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In dem großen Ringen zwischen Preußen und Österreich um die Vorherrschaft in Deutschland war am 3. Juli in Böhmen die Entscheidung gefallen. Preußen hatte die Kriegshandlungen auf deutschem Boden, in Hannover, Kurhessen, in der Rhön und an der Saale in richtiger Erkenntnis der Sachlage als nebensächlich angesehen und sich mit seiner ganzen Macht auf die Österreicher geworfen. Dabei war Preußen allein auf seine eigene Kraft angewiesen. Außer einigen kleinen Staaten in Norddeutschland besaß es als einzigen wertvollen Verbündeten nur das Königreich Sardinien. Die Italiener benützten die gute Gelegenheit der Abrechnung zwischen Preußen und ihrem Erbfeinde Österreich, um auch noch die letzte Provinz, die in Italien von den Österreichern besetzt war, nämlich Venetien zu erobern. Dies gelang ihnen nun zwar nicht ohne weiteres. Auf historischem Boden, dort wo der alte Feldmarschall Radetzky im Jahre 1848 schon einmal die Italiener vernichtend geschlagen hatte, in der Poebene, bei Custozza, kam es auch diesmal wieder zur Schlacht. Sie endete mit einer vernichtenden Niederlage der Italiener. – Österreich hatte Venetien jedoch schon vorher aufgegeben und trat diese Provinz an den Kaiser Napoleon ab, der sich als Vermittler anbot. – Die österreichischen Truppen räumten Venetien und wurden nach Oberösterreich und Mähren transportiert, aber – – zu spät.
Schon war bei Königsgrätz die Entscheidung gefallen. Die Niederlage der Österreicher war vollständig, und dadurch war auch die Kriegsbegeisterung der Verbündeten, Bayern, Badener, Hessen, Württemberger, fast auf dem Nullpunkt angelangt.
Umso energischer waren aber die Bemühungen der Preußen, vor Abschluß des Waffenstillstandes, der, wie jeder wußte oder ahnte, unmittelbar bevorstand, die ganze Mainlinie in Besitz zu bekommen, vor allem aber die Bundeshauptstadt Frankfurt zu besetzen.
Prinz Alexander von Hessen, der in den ersten Julitagen mit seinem 8. Bundeskorps nach zwecklosen Märschen im Vogelsberg und der Rhön wieder in Frankfurt angekommen war, zog noch eine österreichische Brigade unter Führung des Generals von Neipperg, die in Mainz und Umgebung als Besatzung stand, an sich und rückte nach Osten ab. Vor der Stadt Frankfurt wurden auf alle Fälle Schanzen aufgeworfen; aber der Senat erhob Widerspruch, er wolle die offene Stadt nicht einer Beschießung aussetzen.
Die Frankfurter setzten ihre ganze Hoffnung auf die Schlacht, die sich unweit Frankfurts zwischen Hanau und Lohr am Main entwickeln mußte; und als am 13. Juli abends Boten die Meldung brachten, daß die vereinigten Bundestruppen, Österreicher, Hessen, Kurhessen bei Aschaffenburg auf die ersten Preußen gestoßen waren, stiegen die Frankfurter auf die Hausdächer, auf die Kirchtürme und andere erhöhte Stellen und spähten mit ihren Ferngläsern, Krimstechern, wie man sie damals nannte, nach Osten, ohne allerdings etwas zu entdecken.
Am 14. Juli, an einem Samstag, packte der Bundesrat schleunigst seine Koffer und verschwand aus Frankfurt. Der ungünstige Ausgang des Gefechts bei Aschaffenburg mußte hier schon durchgesickert sein. Die Bestätigung von einem großen Sieg der Preußen und Flucht der Verbündeten trafen am Nachmittage in Frankfurt ein, und jetzt verließ mit den Mitgliedern des Bundesrats alles, was sich irgendwie kompromittiert fühlte oder aus anderen Gründen Angst hatte, die Stadt auf dem schnellsten Wege. –
Die Eisenbahnen nach Süden waren überfüllt. Die Landstraßen mit Fuhrwerken vollgepfropft. Die Lebensmittelgeschäfte wurden gestürmt. Geld und Wertsachen wurden, wie vor 220 Jahren beim Einmarsch der Schweden, vergraben und versteckt.
