Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

26

Frühling im Gemüsegarten

 

Das Lob, das ihr von Meingast zuteil wurde, und die neuen Gedanken, die sie von ihm empfing, hatten auf Clarisse tiefen Eindruck gemacht. Ihre geistige Unruhe und Erregbarkeit, die sie manchmal selbst beunruhigte, hatte nachgelassen, war diesmal aber nicht, wie es andere Male geschehen, von Mißmut, Bedrückung und Aussichtslosigkeit abgelöst worden, sondern von einer außergewöhnlich gespannten Klarheit und durchsichtigen inneren Atmosphäre. Wieder einmal überblickte sie sich selbst und begriff sich kritisch. Ohne zu zweifeln, ja mit einer gewissen Genugtuung nahm sie zur Kenntnis, daß sie nicht besonders klug sei; sie hatte eben zu wenig gelernt. Ulrich dagegen, wenn sie bei solcher vergleichenden Prüfung gerade an ihn dachte, Ulrich war wie ein Eisläufer, der sich auf einer geistigen Spiegelfläche nach Willkür näherte und entfernte. Nie war zu verstehen, woher es kam, wenn er etwas sagte; oder wenn er lachte, wenn er ärgerlich war, wenn seine Augen blitzten, wenn er da war und mit seinen breiten Schultern Walter den Raum im Zimmer wegnahm. Wenn er auch nur neugierig den Kopf umwandte, spannten sich seine Halssehnen wie Taue eines Seglers, der in windheller Fahrt auf und davon zieht. So war immer etwas an ihm, das über das ihr Zugängliche hinausreichte und das Verlangen wachhielt, sich mit dem ganzen Körper auf ihn zu werfen, um es zu fassen. Aber der Wirbel, in dem das manchmal geschah, so daß einmal schon nichts auf der Welt festgestanden war als der Wunsch, von Ulrich ein Kind zu haben, war jetzt weit fortgezogen und hatte nicht einmal jene Bruchstücke zurückgelassen, von denen die Erinnerung nach dem Abflauen von Leidenschaften unverständlich übersät ist. Clarisse wurde höchstens ärgerlich, wenn sie ihres Mißerfolgs in Ulrichs Wohnung gedachte, und soweit dies überhaupt noch geschah, doch war ihr Selbstgefühl heil und frisch bereitet. Diese Wirkung hatten eben die neuen Vorstellungen, mit denen sie von ihrem philosophischen Gast ausgestattet wurde; abgesehen von den unmittelbaren Erregungen, in die sie durch das Wiedersehen mit diesem ins Großartige veränderten Freund versetzt wurde. So vergingen viele Tage in einer mannigfaltigen Spannung, während alle in dem kleinen, jetzt schon in der Frühlingssonne liegenden Haus darauf warteten, ob Ulrich die Erlaubnis bringen werde oder nicht, Moosbrugger an seinem unheimlichen Aufenthaltsort zu besuchen.

Und vornehmlich war es ein Gedanke, der Clarisse in diesem Zusammenhang wichtig vorkam: der Meister hatte die Welt »in einem Maße wahnfrei« genannt, daß sie von nichts mehr wisse, ob sie es lieben oder hassen solle, und Clarisse war seither überzeugt, daß man sich einem Wahn überlassen müsse, wenn man der Gnade teilhaftig geworden sei, ihn zu fühlen. Denn ein Wahn ist eine Gnade. Wer wußte denn damals noch, ob er rechts oder links gehen solle, wenn er aus dem Hause trat, außer er hatte einen Beruf wie Walter, der ihn hinwieder beengte, oder eine Verabredung wie sie mit den Eltern oder Geschwistern, die sie langweilte! Das ist in einem Wahn anders! Da ist das Leben so praktisch eingerichtet wie eine moderne Küche: man sitzt in der Mitte, braucht sich kaum zu rühren und kann von seinem Platz aus alle Einrichtungen in Gang setzen. Für so etwas hatte Clarisse immer Sinn gehabt. Und überdies verstand sie unter Wahn nichts anderes als man Willen nennt, nur besonders gesteigert. Clarisse hatte sich bisher davon eingeschüchtert gefühlt, daß sie sich nur weniges von dem, was in der Welt vorgehe, richtig zu erklären vermöge, aber seit der Wiederbegegnung mit Meingast sah sie sich gerade dadurch begünstigt, nach eigenem Ermessen zu lieben, zu hassen und zu handeln. Denn nach des Meisters Wort tat der Menschheit nichts so not wie Wille, und dieses Gut, heftig wollen zu können, befand sich seit je in ihrem Besitz! Wenn Clarisse das bedachte, wurde ihr kalt vor Glück und heiß vor Verantwortung. Natürlich war Wille dabei nicht etwa das düstere Bemühen, ein Klavierstück zu erlernen oder in einem Streit recht zu behalten, sondern ein mächtiges Gesteuertwerden vom Leben, ein Ergriffensein von sich selbst, ein Dahinschießen im Glück.

Und sie konnte nicht umhin, schließlich etwas davon Walter mitzuteilen. Sie teilte ihm mit, daß ihr Gewissen von Tag zu Tag stärker werde. Doch erwiderte Walter aufgebracht und unerachtet seiner Bewunderung für Meingast, den vermuteten Urheber dieser Tatsache: »Es ist wohl wahrhaftig ein Glück, daß es Ulrich nicht zu gelingen scheint, die Erlaubnis zu besorgen!«

Bloß ein Grimmen lief über Clarissens Lippen, aber es verriet Mitleid mit seiner Ahnungslosigkeit und Widerstand.

»Was willst du denn eigentlich von diesem Verbrecher, der uns alle zusammen nicht das geringste angeht!?« fragte Walter erregt.

»Es wird mir einfallen, wenn ich dort bin« gab Clarisse zur Antwort.

»Ich meine, das müßtest du jetzt schon wissen!« bemerkte Walter männlich.

Seine kleine Frau lächelte, wie sie es immer tat, ehe sie ihn tief verletzte. Dann sagte sie aber bloß: »Ich werde etwas tun.«

»Clarisse!« erwiderte Walter fest »du darfst nichts tun ohne meine Erlaubnis; ich bin rechtlich dein Mann und Vormund!«

Das war ihr ein neuer Ton. Sie wandte sich von ihm ab, tat verwirrt ein paar Schritte.

»Clarisse!« rief ihr Walter nach und erhob sich, ihr zu folgen. »Ich werde etwas gegen den Wahnsinn tun, der hier im Haus kreist!«

Da begriff sie, daß sich die Heilkraft ihres Entschlusses auch schon an Walters zunehmender Kraft fühlen mache. Sie wandte sich auf der Ferse um: »Was wirst du tun?!« fragte sie ihn, und ein Blitz aus dem Spalt ihrer Augen schlug in das feuchte, aufgerissene Braun der seinen.

»Sieh doch,« begütigte er und wich zurück, weil er sich von solcher Genauigkeit der erheischten Antwort überrascht sah »das haben wir ja alle in uns, diese intellektuelle Neigung für das Ungesunde, Schauerliche und Problematische, wir geistigen Menschen; aber –«

»Aber wir lassen die Philister gewähren!« unterbrach ihn Clarisse siegprangend. Nun ging sie ihm nach, ließ ihn nicht aus den Augen. Fühlte, wie ihn ihre Heilkraft umschlang und kräftig zwang. Ihr Herz wurde plötzlich von einer unsäglichen und seltsamen Freude erfüllt.

»Aber wir machen nicht so viel Wesens davon« murmelte Walter seinen Satz verdrossen zu Ende. Hinter sich, am Saum seines Rockes, fühlte er einen Widerstand; hingreifend, erriet er die Kante eines der dünnbeinigen, leichten Tischchen, die es in seiner Wohnung gab und die ihm plötzlich gespenstisch vorkamen; wiche er noch weiter zurück, müßte er den Tisch lächerlicherweise ins Rutschen bringen, begriff er. Also widerstand er dem plötzlich erwachten Wunsch, weit fort von diesem Kampf zu sein, auf einer Wiese von tiefem Grün, unter blühenden Obstbäumen und zwischen Menschen, deren gesunde Fröhlichkeit seine Wunden wusch und reinigte. Es war ein ruhiger, dicker Wunsch, verschönt von Frauen, die seinem Wort lauschten und es mit Bewunderung bedankten. Und in dem Augenblick, wo sich ihm Clarisse näherte, empfand er sie eigentlich als eine wüste traumartige Belästigung. Zu seiner Überraschung sagte Clarisse aber nicht: du bist ein Feigling! Sondern sie sagte: »Walter? Warum sind wir unglücklich?!«

Bei dieser lockenden, hellsichtigen Stimme fühlte er, daß sein Unglück mit Clarisse durch kein Glück mit einer anderen Frau ersetzt werden könnte. »Wir müssen es sein!« erwiderte er in einer ebenbürtigen Aufwallung.

