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Wiedersehen mit Diotimas diplomatischem Gatten
Der Morgen traf Ulrich nicht klarer an, und spät am Nachmittag entschloß er sich – in der Absicht, den Ernst, der ihn bedrückte, zu erleichtern – seine mit der Befreiung der Seele von der Zivilisation beschäftigte Kusine aufzusuchen.
Zu seiner Überraschung wurde er, ehe noch Rachel aus Diotimas Zimmer zurückgekehrt war, von Sektionschef Tuzzi in Empfang genommen, der ihm entgegenkam. »Meine Frau fühlt sich heute nicht wohl« erläuterte der geübte Ehegatte mit jenem gedankenlosen Zartgefühl in der Stimme, dessen Klang durch allmonatlichen Gebrauch schon zu einer Formel geworden ist, in der das häusliche Geheimnis offen daliegt. »Ich weiß nicht, ob sie Ihren Besuch wird empfangen können.« Er war zum Ausgehen angekleidet, leistete Ulrich aber bereitwillig Gesellschaft.
Dieser benutzte die Gelegenheit, sich nach Arnheim zu erkundigen.
»Arnheim ist in England gewesen und befindet sich jetzt in Petersburg« erzählte Tuzzi. Ulrich war bei dieser bedeutungslosen und nur natürlichen Nachricht unter dem Eindruck seiner bedrückenden Erlebnisse so zumute, als strömte Welt, Fülle und Bewegung auf ihn zu.
»Es ist ganz gut so« meinte der Diplomat. »Er soll nur recht viel hin und her reisen. Man kann daran seine Beobachtungen machen und erfährt allerhand.«
»Sie glauben also immer noch, daß er mit einem pazifistischen Auftrag des Zaren reist?« fragte Ulrich erheitert.
»Ich glaube das mehr denn je« versicherte schlicht der für die Ausführung der österreichisch-ungarischen Politik verantwortliche Amtsleiter. Aber plötzlich zweifelte Ulrich, ob Tuzzi wirklich so ahnungslos sei oder sich nur so stelle und ihn zum Besten habe; etwas verärgert ließ er von Arnheim ab und erkundigte sich: »Ich habe gehört, daß inzwischen hier die Parole der Tat ausgegeben worden ist?«
Wie immer schien es Tuzzi Vergnügen zu machen, gegenüber der Parallelaktion den Unschuldigen und Schlauen zu spielen; er zuckte die Achseln und grinste: »Ich will meiner Frau nicht vorgreifen, Sie werden es ja doch von ihr hören, sobald Sie von ihr empfangen werden können!« Aber nach einer kleinen Weile begann das Bärtchen auf seiner Oberlippe zu zucken, und die großen dunklen Augen in dem lederbraunen Gesicht glänzten von einem unsicheren Leid. »Sie sind doch auch solch ein Schriftgelehrter,« sagte er zögernd »können Sie mir vielleicht erklären, was es heißt, wenn ein Mann Seele hat?«
Es schien, daß Tuzzi wirklich über diese Frage sprechen wolle, und offenbar rief seine Unsicherheit den Eindruck, daß er leide, hervor. Als Ulrich nicht gleich antwortete, fuhr er fort: »Wenn man sagt: eine Seele von einem Menschen, so meint man einen treuen, pflichtgeduldigen, aufrichtigen Kerl, – ich habe so einen Kanzleidirektor: aber da hat man es doch schließlich mit einer subalternen Eigenschaft zu tun! Oder es ist Seele eine Eigenschaft von Frauen: das ist dann ungefähr soviel wie daß sie leichter weinen als Männer und leichter rot werden –«
»Ihre Frau Gemahlin hat Seele« verbesserte ihn Ulrich so ernst, als stellte er fest, sie habe nachtblaues Haar.
