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Die Irren begrüßen Clarisse
Clarisse drehte ihre Handschuhe zwischen den Fingern, sah an den Fenstern empor und stand keinen Augenblick still, während Ulrich den Mietwagen bezahlte. Stumm von Bordwehr wollte nicht zulassen, daß Ulrich das tue, und der Kutscher saß wartend am Bock und lächelte geschmeichelt, während die beiden Herren einander aufhielten. Siegmund bürstete wie gewöhnlich mit den Fingerspitzen ein Stäubchen vom Rock oder starrte ins Leere. Leise sagte der General zu Ulrich: »Eine sonderbare Frau ist deine Freundin. Sie hat mir auf der Fahrt auseinandergesetzt, was Wille ist. Ich habe kein Wort verstanden!«
»So ist sie« sagte Ulrich.
»Hübsch ist sie« flüsterte der General. »Wie ein vierzehnjähriges Ballettmäderl. Aber warum sagt sie, daß wir hierhergefahren sind, um uns unserem Wahn zu überlassen? Die Welt ist zu wahnfrei, sagt sie? Weißt du darüber etwas Näheres? Es war so peinlich, ich hab ihr eigentlich nicht ein Wort erwidern können.«
Der General verzögerte ersichtlich die Verabschiedung der Fuhrwerke nur deshalb, weil er diese Fragen stellen wollte; aber ehe Ulrich eine Antwort gab, wurde er ihrer durch einen Abgesandten enthoben, der die Angekommenen im Namen des Chefs der Klinik begrüßte und, seinen Herrn bei General von Stumm mit dringender Arbeit für eine kleine Weile entschuldigend, die Gesellschaft in einen Warteraum hinaufführte. Clarisse ließ keinen Stein der Treppe und der Gänge außer Augen, und auch in dem kleinen Empfangszimmer, das mit seinen Stühlen aus verschossenem grünen Samt an die altmodischen Wartesäle erster Klasse auf Eisenbahnhöfen erinnerte, war ihr Blick fast die ganze Zeit über in langsamer Bewegung. Da saßen die vier, nachdem sie der Abgesandte verlassen hatte, und sprachen anfangs kein Wort, bis Ulrich, um das Schweigen zu brechen, Clarisse mit der Frage neckte, ob ihr nicht schon davor grusele, Moosbrugger von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten.
»Ach!« sagte Clarisse wegwerfend. »Er hat ja nur Ersatzweiber gekannt; da hat es so kommen müssen!«
Der General wollte sich wieder zu Ehren bringen, weil ihm nachträglich etwas eingefallen war. »Wille ist jetzt sehr modern« sagte er. »Auch in der Patriotischen Aktion beschäftigen wir uns viel mit diesem Problem.«
Clarisse lächelte ihn an und dehnte die Arme, um die Spannung darin zu beruhigen. »Wenn man so warten muß, fühlt man das Kommende in den Gliedern, als ob man durch ein Fernrohr schaute« erwiderte sie.
Stumm von Bordwehr dachte nach, er wollte nicht wieder zurückstehen. »Richtig!« sagte er. »Das hängt vielleicht mit der modernen Körperkultur zusammen. Mit der befassen wir uns auch!«
Dann kam der Hofrat mit seiner Kavalkade von Assistenten und Volontärinnen hereingefegt, war sehr liebenswürdig, namentlich zu Stumm, erzählte etwas von etwas Dringendem und bedauerte, sich gegen seine Absicht auf diese Begrüßung beschränken zu müssen und nicht selbst die Führung übernehmen zu können. Er stellte Dr. Friedenthal vor, der das an seiner Stelle tun werde. Dr. Friedenthal war ein großer, schlanker und etwas weichlich gebauter Mann, hatte einen üppigen Scheitel und lächelte bei der Vorstellung wie ein Akrobat, der die Leiter hinaufsteigt, einen Todessprung vorzuführen. Als sich der Chef empfahl, wurden die Kittel gebracht.
»Um die Patienten nicht zu beunruhigen« erläuterte Dr. Friedenthal.
Clarisse fühlte, während sie in den ihren schlüpfte, einen eigenartigen Kraftzuwachs. Wie ein kleiner Arzt stand sie da. Sie kam sich sehr männlich und sehr weiß vor.
Der General suchte einen Spiegel. Es war schwierig, einen Kittel zu finden, der sich dem ihm eigentümlichen Verhältnis von Höhe und Breite anpaßte; als es endlich gelang, seinen Körper vollständig einzuhüllen, sah er wie ein Kind im zu langen Nachthemd aus. »Meinen Sie nicht, daß ich die Sporen ablegen sollte?« fragte er Dr. Friedenthal.
»Militärärzte tragen auch Sporen!« widersprach Ulrich.
Stumm machte noch eine hilflose und verwickelte Anstrengung, um einen Blick in seinen Rücken zu erhaschen, wo sich die ärztliche Hülle in mächtigen Falten über den Sporen stauchte; dann setzten sie sich in Bewegung. Dr. Friedenthal bat, sich durch nichts aus der Fassung bringen zu lassen.
»Bis jetzt ist alles leidlich abgegangen!« flüsterte Stumm seinem Freunde zu. »Aber eigentlich interessiert mich das gar nicht; ich könnte ganz gut die Zeit benutzen, um mit dir über den heutigen Abend zu reden. Also gib acht, du hast gesagt, ich soll dir alles aufrichtig erzählen; das ist nämlich sehr einfach: Alle Welt rüstet. Die Russen haben eine ganz neue Feldartillerie. Gibst du acht? Die Franzosen haben ihre Zweijährige Dienstzeit dazu benutzt, ihr Heer gewaltig auszubauen. Die Italiener –«
Sie waren die fürstlich-altmodische Treppe, die sie gekommen waren, wieder hinabgestiegen, hatten sich irgendwie zur Seite gewandt und befanden sich in einem Gewirr kleiner Zimmer und winkliger Gänge, deren weißgetünchte Balken aus der Decke hervorstanden. Es waren größtenteils Wirtschafts- und Kanzleiräume, die sie durchschritten, aber wegen des in dem alten Gebäude herrschenden Platzmangels hatten sie etwas Abseitiges und Düsteres. Unheimliche Personen, teils in Anstaltskleidung, teils in Zivil, bevölkerten sie. Auf einer Tür stand: »Aufnahme«, auf der anderen: »Männer«. Dem General versiegte die Rede. Er hatte ein Vorgefühl von Zwischenfällen, die jeden Augenblick entstehen könnten und durch ihre unvergleichliche Natur große Geistesgegenwart erforderten. Wider seinen Willen beschäftigte ihn auch die Frage, wie er sich zu verhalten hätte, wenn ihn ein unwiderstehliches Bedürfnis zwingen sollte sich abzusondern und er sodann allein und ohne sachverständige Begleitung an einem Ort, wo alle Menschen gleich sind, mit einem Geisteskranken zusammenstieße. Clarisse dagegen ging immer einen halben Schritt vor Dr. Friedenthal. Daß er gesagt hatte, sie müßten die weißen Mäntel tragen, um die Kranken nicht zu erschrecken, hob sie wie eine Schwimmweste in den strömenden Eindrücken empor. Lieblingsgedanken beschäftigten sie. Nietzsche: »Gibt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins? Das Verlangen nach dem Furchtbaren als dem würdigen Feinde? Ist Wahnsinn vielleicht nicht notwendig ein Symptom der Entartung?« Sie dachte es nicht wörtlich, aber sie erinnerte sich im ganzen daran; ihre Gedanken hatten es zu einem ganz kleinen Paket zusammengepreßt und so wunderbar auf den kleinsten Raum gebracht wie das Einbruchswerkzeug eines Räubers. Für sie war dieser Weg halb Philosophie und halb Ehebruch.