»Nein, wir müßten es nicht sein!« versicherte Clarisse nachgiebig. Sie ließ den Kopf zur Seite hängen und suchte nach etwas, das ihn überzeugen sollte. Im Grunde durfte es nicht einmal einen Unterschied ausmachen, was es sei: sie standen vor einander wie ein Tag ohne Abend, der das Feuer von Stunde zu Stunde weitergibt, ohne daß es weniger wird. »Du wirst mir zugeben,« begann sie schließlich in einem ebenso schüchternen wie eigensinnigen Tonfall »daß die wirklich großen Verbrechen nicht dadurch entstehn, daß man sie tut, sondern daraus, daß man sie gewähren läßt!«

Nun wußte Walter freilich, was kommen sollte, und es bedeutete eine heftige Enttäuschung. »O Gott!« rief er ungeduldig aus. »Ich weiß doch auch, daß durch Gleichgültigkeit und durch die Leichtigkeit, mit der man sich heute ein gutes Gewissen beschaffen kann, weit mehr Menschenleben zugrunde gerichtet werden als durch den bösen Willen einzelner! Und es ist bewundernswert, daß du jetzt sagen wirst, jeder muß darum sein Gewissen schärfen und muß jeden Schritt aufs genaueste prüfen, ehe er ihn tut.«

Clarisse unterbrach ihn, indem sie den Mund öffnete, aber sie überlegte es sich anders und gab keine Antwort.

»Auch ich denke ja an die Armut, den Hunger, die Verkommenheit jeder Art, die unter Menschen zugelassen werden, oder an die Einstürze von Bergwerken, deren Verwaltungsräte an den Sicherheitseinrichtungen gespart haben,« fuhr Walter kleinlaut fort »und habe dir ja alles schon zugegeben.«

»Aber zwei Liebende dürfen dann einander auch nicht lieben, solange ihr Zustand nicht ›reines Glück‹ ist« sagte Clarisse. »Und die Welt wird sich nicht eher bessern, als es solche Liebende gibt!«

Walter schlug die Hände zusammen. »Begreifst du nicht, wie lebensungerecht solche großen, blendenden, ungemischten Forderungen sind!« rief er aus. »So verhält es sich doch auch mit diesem Moosbrugger, der von Zeit zu Zeit in deinem Kopf wie auf einer Drehscheibe auftaucht! Eigentlich hast du ja recht, wenn du behauptest, daß man nicht ruhen darf, solange solche unglücklichen Menschentiere einfach getötet werden, weil die Gesellschaft nichts mit ihnen anzufangen weiß; aber sozusagen noch eigentlicher hat natürlich das gesunde gewöhnliche Gewissen recht, wenn es sich einfach weigert, auf solche überfeinerte Zweifel einzugehn. Es gibt eben gewisse letzte Kennmale des gesunden Denkens, die man nicht beweisen kann, sondern im Blut haben muß!«

Clarisse erwiderte: »Nach deinem Blut ist natürlich Eigentlich immer Eigentlich nicht!«

Walter schüttelte beleidigt den Kopf und zeigte ihr, daß er darauf nicht antworten werde. Er war es schon müde, immer den Warner davor zu spielen, daß einseitige Gedankenkost verderblich sei, und vielleicht machte es ihn auf die Dauer sogar selbst unsicher.

Aber Clarisse las durch eine nervöse Feinfühligkeit, die ihn immer wieder in Erstaunen setzte, seine Gedanken, und indem sie ihren Kopf aufrichtete, übersprang sie alle Zwischenstufen und landete bei ihm auf dem Höhepunkt mit der dringlich leise vorgebrachten Frage: »Kannst du dir Jesus als Bergwerksdirektor vorstellen?« Ihr Gesicht verriet, daß sie unter Jesus eigentlich ihn meine, in einer jener Übertreibungen, worin sich die Liebe nicht vom Irrsinn unterscheidet. Er wehrte es mit einer ebenso entrüsteten wie verzagten Bewegung der Hand ab. »Nicht so direkt, Clarisse!« beschwor er sie. »Man darf nicht so direkt sprechen!«

»Doch!« versetzte Clarisse. »Gerade direkt muß man sein! Wenn wir nicht die Kraft haben, ihn zu retten, werden wir auch nicht die Kraft haben, uns zu retten!«

»Und was ist schließlich dabei, wenn er verreckt!« rief Walter heftig aus. Er glaubte im Genuß dieser rohen Antwort den befreienden Geschmack des Lebens selbst auf der Zunge zu fühlen, der herrlich gemischt war mit dem Geschmack des Todes und des verstrickten Zugrundegehns, den Clarisse andeutend heraufbeschwor.

Clarisse sah ihn wartend an. Aber Walter schien an seinem Ausbruch genug zu haben oder verstummte aus Unentschlossenheit. Und wie einer, der also gezwungen ist, den unwiderstehlichen letzten Trumpf auszuspielen, sagte sie: »Mir ist ein Zeichen gesandt worden!«

»Das bildest du dir doch nur ein!« schrie Walter zur Zimmerdecke empor, die den Himmel vertrat; aber Clarisse verließ mit ihren letzten schwerlosen Worten das Beisammensein und wollte ihn nichts mehr sagen lassen.

Dagegen sah er sie ein wenig später eifrig mit Meingast sprechen. Das Gefühl, sie würden beobachtet, das diesen belästigte, weil er selbst nicht so weit sah, beruhte auf Richtigkeit. Tatsächlich beteiligte sich Walter nicht an der eifrigen Gartenarbeit seines inzwischen zu Besuch gekommenen Schwagers Siegmund, der mit aufgeschlagenen Ärmeln in einer Erdfurche kniete und irgend etwas tat, wovon Walter behauptet hatte, daß man es im Garten zur Frühjahrszeit tun müsse, wenn man Mensch sein wolle und nicht bloß ein flaches Lesezeichen in den Bänden der Fachliteratur.

Sondern Walter blickte verstohlen zu dem Paar hinüber, das sich in der anderen Ecke des offen daliegenden Nutzgartens befand.

Er glaubte nicht, daß in der von ihm beobachteten Gartenecke etwas Unerlaubtes vor sich gehe. Trotzdem fühlte er eine unnatürliche Kälte in den Händen, die der Frühlingsluft ausgesetzt waren, und in den Beinen, die nasse Flecken davon hatten, daß er zeitweilig niederkniete, um Siegmund anzuweisen. Er sprach hochfahrend mit ihm, wie es schwache und gedemütigte Menschen tun, wenn sie an jemand ihre Laune auslassen dürfen. Er wußte, daß Siegmund, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihn zu verehren, nicht so leicht davon abzubringen wäre. Trotzdem war es geradezu eine Nach-Sonnenuntergang-Einsamkeit und Grabeskälte, die er zu fühlen glaubte, während er beobachtete, daß Clarisse niemals zu ihm herübersehe, sondern mit dauernden Zeichen der Teilnahme Meingast anblicke. Und überdies war er auch noch stolz darauf. Seit sich Meingast in seinem Hause befand, war er ebenso stolz auf die Abgründe, die darin aufsprangen, wie vorsorglich bemüht, sie zu verstopfen. Aus der Höhe des Stehenden hatte er zu dem auf den Knien liegenden Siegmund nun die Worte gelangen lassen: »Das empfinden und kennen wir natürlich alle, eine gewisse Neigung für das Problematische und Ungesunde!« Er war kein Duckmäuser. Er hatte sich in der kurzen Zeit, seit ihn Clarisse auf Grund dieses Satzes einen Philister genannt hatte, das Wort von der »kleinen Ehrlosigkeit des Lebens« zurechtgemacht. »Eine kleine Ehrlosigkeit ist gut wie süß oder sauer,« belehrte er jetzt seinen Schwager »aber wir sind verpflichtet, sie solange in uns zu verarbeiten, bis sie dem gesunden Leben zur Ehre gereicht! Und ich verstehe unter einer solchen kleinen Ehrlosigkeit« fuhr er fort »ebensowohl das sehnsüchtige Paktieren mit dem Tod, das uns ergreift, wenn wir die Tristanmusik hören, wie die heimliche Anziehung, die den meisten Sexualverbrechen zu eigen ist, obwohl wir ihr nicht nachgeben! Denn ich nenne ehrlos und menschlich-widersacherisch, siehst du, ebensowohl das Elementare des Lebens, wenn es in Not und Krankheit über uns Herr wird, wie das übertrieben Geistige und Gewissenhafte, das dem Leben Gewalt antun möchte. Alles, was die Grenzen überschreiten möchte, die uns gezogen sind, ist ehrlos! Mystik ist ebenso ehrlos wie die Einbildung, daß man die Natur auf eine mathematische Formel bringen könne! Und die Absicht, Moosbrugger aufzusuchen, ist ebenso ehrlos wie –« Hier unterbrach sich Walter einen Augenblick, um den Nagel auf den Kopf zu treffen, und schloß mit den Worten: »wenn du am Krankenbett Gott anrufen wolltest!«