Eine leichte Blässe eilte über Tuzzis Gesicht. »Meine Frau hat Geist,« sagte er langsam »sie gilt mit Recht für eine geistvolle Frau. Ich plage sie manchmal und werfe ihr vor, daß sie ein Schöngeist sei. Dann ärgert sie sich. Aber das ist doch nicht Seele –« Er dachte ein wenig nach. »Waren Sie schon einmal bei einer Mystikerin?« fragte er dann. »Sie liest aus der Hand oder aus einem Haar die Zukunft, unter Umständen verblüffend richtig: Das sind so Gaben oder Tricks. Aber können Sie sich etwas Sinnvolles vorstellen, wenn jemand beispielsweise sagt, daß Anzeichen für das Heraufkommen einer Zeit vorhanden sein sollen, wo sich unsere Seelen quasi ohne Vermittlung der Sinne erblicken werden? Ich will gleich hinzufügen,« ergänzte er rasch »daß das nicht etwa nur bildlich zu verstehen ist, sondern wenn Sie nicht gut sind, Sie mögen machen, was Sie wollen, so soll man es heute, da das bereits eine Zeit der erwachenden Seele ist, viel deutlicher spüren als in früheren Jahrhunderten! Glauben Sie das?«
Man wußte bei Tuzzi nie, wo sein Sticheln ihm selbst oder dem Zuhörer galt, und Ulrich antwortete auf alle Fälle: »Ich würde es an Ihrer Stelle eben auf den Versuch ankommen lassen!«
»Machen Sie keine Witze, Verehrtester, das ist unvornehm, wenn man sich in Sicherheit befindet« beklagte sich Tuzzi. »Aber meine Frau verlangt von mir das ernsthafte Verständnis solcher Sätze, auch wenn ich ihnen nicht beipflichten sollte, und ich muß da kapitulieren, ohne daß ich mich überhaupt verteidigen kann. So habe ich mich in meiner Not erinnert, daß Sie doch auch so ein Schriftgelehrter sind –?«
»Die beiden Behauptungen sind von Maeterlinck, wenn ich mich nicht irre« half Ulrich.
»So!? Von –? Ja, das könnte schon sein. Das ist dieser –? Sehen Sie, sehr gut: dann ist er vielleicht auch der, der behauptet, daß es keine Wahrheit gibt? Außer für den liebenden Menschen! sagt er. Wenn ich einen Menschen liebe, so soll ich unmittelbar an einer geheimnisvollen Wahrheit teilhaben, die tiefer ist als die gewöhnliche. Dagegen wenn wir etwas auf Grund genauer Menschenkenntnis und Beobachtung aussprechen, so soll es natürlich wertlos sein. Das soll auch von diesem Ma – Mann herrühren?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht. Es würde zu ihm passen.«
»Ich habe mir eingebildet, daß das von Arnheim ist.«
»Arnheim hat viel von ihm angenommen, und er viel von anderen, beide sind sie begabte Eklektiker.«
»So? Also dann sind das alte Sachen? Aber dann erklären Sie mir, um Himmelswillen, wie man so etwas heute drucken lassen darf!?« bat Tuzzi. »Wenn mir meine Frau antwortet: Verstand beweist gar nichts, Gedanken reichen nicht bis an die Seele! oder: Über der Genauigkeit gibt es ein Reich der Weisheit und Liebe, das man durch überlegte Worte nur entweiht! so verstehe ich, wie sie dazu kommt: sie ist eben eine Frau, sie verteidigt sich in dieser Weise gegen die Logik des Mannes! Aber wie kann das ein Mann sagen?!« Tuzzi rückte näher und legte Ulrich die Hand aufs Knie: »Die Wahrheit schwimmt wie ein Fisch in einem unsichtbaren Prinzip; sobald man sie herausgreift, ist sie tot: was sagen Sie dazu? Hängt das vielleicht mit dem Unterschied zwischen einem Erotiker und einem Sexualiker zusammen?«
Ulrich lächelte. »Soll ich es Ihnen wirklich sagen?«
»Ich brenne darauf!«
»Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.«
