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2

Vertrauen

 

Sie hatten sich nicht zum Willkommen geküßt, sondern standen bloß freundlich voreinander, wechselten dann die Stellung, und Ulrich konnte seine Schwester betrachten. Sie paßten in der Größe zusammen. Agathes Haar war heller als seines, aber von der gleichen duftigen Trockenheit der Haut, die er als das einzige an seinem eigenen Körper liebte. Ihre Brust ging nicht in Brüsten verloren, sondern war schlank und kräftig, und die Glieder seiner Schwester schienen die lang-schmale Spindelform zu haben, die natürliche Leistungsfähigkeit mit Schönheit vereint.

»Ich hoffe, deine Migräne ist vorüber, man merkt nichts mehr von ihr« sagte Ulrich.

»Ich hatte gar nicht Migräne, ich habe dir das nur der Einfachheit halber sagen lassen,« erklärte sie »weil ich dir doch durch den Diener nicht gut eine verwickeltere Mitteilung zukommen lassen konnte: ich war einfach faul. Ich habe geschlafen. Ich habe mir hier angewöhnt, in jeder freien Minute zu schlafen. Ich bin überhaupt faul; ich glaube, aus Verzweiflung. Und als ich die Nachricht empfing, daß du kämst, sagte ich mir: Hoffentlich werde ich jetzt zum letzten Mal schläfrig sein, und da gab ich mich einer Art Genesungsschlaf hin: Für den Gebrauch des Dieners habe ich alles das nach sorgfältiger Überlegung Migräne genannt.«

»Du treibst gar keinen Sport?« fragte Ulrich.

»Ein wenig Tennis. Aber ich verabscheue Sport.«

Er betrachtete, während sie sprach, noch einmal ihr Gesicht. Es kam ihm nicht sehr ähnlich dem seinen vor; aber vielleicht irrte er, es mochte ihm ähnlich sein wie ein Pastell einem Holzschnitt, so daß man über der Verschiedenheit des Materials das Übereinstimmende der Linien- und Flächenführung übersah. Dieses Gesicht beunruhigte ihn durch irgend etwas. Nach einer Weile kam er darauf, daß er einfach nicht erkennen konnte, was es ausdrücke. Es fehlte darin das, was die gewöhnlichen Schlüsse auf die Person erlaubt. Es war ein inhaltsvolles Gesicht, aber nirgends war darin etwas unterstrichen und in der geläufigen Weise zu Charakterzügen zusammengefaßt.

»Wie kommt es, daß du dich auch so angezogen hast?« fragte Ulrich.

»Ich habe es mir nicht klar gemacht« erwiderte Agathe. »Ich dachte, daß es nett sei.«

»Es ist sehr nett!« meinte Ulrich lachend. »Aber geradezu ein Taschenspielerstück des Zufalls! Und Vaters Tod hat auch dich, wie ich sehe, nicht sehr erschüttert?«

Agathe hob langsam ihren Körper auf die Fußspitzen und ließ ihn ebenso wieder sinken.

»Ist dein Mann auch schon hier?« fragte ihr Bruder, um etwas zu sagen.

»Professor Hagauer kommt erst zum Begräbnis.« – Sie schien sich der Gelegenheit zu erfreuen, den Namen so förmlich aussprechen und von sich wegstellen zu können wie etwas Fremdes.

Ulrich wußte nicht, was er darauf erwidern sollte. »Ja, das habe ich gehört« sagte er.

Sie sahen einander wieder an, und dann gingen sie, wie es die sittliche Gewohnheit nahelegt, in das kleine Zimmer, wo sich der Tote befand.

Den ganzen Tag schon war dieses Zimmer künstlich verfinstert gewesen; es war satt von Schwarz. Blumen und brennende Kerzen leuchteten und rochen darin. Die zwei Pierrots standen hochaufgerichtet vor dem Toten und schienen ihm zuzusehn.

»Ich werde nicht mehr zu Hagauer zurückkehren!« sagte Agathe, damit es gesagt sei. Man konnte fast auf den Gedanken kommen, daß es auch der Tote hören solle.