Dr. Friedenthal blieb vor einer eisernen Tür stehn und holte aus der Hosentasche einen Stechschlüssel hervor. Als er öffnete, drang blendende Helle auf die Wanderer ein, sie traten aus dem Schutz des Hauses, und im gleichen Augenblick vernahm Clarisse einen gellenden und fürchterlichen Schrei, wie sie noch im Leben keinen gehört hatte. Trotz ihrer Tapferkeit zuckte sie zusammen.
»Bloß ein Pferd!« sagte Dr. Friedenthal und lächelte.
Wirklich befanden sie sich auf einem Stück Straße, das von der Anfahrt längs des Amtsgebäudes nach hinten zu dem Wirtschaftshof der Anstalt führte. Nichts unterschied es von anderen Straßenstücken mit alten Radspuren und gemütlichem Unkraut, und die Sonne brannte heiß darauf. Trotzdem waren auch alle anderen bis auf Friedenthal sonderbar davon überrascht, ja auf eine verdutzte und verworrene Weise darüber empört, daß sie sich auf einer gesunden und gewöhnlichen Straße befanden, nachdem sie schon einen langen abenteuerlichen Weg überstanden hatten. Die Freiheit hatte im ersten Augenblick etwas Befremdendes, wenn sie auch ungemein behaglich war, und man mußte sich zunächst wieder an sie gewöhnen. In Clarisse, wo alle Zusammenstöße unvermittelter waren, zerklirrte die Spannung in ein lautes Kichern.
Dr. Friedenthal schritt lächelnd über die Straße voran und öffnete auf der gegenüberliegenden Seite ein kleines, schweres Eisentor, das in eine Parkmauer eingelassen war. »Jetzt kommt es erst!« sagte er sanft.
Und nun befanden sie sich wirklich in jener Welt, die Clarisse schon wochenlang unbegreiflich angezogen hatte, und nicht nur mit dem Schauer des Unvergleichlichen und Abgeschlossenen, sondern so, als ob es ihr bestimmt wäre, dort etwas zu erleben, das sie sich vorher nicht vorstellen könne. Zunächst konnten die Eingetretenen aber in nichts diese Welt von einem großen alten Park unterscheiden, der in einer Richtung sanft anstieg und auf seiner Höhe zwischen Gruppen mächtiger Bäume kleine, weiße, villenartige Gebäude zeigte. Dahinter gab das Aufsteigen des Himmels den Vorgeschmack einer schönen Aussicht, und auf einem dieser Aussichtspunkte bemerkte Clarisse Kranke mit Wärtern, die in Gruppen standen und saßen und wie weiße Engel aussahen. General von Stumm hielt den Zeitpunkt für geeignet, das Gespräch mit Ulrich wieder aufzunehmen. »Also ich möchte dich noch auf heute abend vorbereiten« begann er. »Die Italiener, die Russen, die Franzosen und dann auch die Engländer, du verstehst, die rüsten alle, und wir –«
»Ihr wollt eure Artillerie haben, das weiß ich doch schon« unterbrach ihn Ulrich.
»Auch!« fuhr der General fort. »Aber wenn du mich nie ausreden läßt, werden wir gleich wieder bei den Narren sein und nicht in Ruhe sprechen können. Ich habe sagen wollen, wir sitzen in der Mitte und befinden uns in einer militärisch sehr gefährlichen Position. Und in dieser Lage verlangt man nun bei uns – jetzt rede ich von der patriotischen Aktion – nichts als menschliche Güte!«
»Und da seid ihr dagegen! Das habe ich schon begriffen.«
»Aber im Gegenteil!« beteuerte von Stumm. »Wir sind nicht dagegen! Wir nehmen den Pazifismus sehr ernst! Nur möchten wir unsere Artillerievorlage durchbringen. Und wenn wir das sozusagen Hand in Hand mit dem Pazifismus tun könnten, so wären wir am besten vor allen imperialistischen Mißverständnissen geschützt, die gleich behaupten, daß man den Frieden stört! Ich geb dir also zu, daß wir mit der Drangsal tatsächlich ein wenig unter einer Decke stecken. Aber andrerseits muß man das mit Vorsicht tun; denn andrerseits ist ja ihre Gegenpartei, die nationalistische Strömung, die wir jetzt auch in der Aktion haben, gegen den Pazifismus, aber für militärische Ertüchtigung!«
Der General kam nicht zu Ende und mußte die Fortsetzung mit einem bitteren Gesicht hinunterschlucken, denn sie waren beinahe auf die Höhe gelangt und Dr. Friedenthal wartete auf seine Schar. Der Platz der Engel erwies sich als leicht umgittert, und der Führer durchschritt ihn, ohne ihm Bedeutung zu geben, als ein bloßes Vorspiel. »Eine ›Friedliche Abteilung‹« erläuterte der Arzt.