Gewiß war damit nun etwas gesagt und sogar überraschend die berufsmäßige und unwillkürliche Humanität des Arztes dafür angerufen worden, daß Clarissens Vorhaben und seine überspannten Begründungen die Grenzen des Erlaubten überschritten. Aber im Verhältnis zu Siegmund war Walter ein Genie, und das hatte sich darin geäußert, daß Walter von seinem gesunden Denken zu solchen Gedankenbekenntnissen geführt worden war, während sich die noch gesündere Gesundheit seines Schwagers darin ausdrückte, daß er zu dieser fragwürdigen Stoffwelt entschlossen schwieg. Siegmund häufelte die Erde mit seinen Fingern und neigte dabei, ohne die Lippen zu öffnen, manchmal den Kopf von der einen auf die andere Seite, so als ob er ein Probierglas umschütten wollte, oder auch nur so, als ob er dann in dem einen Ohr genug hätte. Und nachdem sich Walter ausgesprochen hatte, trat eine furchtbar tiefe Stille ein, und in dieser hörte nun Walter einen Satz, den ihm wohl auch Clarisse einmal zugerufen haben mußte; denn er hörte zwar nicht in halluzinatorischer Lebendigkeit, aber doch gleichsam in der Stille ausgespart die Worte: »Nietzsche und Christus sind an ihrer Halbheit zugrunde gegangen!« Und auf eine nicht ganz geheuerliche, an den »Bergwerksdirektor« erinnernde Weise schmeichelte ihm das. So war es eine eigentümliche Lage, wie er, die Gesundheit selbst, hier im kühlen Garten stand zwischen einem Mann, auf den er hochmütig hinabblickte, und zwei unnatürlich Erhitzten, zu deren stummen Gebärdenspiel er überlegen und dennoch sehnsüchtig hinübersah. Denn Clarisse war nun einmal die kleine Ehrlosigkeit, die seine Gesundheit brauchte, um nicht zu verflauen, und eine heimliche Stimme sagte ihm, daß Meingast soeben im Begriff sei, die zulässige Kleinheit dieser Ehrlosigkeit maßlos zu vergrößern. Er bewunderte ihn mit der Empfindung, die ein unberühmter Verwandter für einen berühmten hat, und es erregte mehr seinen Neid als seine Eifersucht, also ein Gefühl, das noch heftiger als diese nach innen schlug, Clarisse mit ihm verschwörerisch wispern zu sehn; aber doch erhob es ihn auch irgendwie, er wollte, im Bewußtsein seiner eigenen Würde, nicht böse werden, er verbot sich, hinüberzugehn und die beiden zu stören, er fühlte sich angesichts ihrer Erhitzung als den Überlegenen, und aus alledem entstand, er wußte selbst nicht wie, ein zwittrig unklarer, abseits aller Logik geborener Gedanke: daß die beiden dort drüben in einer ungehemmten und zu mißbilligenden Weise Gott anriefen.

Das war, wenn man einen solchen wunderlich gemischten Zustand schon ein Denken nennen muß, doch ein solches, das sich in keiner Weise aussprechen läßt, weil die Chemie seines Dunkels durch den lichten Einfluß der Sprache augenblicklich verdorben wird. Walter verband auch, wie er vor Siegmund gezeigt hatte, durchaus keinen Glauben mit dem Wort Gott, und nachdem es ihm eingefallen war, entstand eine scheue Leere rings darum: so kam es, daß nach langem Schweigen das erste, was Walter wieder zu seinem Schwager sagte, sehr weit davon entfernt war. »Du bist ein Esel,« warf er ihm vor »wenn du dich nicht befugt glaubst, ihr von diesem Besuch ganz energisch abzuraten; wozu bist du denn Arzt?!«

Siegmund nahm auch das ganz und gar nicht übel. »Das mußt du schon allein mit ihr ausmachen« gab er, ruhig aufblickend, zur Antwort und wandte sich wieder seiner Beschäftigung zu.

Walter seufzte. »Clarisse ist natürlich ein ungewöhnlicher Mensch!« begann er abermals. »Ich kann sie sehr gut verstehn. Ich gebe sogar zu, daß sie mit der Strenge ihrer Auffassung nicht unrecht hat. Denk bloß an die Armut, den Hunger, die Verkommenheit jeder Art, wovon die Welt voll ist, an die Einstürze von Bergwerken zum Beispiel, deren Verwaltungsräte an den Stützbauten gespart haben –!«

Siegmund ließ kein Zeichen davon, daß er daran denke, erkennen.

»Nun, sie tut es!« fuhr Walter mit Strenge fort. »Und ich finde das wunderschön von ihr. Wir andern beschaffen uns viel zu leicht ein gutes Gewissen. Und sie ist besser als wir, wenn sie verlangt, daß wir alle uns ändern und uns ein tätigeres Gewissen, gleichsam eines ohne Ende, ein unendliches, aneignen sollen. Aber was ich dich frage, ist: muß das denn nicht zu moralischem Skrupelwahn führen, wenn es nicht überhaupt schon etwas Ähnliches ist? Das mußt du doch entscheiden können?!«

Siegmund setzte sich bei dieser dringenden Aufforderung auf ein Bein und blickte seinen Schwager prüfend an. »Verrückt!« erklärte er. »Aber man kann nicht sagen im medizinischen Sinn.«

»Und was sagst du dazu,« fragte Walter weiter, ohne seiner Überlegenheit zu gedenken »daß sie behauptet, ihr würden Zeichen geschickt?«

»Sie sagt, daß ihr Zeichen geschickt werden?« fragte Siegmund bedenklich.

»Ja doch! Dieser verrückte Mörder zum Beispiel! Und neulich jenes verrückte Schwein unter unseren Fenstern!«

»Ein Schwein?«

»Nein, eine Art Exhibitionist.«

»So?« sagte Siegmund und überlegte es. »Dir werden auch Zeichen geschickt, wenn du etwas zum Malen findest. Sie drückt sich bloß aufgeregter aus als du« entschied er schließlich.

»Und daß sie behauptet, sie müsse die Sünden dieser Menschen und auch meine und deine und ich weiß nicht wessen Sünden noch, auf sich nehmen?!« rief Walter dringend.

Siegmund war aufgestanden und stäubte die Erde von seinen Händen. »Sie fühlt sich von Sünden bedrückt?« fragte er überflüssigerweise noch einmal und stimmte höflich zu, als freute er sich, seinem Schwager endlich beipflichten zu können: »Das ist ein Symptom!«

»Das ist ein Symptom?« fragte Walter zerknirscht.

»Sündenwahn ist ein Symptom« bestätigte Siegmund mit der Unparteilichkeit des Fachmanns.