Der lag auf seinem Sockel, wie er es angeordnet hatte: im Frack, das Bahrtuch bis zur halben Höhe der Brust, darüber das steife Hemd hervorkam, die Hände gefaltet ohne Kruzifix, die Orden angelegt. Kleine harte Augenbögen, eingefallene Wangen und Lippen. In die schauerliche, augenlose Totenhaut eingenäht, die noch ein Teil des Wesens ist und schon fremd; der Reisesack des Lebens. Ulrich fühlte sich unwillkürlich an der Wurzel des Daseins erschüttert, wo kein Gefühl und kein Gedanke ist; aber nirgends sonst. Wenn er es hätte aussprechen müssen, hätte er nur zu sagen vermocht, daß ein lästiges Verhältnis ohne Liebe geendet habe. So, wie eine schlechte Ehe die Menschen schlecht macht, die sich nicht von ihr befreien können, tut es jedes für die Ewigkeit berechnete, schwer aufliegende Band, wenn das Zeitliche unter ihm wegschrumpft.

»Ich hätte es gerne gehabt, daß du schon früher kämst,« berichtete Agathe weiter »aber Papa hat es nicht erlaubt. Er ordnete alles, was seinen Tod anging, selbst. Ich glaube, es wäre ihm peinlich gewesen, unter deinen Augen zu sterben. Ich lebe schon zwei Wochen hier; es war entsetzlich.«

»Hat er wenigstens dich geliebt?« fragte Ulrich.

»Er hat alles, was er geordnet wissen wollte, seinem alten Diener aufgetragen, und von da an machte er den Eindruck eines Menschen, der nichts zu tun hat und sich bestimmungslos fühlt. Aber ungefähr alle Viertelstunden hat er den Kopf gehoben und nachgesehn, ob ich im Zimmer sei. Das war in den ersten Tagen. In den folgenden sind halbe Stunden und später ganze daraus geworden, und während des schrecklichen letzten Tags ist es überhaupt nur noch zwei- oder dreimal geschehn. Und in allen Tagen hat er kein Wort zu mir gesprochen, außer wenn ich ihn etwas fragte.«

Ulrich dachte, während sie das erzählte: »Sie ist eigentlich hart. Sie konnte schon als Kind in einer stillen Weise ungemein eigensinnig sein. Trotzdem sieht sie nachgiebig aus?« Und plötzlich erinnerte er sich an eine Lawine. Er hatte einmal in einem Wald, der von einer Lawine zerrissen wurde, beinahe das Leben verloren. Sie bestand aus einer weichen Wolke von Schneestaub, die, von einer unaufhaltsamen Gewalt erfaßt, hart wie ein stürzender Berg wurde.

»Hast du die Depesche an mich aufgegeben?« fragte er.

»Natürlich der alte Franz! Das war alles schon geordnet. Er hat sich auch nicht von mir pflegen lassen. Er hat mich bestimmt nie geliebt, und ich weiß nicht, warum er mich herkommen ließ. Ich habe mich schlecht gefühlt und auf meinem Zimmer eingesperrt, sooft ich konnte. Und in einer solchen Stunde ist er gestorben.«

»Wahrscheinlich hat er dir damit beweisen wollen, daß du einen Fehler begangen hast. Komm!« sagte Ulrich bitter und zog sie hinaus. »Aber vielleicht hat er wollen, daß du ihm die Stirn streichelst? Oder neben seinem Lager niederkniest? Wenn schon aus keinem anderen Grund, als weil er immer gelesen hatte, daß es sich beim letzten Abschied von einem Vater so gehört. Und hat es nicht über die Lippen gebracht, dich darum zu bitten?!«

»Vielleicht« sagte Agathe.

Sie waren noch einmal stehen geblieben und sahen ihn an.

»Eigentlich ist alles das entsetzlich!« sagte Agathe.