Es waren nur Frauen darin; sie hatten das Haar offen auf die Schultern fallen, und ihre Gesichter waren abstoßend, mit fetten, verwachsenen, weichen Zügen. Eines dieser Weiber kam sofort zu dem Arzt gelaufen und drängte ihm einen Brief auf. »Es ist immer die gleiche Sache« erläuterte Friedenthal und las vor: »Adolf, Geliebter! Wann kommst du?! Hast du mich vergessen?!« Die etwa sechzigjährige Alte stand mit stumpfem Antlitz daneben und hörte zu. »Du beförderst ihn doch gleich?!« bat sie. »Gewiß!« versprach Dr. Friedenthal, zerriß den Brief noch vor ihren Augen und lächelte der Aufsichtsschwester zu. Clarisse stellte ihn sofort zur Rede: »Wie können Sie das tun?!« sagte sie. »Man muß die Kranken ernst nehmen!«
»Kommen Sie!« erwiderte Friedenthal. »Es lohnt nicht, daß wir hier unsere Zeit verlieren. Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen nachher hunderte solcher Briefe. Sie haben doch bemerkt, daß es die Alte gar nicht berührt hat, als ich den Brief zerriß.«
Clarisse war verdutzt, denn was Friedenthal sagte, war richtig, aber es störte ihre Gedanken. Und ehe sie diese ordnen konnte, wurden sie noch einmal gestört, denn im Augenblick, wo sie den Platz verließen, hob eine andere Alte, die dort gelauert hatte, ihren Kittel hoch und zeigte den vorbeigehenden Herrn über den groben Wollstrümpfen ihre häßlichen Altweiberschenkel bis zum Bauch.
»So eine alte Sau!« sagte halblaut Stumm von Bordwehr und vergaß empört und angeekelt für eine Weile die Politik.
Clarisse aber hatte entdeckt, daß das Bein dem Gesicht ähnlich sah. Es zeigte wahrscheinlich die gleichen Stigmata des fetten körperlichen Verfalls wie dieses, doch in Clarisse entstand daraus zum ersten Mal der Eindruck fremdartiger Zusammenhänge und einer Welt, in der es anders zugehe, als man es mit den gewöhnlichen Begriffen erfassen könne. In diesem Augenblick fiel ihr auch ein, daß sie die Verwandlung der weißen Engel in diese Weiber nicht wahrgenommen, ja obwohl sie mitten hindurchging, nicht einmal unterschieden habe, welche von ihnen Kranke und welche Wärterinnen seien. Sie wandte sich um und blickte zurück, konnte aber, weil sich der Weg um ein Haus gebogen hatte, nichts mehr sehen und stolperte wie ein Kind, das den Kopf abwendet, hinter ihren Begleitern weiter. Aus der Folge von Eindrücken, die damit begannen, bildete sich nun nicht mehr der durchsichtig strömende Bach von Geschehnissen, als den man das Leben hinnimmt, sondern ein schaumiges Wirbeln, aus dem sich bloß gelegentlich glatte Flächen hervorhoben und im Gedächtnis verharrten.
»Gleichfalls eine ›Ruhige Abteilung‹. Diesmal für Männer« erläuterte Dr. Friedenthal, der an der Pforte des Hauses seine Gefolgschaft sammelte, und als sie vor dem ersten Krankenbett haltmachten, stellte er seinen Insassen den Besuchern mit höflich gedämpfter Stimme als »Depressive Dementia paralytica« vor. »Ein alter Syphilitiker. Versündigungs- und nihilistische Wahnideen« flüsterte Siegmund, das Wort erklärend, seiner Schwester zu. Clarisse befand sich einem alten Herrn gegenüber, der allem Anschein nach einst der höheren Gesellschaft angehört hatte. Er saß aufrecht im Bett, mochte Ende der Fünfzig sein und hatte eine sehr weiße Gesichtshaut. Ebenso weißes, reiches Haar umrahmte sein gepflegtes und durchgeistigtes Antlitz, das so unwahrscheinlich edel aussah, wie man es nur in den schlechtesten Romanen beschrieben liest. »Kann man den nicht malen lassen?« fragte Stumm von Bordwehr. »Die leibhaftige Geistesschönheit: das Bild möchte ich deiner Kusine schenken!« erklärte er Ulrich. Dr. Friedenthal lächelte schwermütig dazu und erläuterte: »Der edle Ausdruck kommt vom Nachlassen der Spannung in den Gesichtsmuskeln.« Dann zeigte er den Besuchern mit einer flüchtigen Handbewegung noch die reflektorische Pupillenstarre und führte sie weiter. Die Zeit war knapp bei der Fülle des Materials. Der alte Herr, der schwermütig zu allem genickt hatte, was an seinem Bett gesprochen wurde, antwortete noch leise und bekümmert, als die fünf schon einige Betten weiter beim nächsten Fall haltmachten, den Friedenthal ausersehen hatte.
Diesmal war es einer, der selbst der Kunst oblag, ein fröhlicher dicker Maler, dessen Bett nahe beim hellen Fenster stand; er hatte Papier und viele Bleistifte auf seiner Decke liegen und beschäftigte sich damit den ganzen Tag. Was Clarisse gleich auffiel, war die heitere Ruhelosigkeit dieser Bewegung. »So sollte Walter malen!« dachte sie. Friedenthal, der ihre Anteilnahme gewahrte, entwendete dem Dicken rasch ein Blatt und reichte es Clarisse; der Maler kicherte und gehabte sich wie ein Weibsbild, das man gekniffen hat. Clarisse sah aber zu ihrer Überraschung einen vollendet sicher gezeichneten, durchaus sinnvollen, ja im Sinn sogar banalen Entwurf zu einem großen Gemälde vor sich, mit vielen perspektivisch ineinander verwickelten Figuren und einem Saal, dessen Anblick peinlich genau ausgeführt war, so daß das Ganze derart gesund und professoral wirkte, als käme es aus der Staatsakademie. »Überraschend gekonnt!« rief sie unwillkürlich aus.
Friedenthal aber lächelte geschmeichelt.
»Etsch!« rief ihm trotzdem der Maler zu. »Siehst du, dem Herrn gefällt es! Zeig ihm doch mehr! Überraschend gut hat er gesagt! Zeig ihm nur! Ich weiß schon, du lachst bloß über mich, aber ihm gefällt es!« Er sagte das gemütlich und schien mit dem Arzt, dem er nun auch seine anderen Bilder hinhielt, auf gutem Fuß zu stehn, obwohl dieser seine Kunst nicht würdigte.
»Wir haben heute keine Zeit für dich« erwiderte ihm Friedenthal, und zu Clarisse gewandt, faßte er seine Kritik in die Worte: »Er ist nicht schizophren; leider haben wir im Augenblick keinen andern, das sind oft große, ganz moderne Künstler.«
»Und krank?« zweifelte Clarisse.