Am Samstag vormittag zogen die letzten Bundestruppen, ein paar Hundert Bayern, in aller Stille ab. Von Militär blieb nur das Frankfurter Linienbataillon zurück und versah den Wachtdienst in der Stadt – immer noch wie im tiefsten Frieden. Ein paar Dutzend. Flüchtlinge aus der Aschaffenburger Schlacht, die im Laufe des 15. Juli, einem Sonntag, in Frankfurt eintrafen – es handelte sich zumeist um Offiziere, die einfach die immer noch verkehrende Eisenbahn benützt hatten, um sich in Sicherheit zu bringen, – vermehrten natürlich die Unruhe und Angst. Sie wurden schnellstens nach Darmstadt und Heidelberg weiterbefördert; und als auch ein Teil der Nassauer Truppen nach Westen in der Richtung Höchst durchmarschierte, um endlich das eigene Ländchen gegen die räuberischen Überfälle der Preußen zu schützen, herrschte in der Großstadt die Stille eines Grabes.
Obgleich im Jahre 1866 eine gesetzliche Sonntagsruhe für die Ladengeschäfte noch nicht bestand, wagte an diesem schwarzen, gewitterschwülen Sonntage kaum ein Geschäftsmann, seinen Laden zu öffnen.
Der Polizeidirektor Dr. Schultheiß suchte in aller Frühe seine Dienststelle auf. Fastenrath war trotz des Sonntags bereits anwesend. Unter dem Arm trug er ein dickes Aktenstück und legte es schweigend auf den Schreibtisch seines Chefs.
Dr. Schultheiß las nur den Titel, der kaligrafisch schön auf die Vorderseite gemalt war: ›Mordsache Feldmarschalleutnant P.‹, dann schob er das Aktenstück ärgerlich zur Seite.
»Was wollen Sie? – Was soll das?« fuhr er seinen Polizeidiätar an. »Die Sache ist verkorkst, und, wenn morgen die Preußen einmarschieren, dann wird der Kerl eo ipso von seinen Landsleuten freigelassen!«
Fastenrath wagte einen Einwand.
»Das glaube ich nicht, Herr Senator! Der Premierleutnant von Sartorius ist wegen eines Kriminalverbrechens in Last, und die Preußen werden nicht ohne weiteres daran denken, in die Justizpflege einzugreifen!«
Dr. Schultheiß lachte höhnisch auf: »Ich kenne die Preußen besser! Die machen, was ihnen beliebt, und kümmern sich einen Dreck um unsere Gesetze. Aber Sie bringen mich auf eine gute Idee. Sie sagen ja ganz recht: Justizpflege! – Justiz! – Genau genommen geht uns die ›Mordsache Feldmarschalleutnant P.‹ gar nichts mehr an. Die liegt ja schon in den Händen der Justiz. Wochenlang wird sie dort verschleppt. Die Preußen sollen mich nur schön in Ruhe und Frieden lassen, sollen sich an die Justiz halten!«
Fastenrath setzte ein ironisches Lächeln auf.
»Ich befürchte, daß wir die Suppe auslöffeln müssen, die uns die Justiz eingebrockt hat. Herr Dr. Leyendecker, der Untersuchungsrichter, ist beurlaubt und seit gestern verreist.«
Senator Dr. Schultheiß fuhr erschrocken auf.
»Was sagen Sie da? – Was heißt das?«
»Alle Leute, die sich Preußen gegenüber kompromittiert haben oder sich für kompromittiert halten, sind so schnell wie möglich ausgerückt. – Dr. Leyendecker ist mit seiner Frau und Tochter in Urlaub nach Wildbad. Den Redakteur Friedrich Stoltze, der in seiner ›Laterne‹ die Preußen seit Jahren verulkt und beleidigt hat, werden Sie auch nicht mehr in Frankfurt finden, und die verantwortlichen Redakteure der Neuen Frankfurter Zeitung sind mit ihrem Verleger heute morgen ebenfalls aus Frankfurt verschwunden. Ich habe Ihnen die letzte Nummer – die ist sehr interessant – mitgebracht, Herr Senator.«
Dr. Schultheiß antwortete nicht sofort.
»Wenn ich mir den Rat erlauben darf, Herr Senator,« fuhr Fastenrath ruhig fort, »dann – verschwinden auch Sie, so lange es noch Zeit ist. Man wird Ihnen diesen Urlaub ebenso wenig verweigern, wie er anderen Beurlaubten der freien Stadt Frankfurt verweigert wurde.«
Dr. Schultheiß erhob sich brüsk.