»Es ist aber so« fügte Walter hinzu und legte gegen das Urteil, das er selbst heraufbeschworen hatte, augenblicklich Berufung ein: »Du mußt dich doch zuerst selbst fragen: gibt es Sünde? Natürlich gibt es Sünde. Aber dann gibt es auch einen Sündenwahn, der kein Wahn ist. Das verstehst du vielleicht nicht, denn es ist ja überempirisch! Es ist die gekränkte Verantwortung des Menschen für ein höheres Leben!«

»Aber sie behauptet doch, es würden ihr Zeichen geschickt!« wandte nun der beharrliche Siegmund ein.

»Aber mir werden doch auch Zeichen geschickt, sagst du!« rief Walter heftig aus. »Und ich sage dir, ich möchte manchmal mein Schicksal auf den Knien bitten, daß es mich zufrieden lassen möge: aber jedesmal schickt es wieder, und die großartigsten Zeichen schickt es durch Clarisse!« Dann fuhr er ruhiger fort: »Sie behauptet zum Beispiel jetzt, dieser Moosbrugger bedeute sie und mich in unserer ›Sündengestalt‹ und sei uns als Mahnung geschickt worden; aber das läßt sich so verstehen: es ist ein Symbol dafür, daß wir die höheren Möglichkeiten unseres Lebens, sozusagen seine Lichtgestalt, vernachlässigen. Vor vielen Jahren, als sich Meingast von uns trennte –«

»Aber Sündenwahn ist ein Symptom für gewisse Störungen!« erinnerte ihn Siegmund mit dem verzweifelten Gleichmut des Fachmanns.

»Du kennst natürlich nur Symptome!« verteidigte Walter lebhaft seine Clarisse. »Denn das andere ginge über deine Erfahrung hinaus. Aber vielleicht ist gerade dieser Aberglaube, der alles, was nicht zur gemeinsten Erfahrung stimmt, als eine Störung behandelt, die Sünde und Sündengestalt unseres Lebens! Und Clarisse verlangt eine innere Aktion dagegen. Schon vor vielen Jahren, damals, als sich Meingast von uns trennte, haben wir –« Er dachte an die Geschichte, wie Clarisse und er Meingasts »Sünden auf sich nahmen«, aber es war aussichtslos, Siegmund den Vorgang einer geistigen Erweckung zu erklären, und so schloß er unbestimmt mit den Worten: »Und schließlich, daß es immer Menschen gegeben hat, die die Sünden aller gleichsam auf sich lenkten oder auch in sich verdichteten, wirst du vielleicht selbst nicht leugnen?!«

Sein Schwager sah ihn zufrieden an. »Nun also!« gab er freundlich zur Antwort. »Da beweist du jetzt selbst, was ich schon zu Anfang behauptet habe. Daß sie sich von Sünden bedrückt glaubt, ist ein typisches Verhalten bei gewissen Störungen. Aber es gibt im Leben auch untypische Verhaltensweisen: Mehr habe ich nicht behauptet.«

»Und diese übertriebene Strenge, mit der sie alles durchführt?« fragte Walter nach einer Weile seufzend. »Ein solcher Rigorismus ist doch kaum noch normal zu nennen?«

Indessen hatte Clarisse eine wichtige Unterredung mit Meingast. »Du hast gesagt,« erinnerte sie ihn »daß die Menschen, die sich darauf etwas zugute tun, daß sie die Welt erklären und verstehen, niemals etwas an ihr ändern werden?«

»Ja« erwiderte der Meister. »›Wahr‹ und ›Falsch‹, das sind die Ausreden derer, die nie zu einer Entscheidung kommen wollen. Denn die Wahrheit ist ein Ding ohne Ende.«

»Darum hast du gesagt, daß man den Mut haben muß, sich zwischen ›Wert‹ und ›Unwert‹ zu entscheiden?!« forschte Clarisse.

»Ja« sagte der Meister etwas gelangweilt.

»Wunderbar verächtlich ist auch die von dir geprägte Formel,« rief Clarisse aus »daß im heutigen Leben die Menschen bloß das tun, was geschieht!«

Meingast blieb stehn und blickte zu Boden; man hätte ebensogut meinen können, daß er sein Ohr neige wie daß er ein Steinchen betrachte, das rechts vor ihm am Weg liege. Aber Clarisse fuhr nicht fort, ihm den Honig des Lobs darzureichen; auch sie hatte jetzt den Kopf gebeugt, so daß ihr Kinn beinahe in der Halsgrube ruhte, und ihr Blick bohrte sich zwischen Meingasts Stiefelspitzen in die Erde; eine leichte Röte zog in ihrem fahlen Antlitz auf, als sie, vorsichtig die Stimme dämpfend, mit den Worten fortfuhr: »Du hast gesagt, alle Sexualität ist nur ein Bocksprung!«

»Ja, das habe ich bei einer bestimmten Gelegenheit gesagt. Was unserer Zeit an Willen abgeht, verausgabt sie, abgesehen von ihrer sogenannten wissenschaftlichen Tätigkeit, in Sexualität!«

Clarisse zögerte eine Weile, dann sagte sie: »Ich selbst habe viel Willen, aber Walter macht Bocksprünge!«

»Was ist eigentlich zwischen euch los?« fragte der Meister, neugierig geworden, fügte aber sogleich beinahe angewidert hinzu: »Ich kann es mir natürlich denken.«

Sie befanden sich in einer Ecke des baumlosen Gartens, der in der vollen Frühlingssonne lag, und ungefähr in der schräg gegenüberliegenden Ecke kauerte Siegmund am Boden, während Walter, neben ihm stehend, lebhaft auf ihn einsprach. Der Garten hatte die Form eines an die Längsmauer des Hauses gelehnten Rechtecks, um dessen Gemüse- und Blumenbeete ein Kiesweg lief, während zwei Mittelwege mit ihrem Kies auf der noch unbewachsenen Erde ein helles Kreuz bildeten. Clarisse erwiderte, vorsichtig zu den beiden anderen Männern hinüberspähend: »Er kann vielleicht nicht dafür: du mußt wissen, daß ich Walter in einer Weise anziehe, die nicht recht ist.«

»Ich kann es mir vorstellen« erwiderte diesmal der Meister mit einem teilnehmenden Blick. »Du hast etwas Knabenhaftes.«

Clarisse fühlte bei diesem Lob ein Glück durch ihre Adern springen wie Hagelkörner. »Hast du damals gesehn, daß ich mich rascher anzuziehn vermag als ein Mann?!« fragte sie ihn geschwind.

In das wohlwollend gefaltete Gesicht des Philosophen geriet Verständnislosigkeit. Clarisse kicherte. »Das ist so ein Doppelwort« erklärte sie. »Es gibt auch andere: Lustmord zum Beispiel.«

Nun fand es der Meister wohl gut, sich von nichts überrascht zu zeigen. »Doch, doch,« erwiderte er »ich weiß. Du hast ja einmal behauptet, daß es Lustmord sei, wenn man die Liebe in der üblichen Umarmung löscht.« Aber was sie mit dem Anziehen meine, wollte er wissen.

»Gewährenlassen ist Mord« erklärte Clarisse mit der Schnelligkeit eines, der auf glattem Boden seine Kunststücke zeigt und vor Behendigkeit ausrutscht.

»Weißt du,« gestand Meingast »jetzt kenne ich mich wahrhaftig nicht mehr aus. Nun sprichst du doch wieder von dem Kerl, dem Zimmermann. Was willst du von ihm?«

Clarisse scharrte nachdenklich mit der Fußspitze im Kies. »Das ist das gleiche« antwortete sie. Und plötzlich sah sie zum Meister auf. »Ich glaube, Walter sollte mich verleugnen lernen« sagte sie in einem kurz abgeschnittenen Satz.

»Ich kann das nicht beurteilen« meinte Meingast, nachdem er vergeblich eine Fortsetzung erwartet hatte. »Aber sicher sind die radikalen Lösungen immer die besseren.«

Er hatte das bloß für alle Fälle gesagt. Aber Clarisse senkte nun wieder den Kopf, so daß sich ihr Blick irgendwo in Meingasts Anzug vergrub, und nach einer Weile näherte sie ihre Hand langsam seinem Unterarm. Sie hatte plötzlich unbändige Lust, diesen harten, mageren Arm unter dem weiten Ärmel anzufassen und den Meister zu berühren, der sich verstellte, als wüßte er nichts von den erleuchtenden Worten, die er über den Zimmermann gesagt hatte. Es waltete, während es geschah, in ihr die Empfindung, daß sie einen Teil von sich zu ihm hinüberschiebe, und in der Langsamkeit, mit der ihre Hand in seinem Ärmel verschwand, in dieser flutenden Langsamkeit, kreisten Trümmer einer unbegreiflichen Wollust, die von der Wahrnehmung herrührten, daß der Meister stillhalte und sich von ihr berühren lasse.