»Weshalb nicht?« erwiderte Friedenthal schwermütig.
Clarisse biß die Lippe.
Indessen standen Stumm und Ulrich schon an der Schwelle des nächsten Raumes, und der General sagte: »Wenn ich das seh, tut es mir wirklich leid, daß ich meine Ordonnanz vorhin einen Trottel geschimpft hab; ich will es auch nie wieder tun!« Sie blickten nämlich in ein Zimmer mit schweren Idioten.
Clarisse sah es noch nicht und dachte: »Sogar eine so ehrbare und anerkannte Kunst wie die akademische hat also ihre verleugnete, beraubte, dennoch zum Verwechseln ähnliche Schwester im Irrenhaus?!« Es machte ihr beinahe mehr Eindruck als die Bemerkung Friedenthals, daß er ihr ein andermal expressionistische Künstler zeigen könne. Aber sie nahm sich vor, auch darauf zurückzukommen. Sie hatte den Kopf gesenkt und biß immer noch auf ihre Lippe. Da stimmte etwas nicht. Es erschien ihr offenkundig falsch, so begabte Menschen einzusperren; die Ärzte verstünden ja wohl die Krankheiten, dachte sie, aber wahrscheinlich doch nicht in ihrer ganzen Tragweite die Kunst. Sie hatte das Gefühl, daß da etwas geschehen müsse. Aber es wollte ihr noch nicht klar werden was. Doch verlor sie nicht die Zuversicht, denn der dicke Maler hatte sie gleich als »Herr« angesprochen: das kam ihr als ein gutes Zeichen vor.
Friedenthal betrachtete sie mit Neugierde.
Als sie seinen Blick fühlte, sah sie mit ihrem schmalen Lächeln auf und ging zu ihm, aber ehe sie etwas sagen konnte, löschte ein furchtbarer Eindruck alle Überlegung aus. In ihren Betten hing und saß in dem neuen Zimmer eine Reihe des Grauens. Alles an den Körpern schief, unsauber, verbildet oder gelähmt. Entartete Gebisse. Wackelnde Köpfe. Zu große, zu kleine und ganz verwachsene Köpfe. Schlaff herabhängende Kiefer, aus denen Speichel troff, oder tierisch malmende Bewegungen des Mundes, in dem weder Speise noch Wort war. Meterdicke Bleibarren schienen zwischen diesen Seelen und der Welt zu liegen, und nach dem leisen Lachen und Schwirren in dem andern Zimmer fiel auch ins Ohr ein dumpfes Schweigen, in dem es nur dunkel grunzende und murrende Laute gab. Solche Säle mit Idioten hohen Grades gehören zu den erschütterndsten Eindrücken, die man in der Häßlichkeit des Irrenhauses findet, und Clarisse fühlte sich einfach in ein völliges grauenvolles Schwarz gestürzt, darin nichts mehr zu unterscheiden war.
Der Führer Friedenthal aber sah auch im Dunkeln, und auf verschiedene Betten weisend, erklärte er: »Das ist Idiotie, und das hier ist Kretinismus.«
Stumm von Bordwehr horchte auf: »Ein Kretin und ein Idiot sind nicht dasselbe?!« fragte er.
»Nein, das ist medizinisch etwas Verschiedenes« belehrte ihn der Arzt.
»Interessant« sagte Stumm. »Auf so etwas kommt man im gewöhnlichen Leben gar nicht!«
Clarisse ging von Bett zu Bett. Sie bohrte ihre Augen in die Kranken und strengte sie aufs äußerste an, ohne von diesen Gesichtern, die von ihr nicht Kenntnis nahmen, auch nur das Geringste zu verstehn. Alle Einbildungen erloschen daran. Dr. Friedenthal folgte ihr leise und erklärte: »Amaurotische familiäre Idiotie«. »Tuberöse hypertrophische Sklerose«. »Idiotia thymica«...
Der General, der inzwischen genug von den »Trotteln« gesehen zu haben vermeinte und das gleiche von Ulrich voraussetzte, blickte auf die Uhr und sagte: »Wo sind wir denn eigentlich stehen geblieben? Wir müssen die Zeit ausnutzen!« Und etwas unvermutet fing er an: »Also erinnere dich, bitte: Das Kriegsministerium gewahrt auf seiner einen Seite die Pazifisten und auf der andern die Nationalisten –«
Ulrich, der sich nicht so gelenkig wie er von der Bindung an die Umgebung loslösen konnte, sah ihn ohne Verständnis an.
»Aber ich mach doch keine Witze!« erklärte Stumm. »Das ist Politik, was ich rede! Es muß etwas geschehn. Dabei sind wir doch schon einmal stehen geblieben. Wenn nicht bald etwas geschieht, kommt der Geburtstag vom Kaiser, und wir sind blamiert. Aber was soll geschehn? Diese Frage ist logisch, nicht wahr? Und wenn ich das jetzt etwas grob zusammenfasse, was ich dir alles schon gesagt hab, so verlangen die einen von uns, wir sollen ihnen helfen, alle Menschen zu lieben, und die zweiten, wir sollen ihnen erlauben, die andern zu kujonieren, damit das edlere Blut siegt, oder wie man das nennen will. Beides hat etwas für sich. Und darum solltest du es, kurz gesagt, irgendwie vereinen, damit kein Schaden entsteht!«
»Ich?« verwahrte sich Ulrich, nachdem sein Freund dergestalt seine Bombe platzen ließ, und würde ihn ausgelacht haben, wenn es der Ort gestattet hätte. »Natürlich du!« erwiderte der General fest. »Ich will dir gern beistehn, aber du bist der Sekretär der Aktion und die rechte Hand vom Leinsdorf!«
»Ich werde dir hier eine Unterkunft besorgen!« erklärte Ulrich entschieden.
»Schön!« meinte der General, der aus der Kriegskunst wußte, daß man einem unerwarteten Widerstand am besten ausweiche, ohne sich bestürzt zu zeigen. »Wenn du mir hier einen Platz besorgst, lerne ich vielleicht doch jemand kennen, der die größte Idee von der Welt erfunden hat. Draußen haben sie ohnehin keine Freude mehr an den großen Gedanken.« Er sah wieder nach der Uhr. »Da soll es doch welche geben, die der Papst sind oder das Weltall, erzählt man: von denen haben wir noch keinen einzigen gesehn, und gerade auf die habe ich mich gefreut! Deine Freundin ist furchtbar gründlich« klagte er.