»Nein, Herr Fastenrath!« sagte er mit erhobener Stimme. »Ich denke nicht daran, feig Fersengeld zu geben. Was auch kommen mag, den Kopf kann's nicht kosten. Hier ist mein Platz, und – ich bleibe. – Kein Wort mehr davon! Geben Sie mir die Neue Frankfurter Zeitung her!«
Fastenrath nahm das dünne Blatt aus der Tasche und legte es auf den Schreibtisch. Dr. Schultheiß griff zu und überflog die erste Seite.
Schon seit einigen Tagen hatten die Frankfurter Blätter geflissentlich und geradezu auffallend über die Kriegsereignisse nichts mehr gebracht. In der Sonntagnummer vom 15. Juli teilte die Neue Frankfurter Zeitung nur mit, daß möglicherweise die Stadt schon in den nächsten Tagen damit rechnen müsse, in die Kriegsereignisse verwickelt zu werden. Sie mahnte zur Ruhe und warnte vor jeder gehässigen Äußerung in Wort oder Tat gegen die Sieger, mit derem baldigen Einmarsch in der ehemaligen Bundeshauptstadt bald gerechnet werden müsse.
In der zweiten Spalte stand eine Bekanntmachung, überschrieben:
Der Senat an die Bürgerschaft von Stadt und Land!
Der zwischen deutschen Bruderstämmen ausgebrochene Krieg droht auch das Gebiet der freien Stadt Frankfurt zu überziehen.
Die hohe deutsche Bundesversammlung, welche in hiesiger freier Stadt ihren Sitz hat, ist bereits zu dem Entschluß gelangt, diese Stadt zeitweise zu verlassen. Unsere Stadt ist eine offene Stadt und steht als solche unter dem Schutze des durch die Anerkennung aller Nationen geheiligten Völkerrechtes. Leben und Eigentum der Bürger und Einwohner erscheinen daher in keiner Weise bedroht.
Dagegen fühlt der Senat in dieser verhängnisvollen Zeit sich gedrungen, der Bürgerschaft offen und freimütig das Nachfolgende zu verkünden:
Der Senat wird treu zu dem Bunde stehen, der als unauflöslicher Verein gegründet ist und die Erhaltung der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten zum Zweck hat. Derselbe hält aber eine Umgestaltung der Bundesverfassung, die Schaffung einer starken Centralgewalt und die Einsetzung einer wirksamen Vertretung des gesamten deutschen Volkes für dringend geboten und wird sich freudig allen hierauf gerichteten Bestrebungen anschließen.
Es ist der feste Entschluß des Senats, bis zu glücklich erreichter Umgestaltung der Bundesverfassung die durch völkerrechtliche und Bundesverträge begründete und gewährleistete Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit hiesiger freien Stadt zu wahren.
Mag dieser Entschluß auch unserer freien Stadt, diesem friedlichen Gemeinwesen, dieser Stätte des Handels und Gewerbes, dieser Quelle des Wohlstandes und der Wohltätigkeit, schwere Prüfungen auferlegen, so hegt doch der Senat die feste Zuversicht, daß die gesamte Bürgerschaft in ihrem Rechtsgefühl und ihrer Treue für das deutsche Vaterland ihm zur Seite stehe und im Bewußtsein, das Rechte gewollt und Treue bewahrt zu haben, die Prüfungen, die über uns kommen können, standhaft ertragen werde. Gott beschütze das deutsche Vaterland und die freie Stadt Frankfurt!
Frankfurt a. M., den 15. Juli 1866.
Bürgermeister und Rat
der freien Stadt Frankfurt.
Dr. Schultheiß las zuerst gleichgültig. Im Laufe der Lektüre stieg ihm das Blut zu Kopf; er setzte sich wieder und las langsam zu Ende. Mit zitternden Länden legte er jetzt das Zeitungsblatt auf den Tisch und sah seinen Beamten fast ängstlich an.