Meingast aber sah aus irgendeinem Grund entgeistert auf die Hand, die seinen Arm in der Art umklammerte und an ihm hinanstieg, wie sich ein vielbeiniges Tier auf sein Weibchen schiebt; er sah unter den gesenkten Augenlidern der kleinen Frau etwas zucken, das ungewöhnlich war: er begriff einen zweifelhaften Vorgang, der durch die Öffentlichkeit, in der er sich abspielte, ihn rührte. »Komm!« schlug er vor, freundlich ihre Hand entfernend: »Wenn wir hier stehen bleiben, sind wir allen zu sichtbar; wir wollen wieder auf und ab gehen!«

Während sie nun auf und ab wandelten, erzählte Clarisse: »Ich ziehe mich rasch an; rascher als ein Mann, wenn es sein muß. Die Kleider fliegen mir auf den Leib, wenn ich so – wie soll ich das nennen? – wenn ich eben so bin! Das ist vielleicht eine Art Elektrizität; was zu mir gehört, ziehe ich an. Aber es ist gewöhnlich eine unheilvolle Anziehung.«

Meingast lächelte zu diesen Wortspielen, die er noch immer nicht verstand, und suchte aufs Geratewohl nach einer eindrucksvollen Erwiderung. »Du ziehst also deine Kleider sozusagen an wie ein Held das Schicksal?« gab er zur Antwort.

Zu seiner Überraschung blieb Clarisse stehen und rief aus: »Ja, gerade das ist es! Wer so lebt, fühlt das auch mit Kleid, Schuh, Messer und Gabel!«

»Es ist etwas Wahres daran« bestätigte der Meister diese dunkel überzeugende Behauptung. Dann fragte er geradeswegs: »Wie machst du es eigentlich mit Walter?«

Clarisse verstand nicht. Sie sah ihn an und gewahrte in seinem Auge plötzlich gelbe Wolken, die in einem wüsten Wind zu treiben schienen. »Du hast gesagt,« fuhr Meingast zögernd fort »daß du ihn in einer Weise anziehst, die nicht recht ist. Die also wahrscheinlich nicht die rechte einer Frau ist? Wie ist das? Bist du überhaupt gegen Männer frigid?«

Clarisse kannte das Wort nicht.

»Frigid ist,« erklärte der Meister »wenn eine Frau an der Umarmung der Männer kein Gefallen findet.«

»Aber ich kenne doch nur Walter« wandte Clarisse eingeschüchtert ein.

»Nun ja, aber nach allem, was du gesagt hast, müßte man es doch annehmen?«

Clarisse war verblüfft. Sie mußte nachdenken. Sie wußte es nicht. »Ich? Ich darf doch nicht; ich muß es ja gerade hindern!« sagte sie. »Ich darf es nicht gelten lassen!«

»Was du sagst!« Jetzt lachte der Meister unanständig. »Du mußt verhindern, daß du etwas empfindest? Oder daß Walter auf seine Kosten kommt?«

Clarisse wurde rot. Aber damit wurde ihr auch klarer, was sie zu sagen habe. »Wenn man nachgibt, ertrinkt alles in Geschlechtslust« erwiderte sie ernst. »Ich erlaube der Lust der Männer nicht, sich von ihnen zu trennen und meine Lust zu werden. Darum ziehe ich sie schon an, seit ich ein kleines Mädchen war. Es ist etwas mit der Lust der Männer nicht in Ordnung.«

Aus verschiedenen Gründen zog es nun Meingast vor, darauf nicht einzugehen. »Kannst du dich denn so beherrschen?« fragte er.

»Ja, das ist verschieden« gab Clarisse aufrichtig zu. »Aber ich habe dir ja gesagt: ich wäre ein Lustmörder, wenn ich ihn gewähren ließe!« Eifriger werdend, fuhr sie fort: »Meine Freundinnen sprechen davon, daß man in den Armen eines Mannes vergeht. Ich kenne das nicht. Ich bin noch nie in den Armen eines Mannes vergangen. Aber ich kenne das Vergehen außerhalb der Umarmung. Du kennst es sicher auch; denn du hast doch gesagt, daß die Welt viel zu wahnfrei sei –!« Meingast wehrte mit einer Gebärde ab, als hätte sie ihn nicht recht verstanden. Aber nun war es ihr schon allzu klar: »Wenn du zum Beispiel sagst, daß man sich gegen das Minderwertige zugunsten des Höherwertigen entscheiden muß,« rief sie aus »so heißt das doch: es gibt ein Leben in einer Wollust, die ungeheuer und ohne Grenzen ist! Das ist nicht die des Geschlechts, es ist die Wollust des Genies! Und an der übt Walter Verrat, wenn ich ihn nicht hindere!«

Meingast schüttelte den Kopf. Verneinung war in ihm bei dieser veränderten und leidenschaftlichen Wiedergabe seiner Worte, es war eine aufgescheuchte, beinahe ängstliche Verneinung; und von allem, was sie enthielt, erwiderte er das Zufälligste: »Es ist doch fraglich, ob er anders überhaupt könnte!«

Clarisse blieb stehn, als hätte sie Blitzwurzeln in den Boden geschlagen. »Er muß!« rief sie aus. »Gerade du hast uns doch gelehrt, daß man muß!«

»Das ist richtig« gab der Meister zögernd zu und mahnte durch sein Beispiel vergeblich ans Weitergehn. »Aber was willst du eigentlich?«

»Siehst du, ich habe noch nichts gewollt, ehe du gekommen bist« sagte Clarisse leise. »Aber es ist doch so entsetzlich, dieses Leben, das aus dem Ozean der Lebenslüste nur das bißchen Geschlechtslust holt! Und jetzt will ich etwas.«

»Danach frage ich dich doch« half Meingast nach.

»Man muß zu einem Zweck auf der Welt sein. Man muß zu etwas ›gut‹ sein. Sonst bleibt alles schrecklich verworren« gab Clarisse zur Antwort.

»Hängt es mit Moosbrugger zusammen, was du willst?« forschte Meingast.

»Das kann man nicht erklären. Man muß sehen, was daraus wird!« entgegnete Clarisse. Dann fügte sie nachdenklich hinzu: »Ich werde ihn entführen, ich werde einen Skandal heraufbeschwören!« Ihr Ausdruck veränderte sich dabei zum Geheimnisvollen. »Ich habe dich beobachtet« sagte sie plötzlich. »Es kommen und gehn bei dir geheimnisvolle Leute! Du lädst sie ein, wenn du glaubst, daß wir außer Haus sind. Es sind Knaben und junge Männer! Du sagst nicht, was sie wollen!« Meingast starrte sie fassungslos an. »Du bereitest etwas vor,« fuhr Clarisse fort »du setzt es in Gang! Aber ich –« stieß sie flüsternd hervor »ich bin auch so stark, daß ich mit mehreren gleichzeitig Freundschaft halten kann! Ich habe den Charakter und die Pflichten eines Mannes erworben! Ich habe im Umgang mit Walter männliche Empfindungen erlernt!...« Wieder griff ihre Hand nach Meingasts Arm. Man merkte ihr an, daß sie nichts davon wisse. Die Finger kamen in der Haltung von Krallen aus dem Ärmel hervor. »Ich bin ein Doppelwesen,« wisperte sie »das mußt du wissen! Aber es ist nicht leicht. Du hast recht, daß man dabei die Gewalt nicht scheuen darf!«

Meingast sah sie noch immer verlegen an. Er kannte sie nicht in diesen Zuständen. Der Zusammenhang, den ihre Worte hatten, blieb ihm unverständlich. Für Clarisse war in diesem Augenblick nichts einfacher als der Begriff des Doppelwesens, aber Meingast fragte sich, ob sie etwas von seinem geheimen Umgang erraten habe und darauf anspiele. Es gab noch nicht viel zu erraten; er hatte erst vor kurzem begonnen, in Einklang mit seiner Männer-Philosophie einen Wandel in seinen Empfindungen wahrzunehmen und junge Männer an sich zu ziehn, die etwas mehr bedeuteten als Schüler. Aber vielleicht hatte er deshalb seinen Aufenthalt gewechselt und war hierher gekommen, wo er sich vor Beobachtung sicher fühlte; er hatte noch nie an eine solche Möglichkeit gedacht, und diese kleine, unheimlich gewordene Person zeigte sich anscheinend imstande vorauszuahnen, was sich mit ihm zutrug. Ihr Arm kam auf irgendeine Weise immer länger aus dem Ärmel des Kleids hervor, ohne daß sich die Entfernung zwischen den beiden Körpern, die er verband, geändert hätte, und dieser nackte, magere Unterarm zusammen mit der daran sitzenden Hand, die Meingast berührte, hatte im Augenblick eine so ungewöhnliche Gestalt, daß in der Phantasie des Mannes alles durcheinandergeriet, was vordem noch Grenzen gehabt hatte.