Dr. Friedenthal löste Clarisse vorsichtig von dem Anblick der Oligophrenen los.
Die Hölle ist nicht interessant, sie ist furchtbar. Wenn man sie nicht humanisiert hat – wie Dante, der sie mit Literaten und Prominenten bevölkerte und dadurch die Aufmerksamkeit vom Straftechnischen ablenkte – sondern versucht hat, eine ursprüngliche Vorstellung von ihr zu geben, sind selbst die phantasievollsten Menschen nicht über läppische Qualen und gedankenarme Verrenkungen irdischer Eigenheiten hinausgekommen. Aber gerade der leere Gedanke der unvorstellbaren und darum unabwendbaren unendlichen Strafe und Qual, die Voraussetzung einer für alle Gegenanstrengungen unempfindlichen Veränderung zum Schlechten, hat die Anziehung eines Abgrunds. So sind auch Irrenhäuser. Sie sind Armenhäuser. Sie haben etwas von der Phantasielosigkeit der Hölle. Aber viele Menschen, die in die Ursachen von Geisteskrankheiten keinen Einblick haben, fürchten nebst der Möglichkeit, daß sie ihr Geld verlieren könnten, keine andere so sehr wie die, daß sie eines Tags den Verstand verlieren könnten; und es ist merkwürdig, wie zahlreich diese Menschen sind, die von der Vorstellung geplagt werden, sie könnten sich plötzlich verlieren. Aus der Überschätzung dessen, was sie von sich haben, folgt wahrscheinlich die Überschätzung der Schauer, von denen sich die Gesunden die Häuser der Kranken umgeben denken. Auch Clarisse litt etwas unter einer leichten Enttäuschung, die von einer unbestimmten, mit ihrer Erziehung aufgenommenen Erwartung kam. Das war bei Dr. Friedenthal umgekehrt. Er war diesen Weg gewohnt. Ordnung wie in einer Kaserne oder jeder anderen Massenanstalt, Linderung vordringlicher Schmerzen und Beschwerden, Bewahrung vor vermeidlichen Verschlimmerungen, ein wenig Besserung oder Heilung: das waren die Elemente seines täglichen Tuns. Viel beobachten, viel wissen, aber ohne eine ausreichende Erklärung der Zusammenhänge zu besitzen, war sein geistiges Teil. Auf dem Rundgang durch die Häuser, außer den Arzneien gegen Husten, Schnupfen, Verstopfung und Wunden, ein paar Beruhigungsmittel zu verordnen, seine tägliche Heilarbeit. Er empfand die spukhafte Verruchtheit der Welt, in der er lebte, nur noch dann, wenn durch eine Berührung mit der gewöhnlichen der Gegensatz geweckt wurde; man kann es nicht täglich, aber Besuche sind solche Gelegenheiten, und darum war das, was Clarisse zu sehen bekam, nicht ohne eine Art Gefühl für Spielleitung aufgebaut und setzte sich, nachdem er sie aus ihrer Versunkenheit geweckt hatte, sogleich wieder mit etwas Neuem und gesteigert Dramatischem fort.
Denn kaum da sie den Raum verlassen hatten, schlossen sich ihnen mehrere große Männer mit fleischigen Schultern, freundlichen Feldwebelgesichtern und sauberen Kitteln an. Es geschah so stumm, daß es wie ein Trommelwirbel wirkte. »Jetzt kommt eine unruhige Abteilung« kündigte Friedenthal an, und schon begannen sie sich auch einem Schreien und Schnattern zu nähern, das aus einem ungeheuren Vogelkäfig zu dringen schien. Als sie vor der Türe standen, zeigte diese keine Klinke, aber einer der Wärter öffnete sie mit einem Stecher, und Clarisse schickte sich an, wie sie es bisher getan hatte, als erste einzutreten; aber jäh riß sie Dr. Friedenthal zurück. »Hier heißt es warten!« sagte er, ohne sich zu entschuldigen, bedeutungsvoll und müd. Der Wärter, der die Tür aufschloß, hatte sie nur zu einem schmalen Spalt geöffnet, den sein mächtiger Körper verdeckte, und nachdem er in das Innere zuerst gelauscht, dann gespäht hatte, schob er sich eilig hinein, und ein zweiter Wärter folgte ihm, der auf der andern Seite des Eingangs Stellung bezog. Clarisse begann das Herz zu klopfen. Der General sagte anerkennend: »Vorhut, Nachhut, Flankendeckung!« Und so gedeckt, traten sie ein und wurden von den Wärterriesen von Bett zu Bett gebracht. Was in den Betten saß, flatterte, aufgeregt und schreiend, mit Armen und Augen; es machte den Eindruck, daß jeder in einen Raum hineinschreie, der nur für ihn da sei, und doch schienen alle in einer tobenden Konversation begriffen zu sein, wie fremde, in einen gemeinsamen Käfig gesperrte Vögel, von denen jeder die Sprache eines andern Eilands spricht. Manche saßen frei, und manche waren mit Schlingen an den Bettrand gefesselt, die den Händen nur wenig Spielraum ließen. »Wegen Selbstmordgefahr« erläuterte der Arzt und nannte die Krankheiten: Paralyse, Paranoia, Dementia praecox und andere waren die Rassen, denen diese fremden Vögel angehörten.
Clarisse fühlte sich anfangs von dem verworrenen Eindruck wieder eingeschüchtert und fand keinen Halt. Und da war es auch wie ein freundliches Zeichen, daß ihr schon von ferne einer lebhaft winkte und ihr Worte entgegenschrie, als sie noch durch viele Betten von ihm getrennt war. Er fuhr in dem seinen hin und her, als wollte er sich verzweifelt befreien, um ihr entgegenzueilen, übertrumpfte den Chor mit seinen Anklagen und Zornausbrüchen und zog Clarissens Aufmerksamkeit immer stärker an sich. Je näher sie ihm kam, desto mehr beunruhigte sie der Eindruck, daß er bloß zu ihr zu sprechen schien, während sie in keiner Weise zu verstehen vermochte, was er ihr ausdrücken wolle. Als sie endlich bei ihm waren, erzählte der Oberwärter dem Arzt etwas so leise, daß Clarisse es nicht verstand, und Friedenthal traf irgendeine Anordnung mit sehr ernstem Gesicht. Dann aber machte er sich einen Scherz und sprach den Kranken an. Der Irre erwiderte nicht gleich darauf, aber plötzlich fragte er: »Wer ist der Herr?« und gab durch eine Bewegung zu verstehen, daß er Clarisse meine. Friedenthal wies auf ihren Bruder und antwortete, dieser sei ein Arzt aus Stockholm. »Nein, dieser!« entgegnete der Kranke und beharrte auf Clarisse. Friedenthal lächelte und behauptete, das sei eine Ärztin aus Wien. »Nein. Das ist ein Herr« widersprach der Kranke und schwieg. Clarisse fühlte ihr Herz schlagen. Auch der hielt sie also für einen Mann!