»Ja« meinte Ulrich. »Und man weiß so wenig davon.«

Als sie den Raum verließen, blieb Agathe noch einmal stehn und sprach Ulrich an: »Ich überfalle dich mit etwas, woran dir natürlich nichts gelegen sein kann: aber ich habe mir gerade während Vaters Krankheit vorgenommen, daß ich unter keinen Umständen zu meinem Mann zurückkehre!«

Ihren Bruder machte ihre Hartnäckigkeit unwillkürlich lächeln, denn Agathe hatte eine senkrechte Falte zwischen den Augen und sprach heftig; sie schien zu fürchten, daß er sich nicht auf ihre Seite stellen werde, und erinnerte an eine Katze, die große Angst hat und darum tapfer zum Angriff übergeht.

»Ist er einverstanden?« fragte Ulrich.

»Er weiß noch von nichts« sagte Agathe. »Aber er wird nicht einverstanden sein!«

Der Bruder sah seine Schwester fragend an. Aber sie schüttelte heftig den Kopf. »O nein, was du denkst, ist es nicht: Niemand dritter ist im Spiel!« erwiderte sie.

Damit war dieses Gespräch vorläufig zu Ende. Agathe entschuldigte sich dafür, daß sie auf Ulrichs Hunger und Müdigkeit nicht mehr Rücksicht genommen habe, führte ihn in ein Zimmer, wo der Tee angerichtet war, und da etwas fehlte, ging sie selbst nach dem Rechten zu sehn. Dieses Alleinsein benutzte Ulrich, sich ihren Gatten zu vergegenwärtigen, so gut er es vermochte, um sie besser zu verstehn. Der war ein mittelgroßer Mann mit eingezogenem Kreuz, rund in derb geschneiderten Hosen steckenden Beinen, etwas wulstigen Lippen unter einem borstigen Schnurrbart und einer Liebhaberei für großgemusterte Krawatten, die wohl anzeigen sollte, daß er kein gewöhnlicher, sondern ein zukunftswilliger Schulmeister sei. Ulrich fühlte wieder sein altes Mißtrauen gegen Agathes Wahl erwachen, aber daß dieser Mann geheime Laster verbergen sollte, war ganz auszuschließen, wenn man sich an das offene Leuchten erinnerte, das von Stirn und Augen Gottlieb Hagauers glänzte. »Das ist doch einfach der aufgeklärte tüchtige Mensch, der Brave, der die Menschheit auf seinem Felde fördert, ohne sich in Dinge zu mischen, die ihm ferne liegen« stellte Ulrich fest, wobei er sich auch an die Schriften Hagauers wieder erinnerte, und versank in nicht ganz angenehme Gedanken.

Man kann solche Menschen schon ursprünglich in ihrer Schülerzeit kennzeichnen. Sie lernen weniger – wie man es, die Folge mit der Ursache verwechselnd, benennt – gewissenhaft als ordentlich und praktisch. Sie legen sich jede Aufgabe vorerst zurecht, wie man sich abends die Kleidung des nächsten Tags bis auf die Knöpfe zurechtlegen muß, wenn man morgens rasch und ohne Fehlgriff fertig werden will; es gibt keinen Gedankengang, den sie nicht mittels fünf bis zehn solcher vorbereiteten Knöpfe fest in ihr Verständnis heften könnten, und man muß einräumen, daß dieses sich danach sehen lassen kann und der Untersuchung standhält. Sie werden dadurch Vorzugsschüler, ohne ihren Kameraden moralisch unangenehm zu sein, und Menschen, die wie Ulrich von ihrem Wesen bald zu einem leichten Übermaß, bald zu einem ebenso geringfügigen Untermaß verleitet werden, bleiben auf eine Weise, die so leise schleicht wie das Schicksal, hinter ihnen zurück, auch wenn sie viel begabter sind. Er bemerkte, daß er vor dieser Vorzugsart Menschen eigentlich eine geheime Scheu habe, denn ihre gedankliche Genauigkeit ließ seine eigene Schwärmerei für Genauigkeit ein wenig windig erscheinen. »Sie haben nicht die Spur von Seele« dachte er »und sind gutmütige Menschen; nach dem sechzehnten Jahr, wenn sich die jungen Leute für geistige Fragen erhitzen, bleiben sie scheinbar hinter den anderen ein wenig zurück und haben nicht recht die Fähigkeit, neue Gedanken und Gefühle zu verstehn, aber sie arbeiten auch da mit ihren zehn Knöpfen, und es kommt der Tag, wo sie sich darüber ausweisen können, daß sie immer alles verstanden haben, ›freilich ohne alle unhaltbaren Extreme‹, und schließlich sind sie es noch, die den neuen Ideen Eingang ins Leben verschaffen, wenn diese für andere längst verklungene Jugend geworden sind oder einsame Übertreibung!« So konnte sich Ulrich, als seine Schwester wieder eintrat, zwar noch immer nicht vorstellen, was ihr eigentlich begegnet sein mochte, aber er fühlte, daß ein Kampf gegen ihren Mann, und sei es selbst ein ungerechter, etwas wäre, das eine ganz nichtswürdige Neigung besäße, ihm Vergnügen zu bereiten.