»Sehen Sie! Unter Männern bringt man so etwas nicht über die Lippen. Wenn Sie aber eine Seele hätten, würden Sie jetzt meine Seele einfach betrachten und bewundern. Wir würden in eine Höhe gelangen, wo es keine Gedanken, Worte und Taten gibt. Dagegen geheimnisvolle Mächte und ein erschütterndes Schweigen! Darf eine Seele rauchen?« fragte er und zündete sich eine Zigarette an; dann erst erinnerte er sich seiner Hausherrenpflicht und hielt auch Ulrich die Tabatiere hin. Im Grunde war er etwas stolz darauf, daß er die Bücher Arnheims nun gelesen hatte, und gerade weil sie ihm unausstehlich blieben, schmeichelte es ihm als eine persönliche Entdeckung, daß er den möglichen Nutzen ihrer quellenden Ausdrucksweise für die undurchdringlichen Absichten der Diplomatie erkannt habe. Wirklich hätte auch kein anderer eine so schwere Arbeit vergeblich leisten wollen, und jeder hätte sich an seiner Stelle wohl noch eine Weile nach Bedürfnis lustig gemacht, wäre dann aber bald der Sehnsucht erlegen, probeweise ein oder das andere Zitat anzubringen oder etwas, das man ohnehin nicht genau sagen kann, in einen der ärgerlich unklaren neuen Gedanken zu kleiden. Das geschieht widerstrebend, weil man den neuen Anzug noch als lächerlich empfindet, aber man gewöhnt sich rasch an ihn, und so ändert sich unmerklich der Geist der Zeit in seinen Anwendungsformen, und im Besonderen könnte Arnheim einen neuen Verehrer gewonnen haben. Sogar Tuzzi gab schon zu, daß man sich unter der Forderung, Seele und Wirtschaft zu vereinen, trotz aller grundsätzlichen Gegnerschaft, etwas wie eine Wirtschaftspsychologie vorstellen könne, und was ihn unerschütterlich vor Arnheim schützte, war eigentlich nur Diotima. Denn zwischen ihr und Arnheim hatte damals – allen unbekannt – schon eine Erkaltung Platz zu greifen begonnen, die alles, was Arnheim je über Seele gesagt hatte, mit dem Verdacht belastete, nur eine Ausrede zu sein, was zur Folge hatte, daß Tuzzi diese Aussprüche mit größerer Gereiztheit denn je vorgeworfen bekam. Es war verzeihlich, daß er unter diesen Umständen annahm, die Beziehung meiner Gattin zu dem Fremden sei noch im Ansteigen; die keine Liebe war, gegen die ein Ehemann seine Maßnahmen treffen konnte, sondern ein »Zustand der Liebe« und »liebendes Denken« und so erhaben über jeden niederen Verdacht, daß Diotima selbst offen von dem sprach, was sie ihr an Gedanken eingab, ja in letzter Zeit sogar ziemlich unnachsichtig von Tuzzi forderte, daß er geistig daran teilnehme.
Er fühlte sich ungemein verständnislos und empfindlich, von diesem Zustand umgeben, der ihn blind machte wie ein allseitiges Sonnenlicht ohne einen festen Sonnenstand, nach dem man sich richten könnte, um Schatten und Schonung zu finden.
Und er hörte Ulrich reden. »Aber ich möchte Ihnen das Folgende zu bedenken geben. In uns ist gewöhnlich ein stetiger Zu- und Abfluß des Erlebens. Die Erregungen, die sich in uns bilden, werden von außen angestiftet und fließen als Handlungen oder Worte wieder nach außen ab. Denken Sie sich das wie ein mechanisches Spiel. Und dann denken Sie es sich gestört: So muß sich eine Stauung ergeben? Irgendeine Art aus den Ufern zu treten? Unter Umständen mag es auch bloß eine Aufblähung sein –«
»Sie reden wenigstens vernünftig, wenn es auch Unsinn ist...« äußerte Tuzzi anerkennend. Er begriff nicht gleich, daß da wirklich eine Erklärung heranreifen sollte, aber er hatte seine Haltung bewahrt, und während er sich innen im Elend verlor, war auf seinen Lippen das kleine boshafte Lächeln so stolz liegen geblieben, daß er nur wieder hineinzuschlüpfen brauchte.