Da sagte der Kranke langsam: »Das ist der siebente Sohn des Kaisers.«
Stumm von Bordwehr stieß Ulrich an.
»Das ist nicht wahr« gab Friedenthal zur Antwort und setzte das Spiel fort, indem er sich an Clarisse mit der Aufforderung wandte: »Sagen Sie ihm doch selbst, daß er sich irrt.«
»Es ist nicht wahr, mein Freund« sprach Clarisse leise, die vor Aufregung kaum ein Wort hervorbringen konnte, den Kranken an.
»Du bist doch der siebente Sohn!« gab er hartnäckig zurück.
»Nein, nein« versicherte Clarisse und lächelte ihm vor Erregung zu, wie in einer Liebesszene mit Lippen, die vor Lampenfieber ganz steif waren.
»Du bist es!!« wiederholte der Kranke und sah sie mit einem Blick an, für den sie keine Bezeichnung wußte. Es fiel ihr ganz und gar nichts ein, was sie noch antworten könnte, sie sah hilflos freundlich dem Irren in die Augen, der sie für einen Prinzen hielt, und lächelte immer weiter. In ihr ging dabei etwas Merkwürdiges vor sich: es bildete sich die Möglichkeit, ihm recht zu geben. Es löste sich unter dem Druck seiner wiederholten Behauptung etwas in ihr auf, sie verlor in irgendetwas die Herrschaft über ihre Gedanken, und neue Zusammenhänge bildeten sich, die ihre Umrisse aus Nebeln hervorstreckten: er war nicht der erste, der wissen wollte, wer sie sei, und sie für einen »Herrn« hielt. Aber während sie ihm noch, in diese sonderbare Verbundenheit verfangen, ins Gesicht blickte, von dessen Alter sie sich ebensowenig Rechenschaft gab wie von den anderen Resten des freien Lebens, die noch darin ausgeprägt waren, ging in dem Gesicht und an dem ganzen Menschen etwas gänzlich Unverständliches vor sich. Es sah aus, als würde ihr Blick plötzlich zu schwer für die Augen, auf denen er ruhte, denn in diesen begann ein Gleiten und Fallen. Aber auch die Lippen gerieten in eine lebhafte Bewegung, und wie dicke Tropfen, die immer dichter zusammenflössen, mischten sich in ein flüchtiges Geschnatter vernehmliche Unzüchtigkeiten. Clarisse war von dieser abgleitenden Verwandlung so bestürzt, als entglitte ihr selbst etwas, und machte unwillkürlich eine Bewegung mit beiden Armen zu dem Unseligen hin; und ehe es noch jemand hinderte, sprang ihr da auch der Kranke entgegen: er warf seine Decke ab, kniete im gleichen Augenblick am Bettende und bearbeitete mit der Hand sein Glied, wie Affen in der Gefangenschaft masturbieren. »Treib keine Schweinereien!« sagte rasch und streng der Arzt, und im gleichen Augenblick packten die Wärter den Mann und die Decken und machten im Nu ein reglos liegenbleibendes Bündel aus beiden. Aber Clarisse war dunkelrot geworden: ihr war so wirr wie in einem Lift, wenn man plötzlich das Gefühl unter den Füßen verliert. Es kam ihr plötzlich vor, daß alle Kranken, an denen sie schon vorbeigekommen war, hinter ihr drein schrien, und die anderen, die sie noch nicht besucht hatte, ihr entgegenschrien. Und der Zufall wollte es, oder die ansteckende Kraft der Erregung, daß auch der Nächste, ein freundlicher Alter, der gutmütige Witzchen zu den Besuchern gemacht hatte, als sie noch nebenan standen, in dem Augenblick, wo Clarisse an ihm vorbeieilte, aufsprang und zu schimpfen begann, mit unflätigen Worten, die einen widerlichen Schaum vor seinem Munde bildeten. Auch ihn faßten die Fäuste der Wärter wie schwere Stempel, die jeden Widerstand zermalmen.
Aber der Zauberkünstler Friedenthal verstand seine Darbietungen noch zu steigern. Von den Begleitern ebenso wie beim Eintritt gesichert, verließen sie den Saal an seinem anderen Ende, und mit einemmal schien das Ohr in sanfte Stille zu tauchen. Sie befanden sich in einem sauberen, mit Linoleum belegten, freundlichen Gang und trafen auf sonntäglich aussehende Menschen und hübsche Kinder, die voll Vertrauen und Höflichkeit den Arzt grüßten. Es waren Besucher, die hier darauf warteten, zu ihren Angehörigen vorgelassen zu werden, und wieder war der Eindruck der gesunden Welt ein sehr befremdlicher; diese sich bescheiden und höflich verhaltenden Menschen in ihren besten Kleidern wirkten im ersten Augenblick wie Puppen oder sehr gut nachgemachte, künstliche Blumen. Friedenthal schritt aber rasch hindurch und kündigte seinen Freunden an, daß er sie nun in eine Versammlung von Mördern und ähnlich schwer verbrecherischen Irren führen wolle. Vorsicht und Mienen der Begleiter, als sie bald danach vor einem neuen Eisentor standen, verhießen denn auch Schlimmes. Sie traten in einen abgeschlossenen Hof, der von einer Galerie umzogen war und einem der modernen Kunstgärten glich, wo es viele Steine und wenig Pflanzen gibt. Wie ein Würfel aus Schweigen stand zunächst die leere Luft darin; erst nach einer Weile entdeckte man Menschen, die stumm an den Wänden saßen. Nahe dem Eingang kauerten idiotische Jungen, rotzig, unsauber und regungslos, als ob sie ein grotesker Bildhauereinfall an den Pfeilern des Tors angebracht hätte. Neben ihnen saß, als erster an der Wand und von den weiteren abgerückt, ein einfacher Mann, noch in seiner dunklen Sonntagskleidung, nur ohne Kragen; er mußte erst vor kurzem eingeliefert worden sein und war in seinem Nirgendhingehören unsagbar rührend. Clarisse stellte sich plötzlich den Schmerz vor, den sie Walter zufügen würde, wenn sie ihn verließe, und weinte beinahe darüber. Zum erstenmal geschah ihr das, aber sie kam rasch darüber hinweg, denn die andern, an denen sie vorbeigeführt wurde, machten bloß jenen Eindruck der schweigenden Gewöhnung, den man in Gefängnissen kennt; sie grüßten scheu und höflich und trugen kleine Bitten vor. Bloß einer von ihnen, ein junger Mensch, wurde aufdringlich und begann sich zu beschweren; Gott allein wußte, aus welcher Vergessenheit er auftauchte. Er verlangte vom Arzt, hinausgelassen zu werden und Auskunft, warum er hier wäre, und als dieser ausweichend entgegnete, daß nicht er, sondern nur der Direktor darüber entscheide, ließ der Frager nicht nach; seine Bitten begannen sich wie eine immer rascher ablaufende Kette zu wiederholen, und allmählich kam der Ton des Bedrängens in seine Stimme, steigerte sich zur Drohung und schließlich zur tierhaft-wissenlosen Gefährdung. Als er so weit gekommen war, drückten ihn die Riesen auf die Bank nieder, und er kroch stumm wie ein Hund in sein Schweigen zurück, ohne Antwort erhalten zu haben. Clarisse kannte das nun schon, und es ging bloß in die allgemeine Aufregung ein, die sie fühlte.