»Was sagen – – Sie – – dazu – – –?«
»Ich werde mich hüten, die Maßnahmen unseres weisen Senats einer Kritik zu unterziehen. Wenn Sie, Herr Senator, aber nachher durch die Straßen gehen, werden Sie die Bekanntmachung an allen Straßenecken und an allen Plakatflächen lesen können!«
»Na – und was sagt das Publikum – –?«
»Das Publikum –?« wiederholte Fastenrath. »Das Publikum schimpft. Es hält diese Bekanntmachung für die größte Eselei, die hätte gemacht werden können. Morgen rücken hier die Preußen ein, lesen die Sache natürlich auch. Die Versicherung von der unverbrüchlichen Bundestreue ist im gegenwärtigen Moment die allergrößte Bêtise, die man hätte machen können. Das – – – das sage ich natürlich nicht, – – aber – die Frankfurter sagen so, und Volkesstimme, Herr Senator, ist Gottesstimme.«
Schultheiß antwortete nicht sofort. Seine Augen blieben wieder auf dem blauen Aktendeckel des Faszikels ›Mordsache Feldmarschalleutnant P.‹ haften.
Er ergriff das schwere Aktenstück und reichte es dem Diätar.
»Nehmen Sie diesen Akt bitte in Verwahrung, Fastenrath!« sagte er leise und unsicher. »Ich will das Zeugs hier los sein – – –!«
»Gern, Herr Senator!« erwiderte der Diätar. »Aber – mit Verlaub – was soll ich damit anfangen –?«
»Lassen Sie sich's einsalzen!« brüllte nun Dr. Schultheiß wütend. »Legen Sie's in ein Sauerkrautfaß, oder machen Sie Essiggurken davon! Verschwinden Sie nur so schnell wie möglich und nehmen Sie den verdammten Akt ›Feldmarschalleutnant P.‹ mit!«
Fastenrath stand stumm vor seinem Direktor und hielt das blaue Aktenbündel ratlos unter dem rechten Arm.
»Ich darf das Aktenstück doch nicht ohne weiteres verschwinden lassen –!« meinte er bedenklich.
Dr. Schultheiß fuhr auf.
»Ich verbitte mir diese Unterstellung!« schrie er. » Ich, ich habe Ihnen dazu keinen Befehl gegeben. Verstehen Sie mich! Das Aktenstück muß gut, sehr gut aufbewahrt werden. – Aktenbeseitigung? Nein! Ich danke! Ich gehe jetzt nach Hause. Machen Sie, was Sie wollen! Morgen haben wir die Preußen in der Stadt!«
Der Senator griff nach Hut und Stock.
»Nichts für ungut, Fastenrath!« sagte er unter der Tür. »Nehmen Sie meine Heftigkeit nicht übel; aber Sie werden verstehen, daß auch ich einmal die Nerven verliere. Und – – was das Aktenstück anbelangt – so glaube ich – daß Sie mich – bei Ihrer Intelligenz – genau verstanden haben, mein lieber Herr Fastenrath!«
Fastenrath öffnete dem Senator höflich die Tür; dann wartete er ruhig, bis er die schweren Schritte seines Chefs auf der Steintreppe des Polizeiamtes vernahm.
Dann ergriff er das Aktenstück, ging zu der einen Wandseite, die ein großes Regal mit zahlreichen Aktenbündeln enthielt, und packte das Faszikel ›Mordsache Feldmarschalleutnant P.‹ in das erste beste Gefach.
»Der Senator ist klassisch!« murmelte er. »Wenn Herr Dr. Schultheiß denkt, daß ich mir die Pfoten für ihn verbrenne, – – dann irrt er sich aber gewaltig. – Nee, meine Herren, für die paar Gulden Monatsgehalt halte ich den Buckel nicht hin. Der Untersuchungsrichter sitzt, weit vom Schuß, in Württemberg. Der Herr Polizeichef ist sein guter Freund. Soll der sehen, wie er fertig wird! – August Fastenrath ist zwar ein dummer Kerl; aber so blöd, daß er gegen den ausdrücklichen Befehl aber unausgesprochenen Wunsch des Chefs Akten beseitigt, so blöd ist er doch nicht!«
Er zog den verblichenen, grünen Vorhang vor das Aktenregal und verließ das Dienstzimmer seines Direktors, nachdem er sorgfältig die Tür verschlossen und den Schlüssel unten auf der Hauptwache des Polizeiamts abgegeben hatte.
Dann ging er zum Äpfelweinfrühschoppen über die Mainbrücke nach dem Vorort Sachsenhausen.