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30

Ulrich und Agathe suchen nachträglich einen Grund

 

Und während nun Ulrich las, beobachtete Agathe mutlos sein Mienenspiel. Er hatte sein Gesicht über den Brief geneigt, und der Ausdruck darin schien unentschlossen zu sein, wie er sich entscheiden solle, ob für Spott, Ernst, Kummer oder Verachtung. In diesem Augenblick senkte sich ein schweres Gewicht auf sie; es drang von allen Seiten ein, als verdichte sich die Luft zu unerträglicher Dumpfheit, nachdem zuvor eine unnatürlich köstliche Leichtigkeit geherrscht habe: was Agathe mit dem Testament ihres Vaters getan hatte, bedrückte zum erstenmal ihr Gewissen. Aber es würde nicht genügen, sagte man, daß sie mit einemmal ermaß, wessen sie sich in Wirklichkeit schuldig gemacht habe; vielmehr empfand sie ein solches wirkliches Ermessen im Verhältnis zu allem, auch zu ihrem Bruder, und sie fühlte eine unbeschreibliche Nüchternheit. Alles, was sie getan hatte, erschien ihr unbegreiflich. Sie hatte davon gesprochen, ihren Gatten zu töten, sie hatte ein Testament gefälscht, und sie hatte sich ihrem Bruder angeschlossen, ohne zu fragen, ob sie sein Leben damit störe: in einem einbildungsreichen Rauschzustand hatte sie das getan. Und besonders beschämte es sie in diesem Augenblick, daß ihr der nächste und natürlichste Gedanke dabei völlig gefehlt habe, denn jede andere Frau, die sich von einem Mann freimacht, den sie nicht mag, wird entweder einen besseren suchen oder sich durch Unternehmen anderer, aber ebenso natürlicher Art entschädigen. Oft genug hatte sogar Ulrich selbst darauf hingewiesen, doch hatte sie nie darauf gehört. Nun stand sie da und wußte nicht, was er sagen werde. Ihr Verhalten kam ihr so sehr als das eines wirklich nicht ganz zurechnungsfähigen Wesens vor, daß sie Hagauer recht gab, der ihr in seiner Weise vorhielt, was sie sei; und sein Brief in Ulrichs Hand machte sie ähnlich betroffen, wie es ein Mensch sein mag, der ohnehin unter Anklage steht und nun noch ein Schreiben seines früheren Lehrers erhält, worin ihn dieser seiner Verachtung versichert. Natürlich hatte sie Hagauer niemals einen Einfluß auf sich eingeräumt; trotzdem war die Wirkung so, als dürfte er ihr sagen: »ich habe mich in dir getäuscht!« oder: »ich habe mich leider nie in dir getäuscht und immer das Gefühl gehabt, du wirst ein böses Ende nehmen!« In dem Bedürfnis, diesen lächerlichen und kummervollen Eindruck abzuschütteln, unterbrach sie vor der Zeit Ulrich, der noch immer aufmerksam in dem Brief las und, wie es schien, damit gar nicht fertig werden konnte, mit ungeduldigen Worten:

»Er beschreibt mich eigentlich ganz richtig« ließ sie scheinbar gleichmütig einfließen, aber doch mit dem Nachdruck einer Herausforderung, die deutlich den Wunsch verriet, das Gegenteil zu hören. »Und wenn er es auch nicht ausspricht, so ist es doch wahr: entweder muß ich unzurechnungsfähig gewesen sein, als ich ihn ohne zwingenden Grund heiratete, oder ich bin es jetzt, wo ich ihn mit ebenso wenig Grund verlasse.«

Ulrich, der in diesem Augenblick zum drittenmal die Briefstellen durchlas, die seine Vorstellungsgabe unfreiwillig zum Zeugen des engen Verhältnisses zu Hagauer machten, antwortete zerstreut etwas Unverständliches.