Agathe schien es für aussichtslos zu halten, ihren Entschluß vernünftig zu erklären. Ihre Ehe befand sich, was man von einem Charakter wie Hagauer auch nicht anders erwarten durfte, in vollkommenster äußerer Ordnung. Kein Streit, kaum Meinungsverschiedenheiten; schon deshalb nicht, weil Agathe, wie sie erzählte, ihre eigene Meinung in keiner Frage ihm anvertraute. Natürlich keine Exzesse, nicht Trunk, noch Spiel. Nicht einmal Junggesellengewohnheiten. Gerechte Verteilung der Einkommen. Geordnete Wirtschaft. Ruhiger Ablauf von geselligem Beisammensein zu vielen und ungeselligem zu zweit. »Wenn du ihn also einfach grundlos verläßt,« sagte Ulrich »wird die Ehe auf dein Verschulden geschieden werden; vorausgesetzt, daß er klagt.«

»Er soll klagen!« verlangte Agathe.

»Vielleicht wäre es gut, ihm einen kleinen Vermögensvorteil einzuräumen, wenn er in eine einvernehmliche Lösung willigt?«

»Ich habe nur das mit mir genommen,« erwiderte sie »was man für eine dreiwöchige Reise braucht, und außerdem ein paar kindische Dinge und Erinnerungen aus der Zeit vor Hagauer. Alles andere soll er zurückbehalten, ich mag es nicht. Aber er soll nicht den kleinsten Vorteil in Zukunft von mir haben!«

Diese Sätze rief sie wieder überraschend heftig aus. Man konnte es vielleicht so verstehen, daß Agathe sich dafür rächen wolle, diesem Mann in früherer Zeit zuviel Vorteile eingeräumt zu haben. Ulrichs Kampflust, sein Sportsinn, seine Erfindungsgabe im Überwinden von Schwierigkeiten wurden nun geweckt, obgleich er das ungern sah; denn es war wie die Wirkung eines Erregungsmittels, das die äußeren Affekte in Bewegung bringt, während die inneren doch noch ganz unberührt blieben. Er lenkte das Gespräch ab und suchte zögernd einen Überblick. »Ich habe einiges von ihm gelesen und gehört« sagte er; »soviel ich weiß, gilt er im Gebiet des Unterrichts und der Erziehung sogar als ein kommender Mann!«

»Ja, das tut er« erwiderte Agathe.

»Soweit ich seine Schriften kenne, ist er nicht nur ein in allen Sätteln gerechter Schulmeister, sondern ist auch frühzeitig für eine Reform unserer höheren Lehranstalten eingetreten. Ich erinnere mich, einmal ein Buch von ihm gelesen zu haben, worin einerseits von dem unersetzlichen Wert des historisch-humanistischen Unterrichts für die sittliche Bildung die Rede war und ebenso andererseits von dem unersetzlichen Wert naturwissenschaftlich-mathematischen Unterrichts für die geistige Bildung und drittens von dem unersetzlichen Wert, den das geballte Lebensgefühl des Sports und der militärischen Erziehung für die Bildung zur Tat hat. Stimmt das?«

»Das wird wohl stimmen« meinte Agathe; »aber hast du beobachtet, wie er zitiert?«