»Ich glaube, die Physiologen sagen,« fuhr Ulrich fort »daß das, was wir bewußtes Handeln nennen, daraus entsteht, daß der Reiz sozusagen nicht einfach durch einen Reflexbogen ein- und ausfließt, sondern zu einem Umweg gezwungen wird; dann gleichen also die Welt, die wir erleben, und die Welt, in der wir handeln, obwohl sie uns als ein- und dieselbe vorkommen, eigentlich dem Ober- und Unterwasser in einem Mühlgang und sind durch eine Art Bewußtseinsstausee verbunden, von dessen Höhe, Kraft und ähnlichem die Regelung des Zu- und Abflusses abhängt. Oder mit anderen Worten: wenn auf einer der beiden Seiten eine Störung eintritt – eine Entfremdung der Welt, oder eine Unlust zu handeln –, so könnte man doch ganz gut annehmen, daß sich auf diese Weise auch ein zweites, höheres Bewußtsein zu bilden vermöchte? Oder meinen Sie nicht?«
»Ich?« sagte Tuzzi. »Ich muß sagen, ich glaube, mir ist das ganz egal. Das sollen die Professoren einstweilen unter sich ausmachen, wenn sie es wichtig finden. Aber praktisch gesprochen –« er bohrte nachdenklich die Zigarette in den Aschenbecher und blickte dann ärgerlich auf: »entscheiden die Menschen mit zwei Stauungen oder die mit einer Stauung über die Welt?«
»Ich dachte, daß Sie von mir nur zu hören wünschen, wie ich mir solche Gedanken entstanden denke?«
»Wenn Sie mir das gesagt haben sollten, habe ich Sie leider nicht verstanden« meinte Tuzzi.
»Aber sehr einfach: Sie besitzen die zweite Stauung nicht, also besitzen Sie das Prinzip der Weisheit nicht und verstehen kein Wort von dem, was Menschen reden, die eine Seele besitzen. Und ich wünsche Ihnen Glück dazu!«
Es war Ulrich allmählich bewußt geworden, daß er in schimpflicher Form und wunderlicher Gesellschaft Gedanken ausspreche, die gar nicht ungeeignet sein mochten, die Gefühle zu erklären, von denen sein eigenes Herz unsicher bewegt worden war. Die Vermutung, daß bei sehr gesteigerter Empfänglichkeit ein Über- und Zurückquellen der Erlebnisse entstehen könne, das die Sinne grenzenlos und weich wie ein Wasserspiegel mit allen Dingen verbinde, rief in ihm die Erinnerung an die großen Gespräche mit Agathe zurück, und sein Gesicht nahm unwillkürlich einen teils verhärteten, teils verlorenen Ausdruck an. Tuzzi betrachtete ihn unter träg gehobenen Augendeckeln und merkte an der Art von Ulrichs Sarkasmus etwas davon, daß er selbst hier nicht der einzige sei, dessen »Stauungen« nicht seinen Wünschen entsprächen.
Es war den beiden kaum aufgefallen, wie lange Rachel ausblieb, die von Diotima zurückgehalten worden war, um ihr rasch zu helfen, sich selbst und das Krankenzimmer in eine Ordnung des Leidens zu bringen, die zwar frei sein sollte, aber doch schicklich, Ulrich zu empfangen: Nun überbrachte das Mädchen die Meldung, daß er nicht fortgehen, sondern sich noch ein wenig gedulden möge, und kehrte eilig wieder zur Herrin zurück.
»Alle Sätze, die Sie mir genannt haben, sind natürlich Allegorien« setzte Ulrich nach dieser Unterbrechung das Gespräch fort, um den Hausherrn für die Aufmerksamkeit zu entschädigen, daß er ihm Gesellschaft leiste. »Eine Art Schmetterlingssprache! Und ich habe von den Leuten wie Arnheim ungefähr den Eindruck, daß sie sich mit diesem hauchdünnen Nektar einen Bauch ansaufen! Das heißt,« fügte er rasch hinzu, denn es fiel ihm noch rechtzeitig ein, daß er nicht auch Diotima mitbeleidigen dürfe »gerade von Arnheim habe ich diesen Eindruck, ebenso wie ich trotzdem von ihm auch den Eindruck habe, daß er seine Seele gleich einer Brieftasche am Busen trägt!«
Tuzzi legte Aktenmappe und Handschuhe wieder hin, die er bei Rachels Eintritt an sich genommen hatte, und erwiderte heftig: »Wissen Sie, was es ist? Ich meine, was Sie mir so interessant erklärt haben. Das ist nichts als der Geist des Pazifismus!« Er machte eine Pause, damit sich diese Eröffnung auswirke. »Der Pazifismus in den Händen von Dilettanten schließt ohne Zweifel eine große Gefahr ein« fügte er bedeutsam hinzu.