Aber Clarisse brachte nun nicht mehr hervor, was sie soeben noch hatte sagen wollen, obwohl es in ihr klar zutage lag. Die Doppelworte waren Zeichen dafür, verstreut in der Sprache wie Äste, die man knickt, oder Blätter, die man auf den Boden streut, um einen heimlichen Weg finden zu lassen. Es wiesen »Lustmord« und »Anziehen«, so wies aber auch »schnell«, und viele, vielleicht sogar alle anderen Worte wiesen auf zwei Bedeutungen, von denen die eine geheim und persönlich war. Eine doppelte Sprache bedeutet aber ein doppeltes Leben. Die gewöhnliche ist offenbar das der Sünde, die geheime das der Lichtgestalt. So war zum Beispiel »schnell« in seiner Sündengestalt die gewöhnliche aufreibende, alltägliche Eile, in der Lustgestalt schnellte davon aber alles und federte in lustvollen Sprüngen. Dann kann man aber für Lustgestalt auch Kraftgestalt oder Unschuldsgestalt sagen und anderseits die Sündengestalt mit allen Namen nennen, die etwas von Niedergedrücktheit, Flauheit und der Unentschiedenheit des gemeinen Lebens haben. Das waren merkwürdige Beziehungen zwischen den Dingen und dem Ich, so daß etwas, das man tat, seine Wirkung hatte, wo man sie nie vermutet hätte; und je weniger sich Clarisse darüber aussprechen konnte, desto lebhafter entfalteten sich innen die Worte und gingen rascher, als sie einzusammeln waren. Aber eine Überzeugung besaß sie nun schon geraume Zeit: die Pflicht, das Vorrecht, die Aufgabe dessen, was man Gewissen, Wahn, Wille nennt, ist es, die starke Gestalt, die Lichtgestalt zu finden. Es ist die, wo nichts zufällig ist, worin kein Raum ist zu schwanken, wo Glück und Zwang zusammenfallen. Andere Leute haben das »wesentlich leben« genannt, sprachen vom »intelligiblen Charakter«, bezeichneten den Instinkt als die Unschuld und den Intellekt als die Sünde: Clarisse konnte so nicht denken, aber sie hatte die Entdeckung gemacht, man könne ein Geschehen in Gang bringen, und manchmal bänden sich dann von selbst Teile der Lichtgestalt daran und wären auf diese Weise eingekörpert. Aus Gründen, die in erster Linie mit Walters empfindungsreichem Nichtstun zusammenhingen, weiter aber aus heldenhafter Ehrsucht, der immer die Mittel gefehlt hatten, war sie bis zu dem Gedanken geführt worden, jeder Mensch könne sich durch etwas, das er gewalttätig unternehme, ein Denkmal voransetzen und werde dann von diesem nachgezogen. Darum war ihr auch ganz unklar, was sie mit Moosbrugger vorhatte, und sie konnte Meingast nichts auf seine Frage antworten.

Sie wollte es überdies nicht. Walter hatte ihr zwar verboten zu sagen, daß sich der Meister wieder verwandle, aber ohne Zweifel ging dessen Geist zur heimlichen Vorbereitung einer Tat über, von der sie nichts wußte und die so herrlich sein konnte, wie es sein Geist war. Er mußte sie also verstehn, wenn er sich auch verstellte. Je weniger sie sagte, desto mehr zeigte sie ihm ihr Wissen. Sie durfte ihn auch anfassen, und er konnte es ihr nicht verwehren. Er anerkannte damit ihr Vorhaben, und sie drang in das seine ein und hatte teil daran. Auch das war irgendeine Art von Doppelwesen, und ein so starkes, daß es ihr gar nicht mehr klar wurde. Durch ihren Arm floß alles, was sie an Kraft hatte und in seinen Maßen gar nicht kannte, in einem schier unerschöpflichen Strom zu dem geheimnisvollen Freund hinüber und hinterließ sie in einer Ohnmacht und Ausgehöhltheit des Marks, die jede Empfindung der Liebe übertraf. Sie konnte nichts tun, als lächelnd ihre Hand anzuschaun, oder abwechselnd ihm ins Gesicht zu blicken. Und auch Meingast tat nichts anderes, als daß er abwechselnd sie und ihre Hand anblickte.

Und plötzlich geschah dabei etwas, das Clarisse zuerst ganz unvorbereitet traf, dann aber in einen Taumel mänadischen Entzückens versetzte: Meingast hatte in seinem Gesicht ein überlegenes Lächeln festzuhalten versucht, das ihn davor schützen sollte, ihr seine Unsicherheit zu verraten; diese wuchs aber von Minute zu Minute und entstand immer von neuem aus etwas scheinbar Unbegreiflichem. Denn es gibt vor jeder unter Zweifeln verantworteten Tat eine Zeitspanne der Schwäche, die den Augenblicken der Reue nach der Tat entspricht, wenngleich sie im natürlichen Verlauf des Geschehens kaum in Erscheinung tritt. Die Überzeugungen und heftigen Einbildungen, von denen die fertige Handlung geschützt und gutgeheißen wird, haben da noch nicht ihre volle Ausbildung erreicht und schwanken in der zusammenströmenden Leidenschaft ähnlich unsicher und unfest, wie sie vielleicht später in der rückströmenden Leidenschaft der Reue zittern oder zusammenbrechen werden. In diesem Zustand seiner Absichten war Meingast überrascht worden. Es war ihm doppelt peinlich, aus Gründen der Vergangenheit und auch des Ansehens, das er jetzt bei Walter und Clarisse genoß, und jede heftige Erregung ändert noch dazu das Bild der Wirklichkeit in ihrem Sinn, so daß sie daraus neue Steigerung in sich aufnehmen kann: Die Unheimlichkeit, in der sich Meingast befand, machte ihm Clarisse unheimlich, die Furcht gab ihr etwas Furchtbares, und die Versuche, sich nüchtern auf die Wahrheit zu besinnen, vermehrten bloß durch ihre Ohnmacht die Bestürzung. So kam es, daß das Lächeln, statt überlegene Ruhe vorzutäuschen, in seinem Gesicht von einem Augenblick zum andern etwas Steiferes annahm, ja etwas steif Schwebendes und schließlich sogar steif wie auf Stelzen davon zu schweben schien. In diesem Augenblick benahm sich der Meister nicht anders, als es ein großer Hund tut, der ein ungewöhnlich kleines Tier vor sich hat, das er sich nicht anzufallen traut, wie eine Raupe, Kröte oder Schlange: er richtete sich immer höher auf seinen langen Beinen auf, verzog die Lippen und den Rücken und sah sich plötzlich durch die Ströme des Unbehagens von dem Ort fortgezogen, wo sie ihre Quelle hatten, ohne daß er imstande gewesen wäre, seine Flucht durch ein Wort oder eine Gebärde zu verschleiern. Clarisse ließ ihn nicht los; bei den ersten, zögernden Schritten mochte das noch einem arglosen Eifer gleichen, aber später zerrte er sie mit sich und fand kaum die nötigsten Worte, ihr zu erklären, daß er auf sein Zimmer eilen und arbeiten wolle. Es gelang ihm erst im Hausflur, sich ganz von ihr zu befrein, und bis dorthin wurde er nur von seinem Fluchtwillen bewegt, ohne auf Clarissens Worte zu achten und erstickt durch die Vorsicht, die er gleichzeitig anwenden mußte, um Walter und Siegmund nicht aufzufallen. Wirklich hatte Walter diesen Vorgang in seinem allgemeinen Aufbau erraten können. Er gewahrte, daß Clarisse etwas mit Leidenschaft von Meingast fordere, was dieser verweigerte, und eine doppelschraubige Eifersucht bohrte sich in seine Brust. Denn obwohl er aufs schmerzlichste unter der Annahme litt, daß Clarisse ihre Gunst dem Freunde anbiete, war er fast noch heftiger beleidigt, als er sie verschmäht zu sehen glaubte. Führe man das zu Ende, so wollte er Meingast zwingen, daß er Clarisse zu sich nehme, und wäre dann von dem Schwung der gleichen inneren Bewegung in Verzweiflung gestürzt worden. Er war wehmütig und heldisch erregt. Er ertrug es nicht, während Clarisse auf der Schneide ihres Schicksals stand, von Siegmund gefragt zu werden, ob man die Stecklinge in lockeren Boden setzen oder die Erde rings um sie festklopfen müsse. Er mußte etwas sagen und fühlte sich in dem Zustand eines Klaviers in der Hundertstelsekunde zwischen dem Augenblick, wo der zehnfingerige Schwung eines ungeheuren Anschlags hineinfährt, und dem Aufheulen. Er hatte Licht in der Kehle. Worte, die alles ganz anders darstellen mußten als üblich. Aber unerwarteterweise war das einzige, was er hervorbrachte, etwas völlig davon Verschiedenes: »Ich werde es nicht dulden!« wiederholte er, mehr in den Garten hinaus als zu Siegmund.