»Wie er zitiert? Warte: mir ist dunkel, daß mir wirklich etwas aufgefallen ist. Er zitiert sehr viel. Er zitiert die alten Meister. Er – natürlich zitiert er auch die Gegenwärtigen, und jetzt weiß ich es: er zitiert in einer für einen Schulmeister geradezu revolutionären Weise nicht nur die Schulgrößen, sondern auch die Flugzeugerbauer, Politiker und Künstler des Tags . . . Aber das ist schließlich doch nur das, was ich schon vorhin gesagt habe . . .?« endete er mit dem kleinlauten Abschlußgefühl, womit eine Erinnerung, die ihr Geleise verfehlt hat, auf den Prellbock auffährt.

»Er zitiert so,« ergänzte Agathe »daß er beispielsweise in der Musik bedenkenlos bis zu Richard Strauß oder in der Malerei bis zu Picasso gehen wird; niemals aber wird er, und sei es auch nur als das Beispiel von etwas Falschem, einen Namen nennen, der sich nicht schon ein gewisses Hausrecht in den Zeitungen zumindest dadurch erworben hat, daß sie sich tadelnd mit ihm beschäftigen!«

So war es. Das hatte Ulrich in seiner Erinnerung gesucht. Er blickte auf. Agathens Antwort erfreute ihn durch den Geschmack und die Beobachtung, die sich in ihr aussprachen. »So ist er mit der Zeit ein Führer geworden, indem er als einer der ersten hinter ihr drein ging« ergänzte er lachend. »Alle, die noch später kommen, sehen ihn schon vor sich! Aber liebst du denn unsere Ersten?«

»Ich weiß nicht. Jedenfalls zitiere ich nicht.«

»Immerhin, laß uns bescheiden sein« meinte Ulrich. »Der Name deines Gatten bedeutet ein Programm, das heute schon vielen als das Höchste gilt. Sein Wirken stellt einen soliden kleinen Fortschritt dar. Sein äußerer Aufstieg kann nicht mehr lange säumen. Aus ihm wird über kurz oder lang mindestens ein Universitätsprofessor werden, obgleich er sich mit seinem Brotberuf als Mittelschullehrer geschleppt hat; und ich, siehst du, der ich gar nichts anderes zu tun hatte, als was auf meinem geraden Weg lag, bin heute so weit, daß es wahrscheinlich nicht einmal zur Dozentur bei mir kommt: Das ist schon etwas!«

Agathe war enttäuscht, und wahrscheinlich war das die Ursache davon, daß ihr Gesicht den porzellanenen und nichtssagenden Ausdruck einer Dame annahm, während sie liebenswürdig erwiderte: »Ich weiß nicht, vielleicht hast du auf Hagauer Rücksicht zu nehmen?«

»Wann soll er eintreffen?« fragte Ulrich.

»Erst zum Begräbnis; mehr Zeit nimmt er sich nicht. Aber keinesfalls soll er hier im Haus wohnen, das gestatte ich nicht!«

»Wie du willst!« entschied sich Ulrich unerwartet. »Ich werde ihn abholen und vor einem Hotel absetzen. Und dort werde ich ihm also, wenn du es wünschest, sagen: ›Das Zimmer für Sie ist hier gesattelt!‹«

Agathe war überrascht und plötzlich begeistert. »Das wird ihn furchtbar ärgern, weil es Geld kostet, und er erwartet sicher, bei uns wohnen zu können!« Ihr Gesicht hatte sich augenblicklich geändert und etwas kindlich Wildes zurückgewonnen wie bei einem Bubenstück.

»Wie ist denn alles geregelt?« fragte ihr Bruder. »Gehört dieses Haus dir, mir oder uns beiden? Ist ein Testament da?«

»Papa hat mir ein großes Paket übergeben lassen, worin alles stehen soll, was wir wissen müssen.« – Sie gingen in das Arbeitszimmer, das zur anderen Seite des Toten lag.