Ulrich wollte lachen, aber Tuzzi meinte es tödlich ernst, und er hatte da zwei Dinge zusammengebracht, die wirklich entfernt verwandt waren, so komisch es auch sein mochte, Liebe und Pazifismus dadurch verbunden zu sehn, daß beide in ihm den Eindruck einer dilettantischen Ausschweifung hervorriefen. So wußte Ulrich nicht, was er antworten solle, und benutzte die Gelegenheit bloß, um auf die Parallelaktion zurückzukommen, indem er einwandte, daß in ihr doch gerade eine Parole der Tat ausgegeben worden sei.
»Das ist eine Leinsdorf-Idee!« äußerte Tuzzi wegwerfend. »Erinnern Sie sich noch an die letzte Besprechung hier bei uns kurz vor Ihrer Abreise? Leinsdorf hat gesagt: Irgend etwas muß geschehn!: das ist jetzt das Ganze, das nennt man jetzt die Parole der Tat! Und natürlich sucht Arnheim dem seinen russischen Pazifismus zu unterschieben. Erinnern Sie sich, wie ich davor gewarnt habe? Ich fürchte, man wird noch an mich denken! Nirgends ist die Außenpolitik so schwierig wie bei uns, und ich habe schon damals gesagt: Wer sich heute zumutet, grundlegende politische Ideen zu verwirklichen, muß ein Stück Bankrotteur und Verbrecher in sich haben!« – Diesmal ging Tuzzi ordentlich aus sich heraus, wohl weil Ulrich schon im nächsten Augenblick zu seiner Gattin gerufen werden konnte oder weil er in dieser Unterredung nicht allein der Belehrte bleiben wollte. »Die Parallelaktion erregt internationales Mißtrauen,« berichtete er »und ihre innerpolitische Wirkung, daß man sie sowohl für deutschfeindlich wie für slawenfeindlich hält, ist auch außenpolitisch zu spüren. Damit Sie aber ganz den Unterschied zwischen dilettantischem und fachmännischem Pazifismus verstehn, werde ich Ihnen etwas erklären: Österreich könnte auf mindestens dreißig Jahre jeden Krieg verhindern, wenn es der Entente cordiale beiträte! Und beim Regierungsjubiläum könnte es das natürlich mit einer unerhört schönen pazifistischen Gebärde tun und dabei Deutschland seiner Bruderliebe versichern, auf daß es ihm nachfolge oder nicht. Die Mehrheit unserer Nationalitäten würde begeistert sein. Wir könnten mit französischen und englischen billigen Krediten unsere Armee so stark machen, daß uns Deutschland nicht einschüchtern kann. Italien wären wir los. Frankreich könnte ohne uns nichts machen: Mit einem Wort, wir wären der Schlüssel zu Frieden und Krieg und machten das große politische Geschäft. Ich verrate Ihnen damit kein Geheimnis: das ist eine einfache diplomatische Rechnung, die jeder Handelsattaché anstellen kann. Warum läßt sie sich nicht ausführen? Imponderabilien des Hofs: Man kann dort Es Em so wenig ausstehn, daß man es unanständig fände, dem nachzugeben; Monarchien sind heute im Nachteil, weil sie mit Anständigkeit belastet sind! Sodann Imponderabilien des sogenannten öffentlichen Geistes: da bin ich bei der Parallelaktion. Warum erzieht sie nicht den öffentlichen Geist?! Warum bringt man ihm nicht eine sachliche Auffassung bei? Sehen Sie,« – aber hier verloren Tuzzis Darlegungen von ihrer Glaubwürdigkeit und machten eher den Eindruck verhehlter Mühsal – »dieser Arnheim macht mir ja wirklich Spaß mit seinem Schreiben! Das hat nicht er erfunden, und neulich, als ich spät eingeschlafen bin, habe ich Zeit gehabt, darüber ein wenig nachzudenken. Es