Nun zeigte sich aber, daß dieser, scheinbar bloß mit Stecklingen und dem Häufeln von Erde beschäftigt, doch auch die Vorgänge beobachtet und sich sogar darüber Gedanken gemacht hatte. Denn Siegmund stand auf, klopfte sich die Knie sauber und gab seinem Schwager einen Rat. »Wenn du glaubst, daß sie zu weit geht, müßtest du sie eben auf andere Ideen bringen« sagte er in einer Art, als verstünde es sich von selbst, daß er die ganze Zeit über mit ärztlicher Gewissenhaftigkeit erwogen habe, was ihm von Walter anvertraut worden sei.

»Wie soll ich das denn machen?!« fragte Walter verdutzt.

»Wie es ein Mann eben tut« sagte Siegmund. »Der Weiber Weh und Ach ist immer von dem gleichen Punkt aus zu kurieren, oder wie es schon heißt!« Er ließ sich sehr viel von Walter gefallen, und das Leben ist voll solcher Beziehungen, wo einer den andern duckt und verdrängt, der sich nicht dagegen auflehnt. Genau genommen und nach Siegmunds eigener Überzeugung: gerade das gesunde Leben ist so. Denn die Welt wäre wahrscheinlich schon zur Zeit der Völkerwanderung zugrunde gegangen, wenn sich jeder bis auf den letzten Blutstropfen gewehrt hätte. Statt dessen haben sich aber immer die Schwächeren nachgiebig verzogen und haben andere Nachbarn gesucht, die von ihnen verdrängt werden konnten; und nach diesem Muster vollziehen sich die menschlichen Beziehungen in ihrer Mehrheit noch bis heute, und alles wird dabei mit der Zeit von selbst gut. Siegmund war in seinem Familienkreis, wo Walter als ein Genie galt, stets ein wenig als Dummkopf behandelt worden, hatte das auch anerkannt und wäre noch heute in jedem Fall der Nachgiebige und Huldigende gewesen, wo der Familienrang auf dem Spiel stand. Denn seit Jahren war diese alte Eingliederung im Verhältnis zu den neu entstandenen Lebensbeziehungen unwichtig geworden und wurde gerade deshalb so gelassen, wie es das Herkommen war. Siegmund hatte nicht nur eine recht gute Praxis als Arzt – und der Arzt herrscht, anders als der Beamte, nicht durch fremde Macht, sondern durch sein persönliches Können, er kommt zu Menschen, die von ihm Hilfe erwarten und sie fügsam entgegennehmen! – sondern besaß auch eine vermögende Frau, die ihm in kurzer Zeit sich und drei Kinder geschenkt hatte und von ihm, wenn auch nicht oft, so doch regelmäßig wenn es ihm paßte, mit anderen Frauen betrogen wurde. Darum war er durchaus in der Lage, wenn er wollte, Walter einen selbstgewissen und verläßlichen Rat zu geben.

In diesem Augenblick kam Clarisse aus dem Haus ins Freie zurück. Sie erinnerte sich nicht mehr, was während des Hinstürmens gesprochen worden war. Wohl wußte sie, daß der Meister vor ihr die Flucht ergriffen hatte; aber diese Erinnerung hatte die Einzelheiten verloren, hatte sich geschlossen und zusammengefaltet. Es war etwas geschehn! Mit dieser einzigen Vorstellung in ihrem Gedächtnis, fühlte sich Clarisse wie ein Mensch, der aus einem Gewitter kommt und noch am ganzen Leib von sinnlicher Kraft geladen ist. Vor sich, wenige Meter vom Fuß der kleinen Steintreppe entfernt, auf die sie hinaustrat, sah sie eine tiefschwarze Amsel mit einem feuerfarbenen Schnabel sitzen, die einen dicken Wurm verspeiste. Es war eine ungeheure Energie in dem Tier oder in den beiden gegensätzlichen Farben. Man hätte nicht sagen können, daß Clarisse dabei etwas dachte; vielmehr antwortete etwas hinter ihr von allen Seiten. Die schwarze Amsel war eine Sündengestalt im Augenblick der Gewaltanwendung. Der Wurm die Sündengestalt eines Schmetterlings. Die beiden Tiere waren ihr vom Schicksal auf den Weg geschickt, als Zeichen, daß sie handeln müsse. Man sah, wie die Amsel die Sünden des Wurms in sich aufnahm durch ihren brennend-orangeroten Schnabel. War sie nicht das »schwarze Genie«? So wie die Taube der »weiße Geist« ist? Bildeten die Zeichen keine Kette? Der Exhibitionist mit dem Zimmermann, mit der Flucht des Meisters...? Nicht einer dieser Einfälle war in solcher entwickelten Form in ihr, sie saßen unsichtbar in den Wänden des Hauses, angerufen, doch ihre Antwort noch bei sich behaltend; aber was Clarisse wirklich fühlte, als sie auf die Treppe hinaustrat und den Vogel sah, der den Wurm fraß, war eine unaussprechliche Übereinstimmung des inneren Geschehens mit dem äußeren.