Sie glitten wieder durch Kerzenglanz, Blumenduft, durch den Kreis dieser zwei Augen, die nichts mehr sahen. In dem flackernden Halbdunkel war Agathe für eine Sekunde nur ein schimmernder Nebel von Gold, Grau und Rosa. Das Testament fand sich vor, aber sie kehrten mit den Papieren zu ihrem Teetisch zurück, wo sie das Schriftpaket dann zu öffnen vergaßen.

Denn als sie sich niederließen, teilte Agathe ihrem Bruder mit, daß sie so gut wie getrennt von ihrem Mann lebe, wenn auch unter dem gleichen Dach; sie sagte nicht, wie lange es schon so sei.

Es machte zunächst einen schlechten Eindruck auf Ulrich. Wenn verheiratete Frauen glauben, daß ein Mann ihr Geliebter werden könnte, pflegen viele von ihnen ihm dieses Märchen anzuvertraun; und obgleich seine Schwester ihre Mitteilung verlegen, ja eigentlich verstockt vorgebracht hatte, mit einem ungeschickten Entschluß, irgend einen Anstoß zu geben, was man deutlich hindurchfühlte, verdroß es ihn, daß ihr nichts Besseres ihm aufzubinden eingefallen sei, und er hielt es für eine Übertreibung. »Ich habe überhaupt nie begriffen, wie du mit einem solchen Mann hast leben können!« entgegnete er offen.

Agathe meinte, daß der Vater es gewollt habe; und was sie dagegen hätte tun sollen, fragte sie.

»Aber du warst doch damals schon Witwe und keine unmündige Jungfrau!«

»Gerade darum. Ich war zu Papa zurückgekehrt; allgemein sagte man damals, ich sei noch zu jung, um schon allein zu leben, denn wenn ich auch Witwe war, so war ich doch erst neunzehn Jahre alt; und dann habe ich es eben hier nicht ausgehalten.«

»Aber warum hast du dir nicht einen anderen Mann gesucht? Oder studiert, und auf diese Weise ein selbständiges Leben begonnen?« fragte Ulrich rücksichtslos.

Agathe schüttelte bloß den Kopf. Erst nach einer kleinen Pause antwortete sie: »Ich habe dir schon gesagt, daß ich faul bin.«

Ulrich fühlte, daß es keine Antwort war. »Du hast also einen besonderen Grund gehabt, Hagauer zu heiraten!?«

»Ja.«

»Du hast einen anderen geliebt, den du nicht bekommen konntest?«

Agathe zögerte. »Ich habe meinen verstorbenen Mann geliebt.«

Ulrich bedauerte, daß er das Wort Liebe so gewöhnlich gebraucht hatte, als hielte er die Wichtigkeit der gesellschaftlichen Einrichtung, die es bezeichnet, für unverbrüchlich. »Wenn man Trost spenden will, schöpft man doch sofort eine Bettelsuppe!« dachte er. Trotzdem fühlte er sich versucht, in der gleichen Weise weiterzureden. »Und dann hast du bemerkt, was dir widerfahren ist, und hast Hagauer Schwierigkeiten bereitet« meinte er.

»Ja« bestätigte Agathe. »Aber nicht gleich; – erst spät« fügte sie hinzu. »Sehr spät sogar.«

Hier gerieten sie ein klein wenig in Streit.