hat immer Politiker gegeben, die Romane geschrieben oder Theaterstücke gemacht haben, zum Beispiel Clémenceau oder gar Disraeli; Bismarck nicht, aber Bismarck war ein Zerstörer. Und nun sehen Sie sich diese französischen Advokaten an, die heute am Ruder sind: Beneidenswert! Politische Plusmacher, aber beraten von einer ausgezeichneten Berufsdiplomatie, die ihnen die Richtlinien gibt, und alle haben sie irgendeinmal auf das ungenierteste Theaterstücke oder Romane geschrieben, zumindest in ihrer Jugend, und schreiben noch heute Bücher. Glauben Sie, daß diese Bücher etwas wert sind? Ich glaube nicht. Aber ich schwöre Ihnen, daß ich mir gestern abend gedacht habe: unserer eigenen Diplomatie geht etwas ab, weil sie nicht auch Bücher hervorbringt, und ich werde Ihnen sagen, warum: Erstens gilt es natürlich für einen Diplomaten geradeso wie für einen Sportsmann, daß er sein Wasser ausschwitzen muß. Und zweitens erhöht es die öffentliche Sicherheit. Wissen Sie, was das europäische Gleichgewicht ist? –«
Sie wurden durch Rachel unterbrochen, die mit der Meldung kam, daß Diotima Ulrich erwarte. Tuzzi ließ sich Hut und Mantel reichen. »Wenn Sie ein Patriot wären –«sagte er, indes er in die Ärmel schlüpfte, und Rachel den Mantel hielt.
»Was sollte ich dann tun?« fragte Ulrich und sah die schwarzen Augensterne Rachels an.
»Wenn Sie ein Patriot wären, würden Sie meine Frau oder Graf Leinsdorf ein wenig auf diese Schwierigkeiten aufmerksam machen. Ich kann das nicht, bei einem Ehemann wirkt das leicht als engherzig.«
»Aber mich nimmt hier ja doch niemand ernst« entgegnete Ulrich ruhig.
»Ach, sagen Sie das nicht!« rief Tuzzi lebhaft aus. »Man nimmt Sie nicht in der Weise ernst wie andere Menschen, aber schon lange Zeit haben alle große Angst vor Ihnen. Man befürchtet, daß Sie dem Leinsdorf einen ganz verrückten Rat geben könnten. Wissen Sie, was das europäische Gleichgewicht ist?!« forschte der Diplomat dringend.
»Ich denke: ungefähr wohl« meinte Ulrich.
»Dann ist Ihnen Glück zu wünschen!« entgegnete Tuzzi aufgebracht und unglücklich. »Wir Berufsdiplomaten wissen es alle nicht. Es ist das, was man nicht stören darf, damit nicht alle übereinander herfallen. Aber was man nicht stören darf, weiß keiner genau. Erinnern Sie sich doch so ein bißchen, was es rings um Sie in den letzten Jahren gegeben hat und gibt: Italienisch-türkischen Krieg, Poincaré in Moskau, Bagdadfrage, bewaffnete Intervention in Libyen, österreichisch-serbische Spannung, das Adriaproblem: ... Ist das ein Gleichgewicht? Unser unvergeßlicher Baron Ährental – aber ich will Sie nicht länger aufhalten!«
»Schade« versicherte Ulrich. »Wenn man das europäische Gleichgewicht so auffassen darf, dann drückt sich in ihm ja aufs beste der europäische Geist aus!«
»Ja, das ist das Interessante« gab Tuzzi, schon in der Türe, ergeben lächelnd, zurück. »Und in diesem Sinne ist die geistige Leistung unserer Aktion nicht zu unterschätzen!«
»Warum hindern Sie das nicht?«
Tuzzi zuckte die Achseln. »Wenn bei uns ein Mann in der Stellung Seiner Erlaucht etwas will, so kann man nicht dagegen auftreten. Man kann bloß Obacht geben!«
»Und wie geht es Ihnen?« fragte Ulrich, nachdem Tuzzi gegangen war, die kleine schwarz-weiße Schildwache, die ihn jetzt zu Diotima führte.