Sie hatte auch zu anderem keine Zeit, denn am Ende des Hofes war eine zweite Panzertür, und an diese pochten nun die Wärter. Das war etwas Neues, da sie bisher die Türen bloß mit Vorsicht, aber ohne Ankündigung geöffnet hatten. An dieses Tor schlugen sie dagegen viermal mit der Faust und lauschten auf die herausdringende Unruhe. »Auf dieses Zeichen müssen sich alle, die drinnen sind, an den Wänden aufstellen« erläuterte Friedenthal »oder auf die Bänke setzen, die an den Wänden entlanglaufen.« Und wirklich, als sich die Tür langsam, Grad für Grad, drehte, zeigte sich, daß alle, die vorher teils stumm, teils lärmend durcheinandergekreist waren, wie wohlgedrillte Sträflinge gehorcht hatten. Und trotzdem wandten die Wärter beim Eintritt noch solche Vorsicht an, daß Clarisse plötzlich Dr. Friedenthal am Ärmel faßte und erregt fragte, ob Moosbrugger dabei sei. Friedenthal schüttelte stumm den Kopf. Er hatte keine Zeit. Er schärfte den Besuchern eilig ein, daß sie mindestens zwei Schritte Abstand von jedem Kranken zu halten hätten. Die Verantwortung für das Unternehmen schien ihn doch etwas zu bedrücken. Sie waren sieben gegen dreißig; in einem weltfernen, ummauerten, nur von Irren bewohnten Hof, von denen fast alle schon einen Mord begangen hatten. Menschen, die gewohnt sind, eine Wehr zu tragen, fühlen sich ohne das unsicherer als andere: es trifft darum auch den General, der seinen Säbel im Wartezimmer zurückgelassen hatte, kein Vorwurf, daß er den Arzt fragte: »Tragen Sie eigentlich eine Waffe bei sich?« »Aufmerksamkeit und Erfahrung!« erwiderte Friedenthal, dem diese schmeichelhafte Frage willkommen war. »Es kommt alles darauf an, jede Auflehnung schon im Keim zu ersticken.«
Und wirklich, sobald einer auch nur die kleinste Bewegung aus der Reihe zu machen versuchte, stürzten sich schon die Wärter auf ihn und drückten ihn so schnell auf seinen Platz nieder, daß diese Überfälle als die einzigen Gewalttaten erschienen, die sich ereigneten. Clarisse war nicht einverstanden mit ihnen. »Was die Ärzte vielleicht nicht verstehn,« sagte sie sich »ist, daß diese Menschen doch, obwohl sie hier den ganzen Tag ohne Aufsicht zusammengesperrt sind, einander nichts tun; und nur uns, die wir aus der ihnen fremden Welt kommen, sind sie gefährlich!« Und sie wollte einen ansprechen; sie stellte sich mit einemmal vor, ihr müßte es gelingen, sich mit ihm in der rechten Weise zu verständigen. Gleich bei der Tür stand einer in der Ecke, es war ein kräftiger mittelgroßer Mann mit einem braunen Vollbart und stechenden Augen; er lehnte mit verschränkten Armen an der Wand, schwieg und sah dem Treiben der Besucher böse zu. Clarisse trat ihn an; aber im gleichen Augenblick legte Dr. Friedenthal seine Hand auf ihren Arm und hielt sie zurück. »Nicht diesen« sagte er halblaut. Er suchte Clarisse einen anderen Mörder aus und sprach ihn an. Das war ein kleiner Untersetzter mit einem kahl geschorenen spitzen Sträflingsschädel, den der Arzt wohl als umgänglich kannte, denn der Angesprochene stand sofort stramm vor ihm und zeigte, dienstwillig antwortend, zwei Zahnreihen, die in einer bedenklichen Weise an zwei Reihen Grabsteine erinnerten.
»Fragen Sie ihn doch einmal, warum er hier ist« flüsterte Dr. Friedenthal Clarissens Bruder zu, und Siegmund fragte den breitschulterigen Spitzkopf: »Warum bist du hier?«
»Das weißt du sehr gut!« war die knappe Antwort.
»Ich weiß es nicht« versetzte Siegmund, der nicht gleich locker lassen wollte, ziemlich albern. »Also sag schon, warum bist du hier?!«
»Das weißt du sehr gut!!« wiederholte sich die Antwort mit verstärktem Nachdruck.
»Warum bist du unhöflich gegen mich?« fragte Siegmund. »Ich weiß es wirklich nicht!«
»Dieses Lügen!« dachte Clarisse, und sie freute sich darüber, daß der Kranke einfach erwiderte: »Weil ich will!! Ich kann tun, was ich will!!!« wiederholte er und fletschte die Zähne.
»Aber man soll doch nicht ohne Grund unhöflich sein!« wiederholte der unselige Siegmund, dem eigentlich auch nicht mehr einfiel als dem Irren.
Clarisse war wütend auf ihn, der die dumme Rolle eines Menschen spielte, der in einem Tierpark ein gefangenes Tier reizt.