»Aber gib doch nur acht!« bat ihn Agathe. »Bin ich die zeitgemäße, wirtschaftlich oder geistig irgendwie tätige Frau? Nein. Bin ich die verliebte Frau? Auch nicht. Bin ich die gute, ausgleichende, vereinfachende, nestbildende Gefährtin und Mutter? Schon gar nicht. Was bleibt da noch übrig? Wozu bin ich also auf der Welt? Die Geselligkeit, in der wir uns bewegen, das muß ich dir doch gleich sagen, ist mir im Grunde völlig gleichgültig. Und ich glaube beinahe, was es an Musik, Dichtung und Kunst gibt, das gebildete Kreise entzückt, könnte ich auch ganz gut entbehren. Hagauer zum Beispiel nicht; Hagauer braucht das allein schon für seine Zitate und Hinweise. Er hat wenigstens das Erfreuliche und Ordentliche einer Sammlung immer für sich: Ist er also nicht im Recht, wenn er mir vorwirft, daß ich nichts leiste, daß ich mich dem Reichtum des Schönen und Sittlichen verweigere und daß ich höchstens noch bei Professor Hagauer Verständnis und Nachsicht finden kann?!«

Ulrich gab ihr das Schreiben zurück und erwiderte in Ruhe: »Sehen wir der Sache ins Gesicht: Du bist mit einem Wort doch wirklich sozial schwachsinnig!« Er lächelte, aber in seinem Ton war die Gereiztheit zu spüren, die der Einblick in diesen vertrauten Brief in ihm zurückgelassen hatte.

Agathe aber war es nicht recht, daß ihr Bruder so antworte. Es vergrößerte ihren Kummer. Nun fragte sie mit schüchternem Spott: »Warum hast du denn, wenn es so ist, ohne mir etwas zu sagen, darauf bestanden, daß ich geschieden werde und meinen einzigen Beschützer verliere?«

»Ach, vielleicht deshalb,« meinte Ulrich ausweichend »weil es so herrlich einfach ist, in einem festen männlichen Ton miteinander zu verkehren. Ich habe mit der Faust auf den Tisch geschlagen, er hat mit der Faust auf den Tisch geschlagen; natürlich mußte ich dann doppelt so heftig auf den Tisch schlagen: Ich glaube, deshalb habe ich es getan.«

Bisher hatte sich Agathe, obwohl ihre Verstimmung verhinderte, daß sie es selbst merke, doch sehr, ja wild darüber gefreut, daß ihr Bruder heimlich das Gegenteil von dem getan habe, was er in der Zeit des scherzhaft tändelnden Geschwisterspiels offen an den Tag legte; denn daß er Hagauer beleidigte, konnte scheinbar nur den Zweck haben, hinter ihr ein Hindernis zu errichten, das jede Umkehr ausschlösse. Aber jetzt war auch an der Stelle dieser verborgenen Freude nur der hohle Verlust, und Agathe verstummte.

»Wir dürfen nicht übersehn,« fuhr Ulrich fort »wie gut es Hagauer in seiner Art gelingt, dich, wenn ich so sagen darf, beinahe treffend mißzuverstehn. Gib acht, er wird auf seine Weise, ohne Detektivbüro, bloß indem er über die Schwächen deines Verhältnisses zur Menschheit nachzudenken beginnt, noch herausfinden, was du mit Vaters Testament vorgenommen hast. Wie wollen wir dich dann verteidigen?«

Zum erstenmal, seit sie wieder beisammen waren, kam so zwischen den Geschwistern die Rede auf den unselig-seligen Streich, den Agathe gegen Hagauer geführt hatte. Heftig zuckte sie die Achseln und machte eine unbestimmte Abwehrbewegung.

»Hagauer ist natürlich im Recht« gab ihr Ulrich sanft und nachdrücklich zu bedenken.

»Er ist nicht im Recht!« entgegnete sie mit Bewegung.

»Er hat teilweise recht« vermittelte Ulrich. »Wir müssen in einer so gefährlichen Lage mit einem völlig klaren Selbstbekenntnis beginnen. Was du getan hast, kann uns beide ins Zuchthaus bringen.«

Agathe sah ihn mit erschreckt geöffneten Augen an. Eigentlich wußte sie das ja, aber es war noch nie so unbezweifelt ausgesprochen worden.

Ulrich antwortete mit einer freundlichen Gebärde. »Das ist noch nicht das Schlimmste« fuhr er fort. »Aber wie halten wir das, was du getan hast, und auch die Art, wie du es getan hast, von dem Vorwurf frei, daß es –« Er suchte nach einem Ausdruck, der ihm genügen sollte, und fand keinen: »Also, sagen wir einfach, daß es doch ein wenig so ist, wie Hagauer meint; daß es sich nach der Seite des Schattens neigt, der Ausfallserscheinungen, der Fehler, die aus etwas Fehlendem entstehn? Hagauer vertritt die Stimme der Welt, wenn sie auch lächerlich in seinem Mund klingt.«

»Jetzt kommt die Tabaksdose« rief Agathe kleinlaut aus.