Es war zu sehen, daß diese Geständnisse Agathe Überwindung kosteten, obgleich sie sie aus freien Stücken darbrachte und offenbar, wie es ihrem Alter entsprach, in der Gestaltung des Geschlechtslebens einen wichtigen Gesprächsstoff für jedermann sah. Sie schien es gleich beim ersten Mal auf Verständnis oder Unverständnis ankommen lassen zu wollen, suchte Vertrauen und war nicht ohne Freimut und Leidenschaft entschlossen, sich den Bruder zu erobern. Aber Ulrich, noch immer moralisch in Geberlaune, vermochte nicht, ihr sofort entgegenzukommen. Er war trotz der Kraft seiner Seele keineswegs immer frei von den Vorurteilen, die sein Geist verwarf, da er zu oft sein Leben hatte gehen lassen, wie es wollte, und seinen Geist anders. Und weil er seinen Einfluß auf Frauen zu oft mit der Lust eines Jägers am Fangen und Beobachten ausgenutzt und mißbraucht hatte, war ihm fast immer auch das dazugehörende Bild begegnet, worin die Frau das Wild ist, das unter dem Liebesspeer des Mannes zusammenbricht, und es saß ihm die Wollust der Demütigung im Gedächtnis, der sich die liebende Frau unterwirft, während der Mann von einer ähnlichen Hingabe weit entfernt ist. Diese männliche Machtvorstellung von der weiblichen Schwäche ist heute noch recht gewöhnlich, obwohl mit den einander folgenden Wellen der Jugend daneben neuere Auffassungen entstanden sind, und die Natürlichkeit, mit der Agathe ihre Abhängigkeit von Hagauer behandelte, verletzte ihren Bruder. Es kam Ulrich vor, seine Schwester habe eine Schmach erlitten, ohne sich ihrer recht bewußt zu sein, als sie sich unter den Einfluß eines Mannes begab, der ihm mißfiel, und durch Jahre darunter verharrte. Er sprach es nicht aus, aber Agathe mußte wohl etwas Ähnliches in seinem Gesicht gelesen haben, denn sie sagte plötzlich: »Ich konnte ihm doch nicht gleich davonlaufen, wenn ich ihn schon geheiratet hatte; das wäre überspannt gewesen!«

Ulrich – immer der Ulrich im Zustand des älteren Bruders und spendend-erzieherischer Begriffsverarmung – wurde heftig hochgerissen und rief aus: »Wäre es wirklich überspannt, Abscheu zu erleiden und daraus sofort alle Folgerungen zu ziehen?!« Er suchte es zu mildern, indem er hinterdrein lächelte und seine Schwester so freundlich wie möglich ansah.

Auch Agathe sah ihn an; ihr Gesicht war ganz geöffnet von dieser Anstrengung, mit der sie in seinen Zügen forschte. »Ein gesunder Mensch ist Peinlichkeiten gegenüber doch nicht so empfindlich?!« wiederholte sie. »Was liegt schließlich daran!«

Das hatte zur Folge, daß sich Ulrich zusammennahm und seine Gedanken nicht länger einem Teil-Ich überlassen wollte. Er war jetzt wieder der Mann des funktionalen Verstehens. »Du hast recht,« sagte er »was liegt schließlich an den Vorgängen als solchen! Es kommt auf das System von Vorstellungen an, durch das man sie betrachtet, und auf das persönliche System, in das sie eingefügt sind.«

»Wie sagst du das?« fragte Agathe mißtrauisch.

Ulrich entschuldigte sich für seine abstrakte Ausdrucksweise, aber während er nach einem leicht eingänglichen Vergleich suchte, kehrte seine brüderliche Eifersucht wieder und beeinflußte seine Wahl: »Nehmen wir an, daß eine Frau, die uns nicht gleichgültig ist, vergewaltigt worden sei« erklärte er. »Nach einem heroischen Vorstellungssystem müßten wir dann Rache oder Selbstmord erwarten; nach einem zynisch-empirischen, daß sie es abschüttle wie eine Henne; und was sich heute wirklich vollzöge, wäre wohl ein Gemisch aus beidem: diese innere Unwissenheit ist aber häßlicher als alles.«

Aber Agathe war auch mit dieser Fragestellung nicht einverstanden. »Kommt es dir denn so schrecklich vor?« fragte sie einfach.

»Ich weiß nicht. Es schien mir, daß es demütigend sei, mit einem Menschen zu leben, den man nicht liebt. Aber jetzt – wie du willst!«

»Ist es schlimmer als wenn eine Frau, die sich eher als drei Monate nach ihrer Scheidung wieder verheiraten will, im Auftrag des Staats vom Amtsarzt an der Gebärmutter untersucht wird, aus Gründen des Erbrechts, ob sie schwanger sei? Daß es das gibt, habe ich gelesen!« Agathes Stirn schien sich im Zorn der Verteidigung zu runden und hatte wieder die kleine lotrechte Falte zwischen den Augenbrauen. »Und darüber kommt jede hinweg, wenn es sein muß!« sagte sie verächtlich.