»Das geht dich nichts an! Ich tue, was ich will, verstehst du?! Was ich will!!« ranzte der Geisteskranke wie ein Unteroffizier und lachte mit irgend etwas in seinem Gesicht, aber weder mit Mund noch Augen, die beide vielmehr voll unheimlichen Zorns waren.
Selbst Ulrich dachte: »Ich möchte mit dem Kerl jetzt nicht allein sein.« Siegmund hatte es schwer, auf seinem Platz auszuharren, da der Irre nahe an ihn herangetreten war, und Clarisse wünschte, daß dieser ihren Bruder an der Kehle packen und ins Gesicht beißen möge. Friedenthal ließ mit Befriedigung den Auftritt sich entwickeln, denn einem ärztlichen Kollegen durfte er doch wohl etwas zumuten, und er hatte seinen Genuß an dessen Verlegenheit. Er ließ es meisterlich bis auf den höchsten Punkt kommen und setzte erst, als der Kollege kein Wort mehr hervorbrachte, dazu an, das Zeichen zum Abbruch zu geben. Aber da war wieder dieser Wunsch in Clarisse, sich einzumengen! Irgendwie war er mit dem Trommeln der Antworten immer heftiger geworden, sie konnte plötzlich nicht mehr an sich halten, trat dem Kranken entgegen und sagte: »Ich komme von Wien!« Das war nun sinnlos wie ein beliebiger Laut, den man einer Trompete entlockt. Sie wußte weder, was sie damit wolle, noch wie es ihr eingefallen sei, noch hatte sie sich gefragt, ob der Mann wisse, in welcher Stadt er sich befinde, und wenn er es wußte, so war ihre Bemerkung wohl erst recht sinnlos. Aber sie fühlte eine große Zuversicht dabei. Und wirklich geschehen zuweilen noch Wunder, wenn auch mit Vorliebe in Irrenhäusern: als sie das sagte und in Erregung flammend vor dem Mörder stand, ging plötzlich ein Glanz über ihn; seine Steinbrecherzähne zogen sich unter die Lippen zurück, und über den stechenden Blick breitete sich Wohlwollen. »Oh, das goldene Wien! Eine schöne Stadt!« sagte er mit dem Ehrgeiz des früheren Mittelständlers, der seine Phrasen kennt, wie sie sich gehören.
»Ich gratuliere Ihnen!« sagte Dr. Friedenthal lachend.
Aber für Clarisse war dieser Auftritt sehr wichtig geworden.
»Und nun wollen wir zu Moosbrugger gehn!« sagte Friedenthal.
Es kam jedoch nicht mehr dazu. Sie zogen vorsichtig aus den beiden Höfen wieder hinaus und strebten auf der Höhe des Parks einem anscheinend entlegenen Pavillon zu, als von irgendwo ein Wärter auf sie zugelaufen kam, der den Eindruck machte, schon lange nach ihnen gesucht zu haben. Er trat an Friedenthal heran und überbrachte ihm flüsternden Tons eine längere Meldung, die nach der Miene des Arztes, der sie zuweilen mit Fragen unterbrach, wichtig und unangenehm sein mußte. Und Friedenthal trat mit einer ernsten und bedauernden Gebärde zu den Wartenden zurück, ihnen mitzuteilen, daß ihn ein Zwischenfall in eine der Abteilungen rufe, dessen Ende nicht abzusehen sei, so daß er leider die Führung abbrechen müsse. Er wandte sich damit in erster Linie an die Respektsperson in der unter dem ärztlichen Kittel steckenden Generalsuniform; aber Stumm von Bordwehr erklärte dankbar, daß er von der hervorragenden Disziplin und Ordnung der Anstalt ohnehin schon genug gesehen habe und daß es nach dem Erlebten auf einen Mörder mehr schließlich nicht ankäme. Clarisse dagegen zeigte ein so enttäuschtes und bestürztes Gesicht, daß Friedenthal den Vorschlag hinzufügte, den Besuch bei Moosbrugger und einiges andere nachzuholen und Siegmund telephonisch zu verständigen, sobald sich ein Tag dafür bestimmen ließe. »Sehr scharmant von Ihnen,« dankte der General für alle »nur weiß ich für meine Person wirklich nicht, ob mir meine anderen Aufgaben gestatten werden, dabei zu sein.«
Mit diesem Vorbehalt blieb es bei der Verabredung, und Friedenthal schlug einen Weg ein, der ihn alsbald jenseits der Höhe entschwinden ließ, während die anderen, von dem Wärter begleitet, den der Arzt bei ihnen zurückgelassen hatte, dem Ausgang zustrebten. Sie verließen den Weg und gingen auf der kürzesten Linie über den schönen von Buchen und Platanen bestandenen Hang hinunter. Der General hatte sich seines Kittels entledigt und trug ihn fröhlich über dem Arm wie einen Staubmantel bei einem Ausflug, aber ein Gespräch wollte nicht mehr zustandekommen. Ulrich zeigte keine Neigung, sich nochmals auf den bevorstehenden Abend vorbereiten zu lassen, und Stumm selbst war schon zu sehr mit dem Nachhausekommen beschäftigt; bloß an Clarisse, zu deren Linken er galant dahinging, fühlte er sich verpflichtet einige unterhaltende Worte zu richten. Aber Clarisse war geistesabwesend und schweigsam. »Ob sie sich am Ende noch wegen dem Schweinigel geniert?« fragte er sich und hatte das Bedürfnis, irgendwie aufzuklären, daß es ihm unter jenen besonderen Umständen nicht möglich gewesen sei, ritterlich für sie einzutreten; aber anderseits war das doch auch wieder so, daß man am besten nicht davon sprach. So verlief der Rückweg schweigend und beschattet.
Erst als Stumm von Bordwehr seinen Wagen bestieg und es Ulrich überantwortet hatte, für Clarisse und deren Bruder zu sorgen, kehrte seine gute Laune wieder, und mit ihr stellte sich auch eine Idee ein, von der die beklemmenden Erlebnisse eine gewisse Ordnung empfingen. Er hatte aus dem großen Lederetui, das er bei sich führte, eine Zigarette geholt und blies, schon in den Polstern ruhend, die ersten blauen Wölkchen in die sonnige Luft. Behaglich sagte er: »Schrecklich muß so eine Geisteskrankheit sein! In dem Moment fällt mir erst auf, daß ich während der ganzen Zeit, die wir da drin waren, nicht einen einzigen rauchen gesehn hab! Man weiß wirklich nicht, was man alles voraushat, solange man gesund ist!«