammenhaben. – – Um 3 Uhr erwarte ich Sie hier. – – Sie sind zum Jausenkaffee meine Gäste; dann will – will ich Ihnen genau und ausführlich erzählen, warum ich am 17. Juni in der Bleichstraße in Frankfurt war, und aus welchem Grunde ich mein neues Kleid zurücklassen mußte. –
Haben Sie keine Angst, Herr Doktor! – Ich werde nicht entfliehen, denn ich bin keine Mörderin. Daß Herr von Poschacher tot ist, ermordet wurde, erfahre ich zu meinem Schrecken, zu meinem grenzenlosen Schmerze erst jetzt aus Ihrem Munde. – – Aber ich – ich habe ihn nicht ermordet! Mit einem Wort kann ich den furchtbaren Verdacht, entkräften. – – Mein Name Marquisette Villars ist nur ein Bühnenpseudonym. Ich – ich bin auch keine Französin sondern Österreicherin – – und mit meinem bürgerlichen Namen heiße ich – – Marietta von Poschacher. – – Ich bin die Tochter des Feldmarschalleutnants. Und jetzt, meine Herren, lassen Sie mich bitte allein! – – Auch Dich, Horst, kann ich – im Augenblick wenigstens – nicht sehen. – Ich – ich bin am Ende – meiner Kraft!«
Weberstädter zeigte äußerlich keine Überraschung. Nur um seine fest geschlossenen Lippen zuckte es verräterisch. Er gab den beiden anderen Herren einen Wink und griff nach seinem Hut.
»Marietta von Poschacher!« wiederholte er. »Das – Comtesse,« sagte er auffallend ruhig, »das hätte ich allerdings nicht erwartet. – – Diese Mitteilung wirft alle meine Hypothesen über den Haufen.
Wir sind um drei Uhr pünktlich bei Ihnen, Comtesse! Bitte legen Sie sich nieder; mit Herzkrankheiten ist nicht zu spaßen. –«
Sartorius stand neben dem Berliner Kommissarius und sah wie ein schuldbewußter Junge zu Boden. Jetzt eilte er auf die Sängerin zu und ergriff ihre schlaff herabhängende Hand.
»Verzeih! – verzeih mir!« war alles, was er stammeln konnte.
Weberstädter schob Fastenrath mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer.
»Lassen wir die Zwei allein!« sagte er leise. »Die beiden werden sich manches zu erzählen haben, was uns wenigstens im Moment nichts angeht. – –«
Hinter den beiden Polizeibeamten fiel die Tür leise ins Schloß.
Als sie auf dem Platz vor dem Hotel standen, sah Weberstädter seinen Kollegen mit einem langen Blick an.
»Das ist ja ein netter Reinfall!« meinte er. »Was tun wir jetzt?«
»Frühstücken geh'n!« erwiderte Fastenrath trocken.
»Ich zweifele nun bald daran, daß wir den Mörder des Feldmarschalleutnants jemals entdecken. Schneiden Sie doch kein belämmertes Gesicht, Herr Doktor! Damit kommen wir erst recht nicht weiter! – Gehen wir frühstücken!«