»Ich widerspreche dir nicht« entgegnete Ulrich; »alle Geschehnisse gehen, wenn sie einmal wirklich da sind, vorbei wie Regen und Sonnenschein. Wahrscheinlich bist du viel vernünftiger als ich, wenn du das natürlich ansiehst; aber die Natur des Mannes ist nicht natürlich, sondern naturändernd und darum manchmal überspannt.« Sein Lächeln bat um Freundschaft, und sein Auge sah, wie jung ihr Gesicht war. Wenn es sich erregte, bekam es fast keine Falten, sondern wurde von dem, was dahinter vorging, zu noch größerer Glätte gespannt, wie ein Handschuh, in dem sich die Faust ballt.

»Ich habe nie so allgemein darüber nachgedacht« erwiderte sie jetzt. »Aber nachdem ich dich gehört habe, kommt wieder mir vor, daß ich schrecklich im Unrecht gelebt habe!«

»Alles rührt nur davon her,« beglich ihr Bruder scherzend dieses gegenseitige Schuldbekenntnis »daß du mir schon so viel freiwillig gesagt hast, und doch nicht das Entscheidende. Wie soll ich das Richtige treffen, wenn du mir nichts von dem Mann anvertraust, wegen dessen du Hagauer endlich doch verläßt!«

Agathe sah ihn wie ein Kind an oder wie ein Student, der von seinem Erzieher gekränkt wird: »Muß es denn ein Mann sein?! Kann es nicht von selbst kommen? Habe ich etwas schlecht gemacht, weil ich ohne Liebhaber durchgegangen bin? Ich würde dich vielleicht anlügen, wenn ich behaupten wollte, daß ich nie einen gehabt habe; so lächerlich will ich auch nicht sein: aber ich habe keinen und würde es dir verübeln, wenn du glaubtest, daß ich durchaus einen brauche, um von Hagauer zu gehn!«

Ihrem Bruder blieb nichts übrig, als ihr zu versichern, daß leidenschaftliche Frauen ihren Männern auch ohne Liebhaber durchgehn und daß seiner Meinung nach das sogar das Würdigere sei. – Der Tee, zu dem sie sich getroffen hatten, war in ein unregelmäßiges und vorzeitiges Abendbrot übergegangen, weil Ulrich übermüdet war und darum gebeten hatte, denn er wollte früh zu Bett gehn, um sich für den nächsten Tag auszuschlafen, der allerhand geschäftliche Unruhe versprach. Nun rauchten sie ihre Zigaretten, ehe sie sich trennten, und er kannte sich in seiner Schwester nicht aus. Sie hatte weder etwas Emanzipiertes, noch etwas Bohemehaftes an sich, obgleich sie da in weiten Hosen saß, in denen sie den unbekannten Bruder empfangen hatte. Eher etwas Hermaphroditisches, so kam ihm jetzt vor; das leichte männliche Kleid ließ in der Bewegung des Gesprächs mit der Halbdurchsichtigkeit eines Wasserspiegels die zärtliche Formung ahnen, die sich darunter befand, und zu den frei-unabhängigen Beinen trug sie das schöne Haar frauenhaft aufgesteckt. Das Zentrum dieses zwiespältigen Eindrucks bildete aber noch immer das Gesicht, das den Reiz der Frau in hohem Maße besaß, doch mit irgendeinem Abstrich und Vorbehalt, dessen Wesen er nicht herausbekommen konnte.

Und daß er so wenig von ihr wußte und so vertraut mit ihr saß, und doch auch ganz anders als mit einer Frau, für die er ein Mann wäre, das war etwas sehr Angenehmes, in der Müdigkeit, der er nun nachzugeben begann.

»Eine große Veränderung seit gestern!« dachte er.

Er war dankbar dafür und bemühte sich, Agathe zum Abschied etwas herzlich Brüderliches zu sagen, aber da ihm das etwas Ungewohntes war, fiel ihm nichts ein. So nahm er sie bloß in den Arm und küßte sie.


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