Sie übertrug sich in einer merkwürdigen Art auf Walter. Der Eindruck, den er empfing, entsprach sofort dem, was er »Gott anrufen« genannt hatte; er kam diesmal ohne alle Unsicherheit darauf. Er konnte nicht ausnehmen, was in Clarisse vor sich gehe, dazu war die Entfernung zu groß; aber etwas Nicht-Zufälliges gewahrte er an ihrer Haltung, wie sie vor der Welt dastand, in die die kleine Treppe hinabführte wie eine Badetreppe ins Wasser. Es war etwas Gehobenes. Es war nicht die Haltung des gewöhnlichen Lebens. Und er begriff plötzlich: Dieses gleiche Nichtzufälligsein meint Clarisse, wenn sie sagt: »Dieser Mann ist nicht zufällig unter meinem Fenster!« Er selbst fühlte, seine Frau anblickend, wie der Druck fremd dahinströmender Kräfte in die Erscheinungen eintrat und sie füllte. In der Tatsache, daß er da und Clarisse dort stand, schräg vor ihm, der sein Auge unwillkürlich nach der Längsachse des Gartens richtete und es drehen mußte, um Clarisse scharf zu sehn: schon in diesem schlichten Verhältnis überwog plötzlich der stumme Nachdruck des Lebens die natürliche Zufälligkeit. Aus der Fülle der sich vor dem Auge drängenden Bilder tauchte etwas Geometrisch-Linienhaftes und Ungewöhnliches empor. So konnte es zugehen, wenn Clarisse in fast stofflosen Übereinstimmungen, wie dem Umstand, daß ein Mann unter ihrem Fenster stünde und ein anderer Zimmermann wäre, einen Sinn fand; die Geschehnisse hatten dann wohl eine Art sich aneinander zu lagern, die anders war als die gewöhnliche, gehörten einem fremden Ganzen an, das andere Seiten an ihnen hervorkehrte, und weil es diese aus ihren unaufdringlichen Verstecken hervorholte, Clarisse zu der Behauptung ermächtigte, sie selbst sei es, die das Geschehen anziehe: Es war schwer, das nüchtern auszudrücken, aber schließlich fiel Walter auf, daß es doch gerade etwas ihm Wohlbekannten aufs nächste verwandt wäre, nämlich dem, was geschehe, wenn man ein Bild male. Auch ein Bild schließt auf eine nicht bekannte Weise jede Farbe und Linie aus, die nicht mit seiner Grundform, seinem Stil, seiner Palette übereinstimmt, und zieht anderseits das aus der Hand, was es braucht, kraft genialer Gesetze, die anders als die gewöhnlichen der Natur sind. In diesem Augenblick war nichts mehr von jenem runden Wohlgefühl der Gesundheit an ihm, das die Auswüchse des Lebens auf das mustert, was sich brauchen ließe, wie er es noch vor kurzem gepriesen hatte; eher das Leid eines Knaben, der sich zu einem Spiel nicht hintraut.

Aber Siegmund war nicht der Mann, wenn er einmal etwas aufgegriffen hatte, es rasch aus der Hand zu legen. »Clarisse ist übernervös« stellte er fest. »Sie hat immer mit dem Kopf durch die Wand wollen, und in irgend etwas steckt ihr Kopf jetzt fest. Du mußt ordentlich anpacken, auch wenn sie sich wehrt!«

»Ihr Ärzte versteht von seelischen Vorgängen nicht das geringste!« rief Walter aus. Er suchte nach einem zweiten Angriffspunkt und fand, ihn. »Du sprichst von Zeichen« fuhr er fort, wobei sich über seine Gereiztheit die Freude lagerte, daß er von Clarisse sprechen konnte »und prüfst besorgt, wann Zeichen eine Störung sind und wann nicht; aber ich sage dir: der wirkliche Zustand des Menschen ist der, wo alles Zeichen ist! Einfach alles! Du kannst vielleicht der Wahrheit ins Auge schaun, aber nie wird dir die Wahrheit ins Auge schaun; dieses göttlich unsichere Gefühl wirst du nie kennen lernen!«

»Ihr seid ja beide verrückt!« bemerkte Siegmund trocken.

»Ja, natürlich sind wir es!« rief Walter aus. »Du bist als Mensch doch unschöpferisch: du hast nie erfahren, was sich ausdrücken bedeutet, daß es für den Künstler überhaupt erst verstehen bedeutet! Der Ausdruck, den wir den Dingen geben, entwickelt erst den Sinn, sie richtig aufzunehmen. Ich verstehe erst, was ich oder ein anderer will, indem ich es ausführe! Das ist unsere lebendige Erfahrung, zum Unterschied von deiner toten! Du wirst natürlich sagen, das sei paradox, eine Verwechslung von Ursache und Wirkung, du, mit deiner medizinischen Kausalität!«

Aber Siegmund sagte nicht das, sondern wiederholte bloß unbeirrt: »Es ist sicher zu ihrem eigenen Vorteil, wenn du dir nicht zuviel von ihr gefallen läßt. Nervöse Menschen bedürfen einer gewissen Strenge.«

»Und wenn ich am offenen Fenster Klavier spiele« fragte Walter, die Warnung seines Schwagers scheinbar überhörend: »was tue ich? Menschen gehen vorbei, vielleicht sind Mädchen darunter, wer will, bleibt stehn, ich spiele für junge Liebespaare und einsame Alte. Es sind Kluge und Dumme. Ich gebe ihnen ja auch nicht Vernunft. Was ich spiele, ist nicht Vernunft. Ich teile mich ihnen mit. Ich sitze unsichtbar in meinem Zimmer und gebe ihnen Zeichen: ein paar Töne, und es ist ihr Leben, und es ist mein Leben. Du könntest wirklich sagen, daß auch das verrückt ist!...« Plötzlich verstummte er. Das Gefühl: »Ach, ich wüßte euch allen wohl etwas zu sagen!«, dieses Grund-Ehrgeiz-Gefühl des sich zur Mitteilung gedrängt fühlenden Erdenbürgers mittleren Schaffensvermögens, klappte zusammen. Jedesmal, wenn Walter in der weichen Leere hinter seinem geöffneten Fenster saß und mit dem hohen Bewußtsein des Künstlers, der tausende Unbekannte beglückt, seine Musik in die Luft hinausließ, war dieses Gefühl wie ein aufgespannter Schirm, und jedesmal war es wie ein schlottrig-eingezogener, sobald er zu spielen aufhörte. Dann war alle Leichtigkeit weg, alles Geschehene war so gut wie nicht geschehen, und er konnte nur noch in der Art sprechen, daß die Kunst den Zusammenhang mit dem Volk verloren habe und alles schlecht sei. Er erinnerte sich daran und wurde mutlos. Er wehrte sich dagegen. Und Clarisse hatte gesagt: Man muß die Musik »bis zu Ende« spielen. Clarisse hatte gesagt: Man versteht etwas nur so lange, als man es selbst mitmacht! Clarisse hatte aber auch gesagt: Darum müssen wir selbst ins Irrenhaus! Der »innere Schirm« Walters flatterte halbeingezogen in unregelmäßigen Sturmstößen.

Siegmund sagte: »Nervöse Menschen brauchen eine gewisse Führung, es ist zu ihrem eigenen Vorteil. Du hast selbst gesagt, daß du das nicht mehr dulden willst. Ich kann dir als Arzt und Mann auch nur das gleiche raten: zeig ihr, daß du ein Mann bist; ich weiß, daß sie sich dagegen wehrt, aber es wird ihr schon gefallen!« Siegmund wiederholte wie eine zuverlässige Maschine unermüdlich das, was nun einmal sein »Ergebnis« geworden war.

Walter, in einem »Sturmstoß«, antwortete: »Diese medizinische Überschätzung des geordneten Geschlechtslebens ist überhaupt von gestern! Wenn ich Musik mache, male oder denke, wirke ich auf Nahe und Ferne, ohne den einen zu nehmen, was ich den anderen gebe. Im Gegenteil! Laß dir nur gesagt sein, daß die private Lebensauffassung heute wahrscheinlich nirgends mehr eine Berechtigung hat! Auch in der Ehe nicht!«

Aber der dichtere Druck war auf Seiten Siegmunds, und Walter segelte vor dem Wind zu Clarisse hinüber, die er während dieses Gesprächs nicht aus den Augen gelassen hatte. Es war ihm unangenehm, daß man von ihm sagen könnte, er sei kein Mann; er kehrte dieser Behauptung den Rücken, indem er sich von ihr zu Clarisse hintreiben ließ. Und auf halbem Wege fühlte er zwischen den sich ängstlich entblößenden Zähnen, daß er mit der Frage beginnen müsse: »Was soll es heißen, daß du von Zeichen redest!?«

Aber Clarisse sah ihn kommen. Sie sah ihn schon auf seinem Platz schwanken, als er noch stand. Dann wurden seine Füße aus der Erde gezogen und trugen ihn her. Clarisse machte das mit einer wilden Lust mit. Die Amsel flog erschreckt auf und nahm hastig ihren Wurm mit. Die Bahn war nun ganz frei für die Anziehung. Aber plötzlich überlegte es sich Clarisse anders und wich einer Begegnung diesmal aus, indem sie langsam längs der Hauswand das Freie suchte, ohne sich aber von Walter abzuwenden, aber schneller, als der Zögernde aus dem Bereich der Fernwirkung in den von Rede und Gegenrede gelangte.


 << zurück weiter >>