»Jawohl, jetzt kommt sie« antwortete Ulrich beharrlich. »Ich muß dir etwas sagen, was mich schon lange bedrückt.«

Agathe wollte ihn nicht zu Wort kommen lassen. »Ist es nicht besser, wir machen es ungeschehn?!« fragte sie. »Vielleicht sollte ich gütlich mit ihm sprechen und ihm irgendeine Entschuldigung anbieten?«

»Dazu ist es schon zu spät. Er könnte es jetzt als Werkzeug gebrauchen, um dich zu zwingen, daß du zu ihm zurückkehrst« erklärte Ulrich.

Agathe schwieg.

Ulrich fing mit der Tabaksdose an, die ein wohlhabender Mann im Hotel stiehlt. Er hatte sich eine Theorie gemacht, daß es nur drei Gründe für ein solches Eigentumsvergehen gebe: Not, Beruf oder, wenn keines von beiden zutrifft, eine beschädigte seelische Anlage. »Du hast mir, als wir einmal davon sprachen, eingewandt, man könne es auch aus Überzeugung tun« fügte er hinzu.

»Ich habe gesagt, man könne es einfach tun!« warf Agathe ein.

»Nun ja: aus Prinzip.«

»Nein, nicht aus Prinzip!«

»Also, das ist es eben!« sagte Ulrich. »Wenn man so etwas tut, so muß man wenigstens eine Überzeugung damit verbinden! Ich komme nicht darüber hinweg! Man tut nichts ›einfach‹; entweder ist es von außen begründet oder von innen. Das mag sich wohl nicht leicht trennen lassen, aber darüber wollen wir jetzt nicht philosophieren; ich sage bloß: wenn man etwas ganz Unbegründetes für recht hält oder wenn gar ein Entschluß wie aus dem Nichts entsteht, dann verdächtigt man sich einer krankhaften oder schadhaften Anlage.«

Damit war nun freilich weit mehr und Schlimmeres gesagt, als Ulrich wollte; es deckte sich bloß in der Richtung mit seinen Bedenken.

»Ist das alles, was du mir darüber mitzuteilen hast?« fragte Agathe still.

»Nein, es ist nicht alles« erwiderte Ulrich erbittert: »Wenn man keinen Grund hat, so muß man einen suchen!«

Keiner von beiden war darüber in Zweifel, wo sie ihn suchen müßten. Aber Ulrich wollte es anders und sagte nach einer kleinen Weile des Schweigens nachdenklich: »In dem Augenblick, wo du dich aus dem Einklang mit den anderen hinausbegibst, wirst du in alle Ewigkeit nicht mehr wissen, was gut und was böse ist. Willst du gut sein, so mußt du also überzeugt sein, daß die Welt gut ist. Und das sind wir beide nicht. Wir leben in einer Zeit, wo die Moral entweder in Auflösung oder in Krämpfen ist. Aber um einer Welt willen, die noch kommen kann, soll man sich rein halten!«

»Glaubst du denn, daß das irgendeinen Einfluß darauf hat, ob sie kommt oder nicht?« wandte Agathe ein.

»Nein, das glaube ich leider nicht. Höchstens so glaube ich es: Wenn auch die Menschen, die das sehen, nicht richtig handeln, so kommt sie gewiß nicht und der Verfall ist nicht aufzuhalten!«

»Was hast du denn davon, ob es in fünfhundert Jahren anders sein wird oder nicht?!«

Ulrich zögerte. »Ich tue meine Pflicht, verstehst du? Vielleicht wie ein Soldat.«

Wahrscheinlich lag es daran, daß Agathe an diesem Unglücksmorgen eines anderen und zärtlicheren Trostes bedürftig war, als ihn Ulrich gab: sie erwiderte: »Am Ende bloß wie dein General?!«

Ulrich schwieg.

Agathe mochte nicht einhalten. »Du bist doch gar nicht sicher, ob es deine Pflicht ist« fuhr sie fort. »Du tust es, weil du eben so bist und weil es dir Freude macht. Etwas anderes habe ich auch nicht getan!«

Sie verlor plötzlich die Selbstbeherrschung. Irgend etwas war sehr traurig. Sie hatte mit einemmal Tränen in den Augen, und in der Kehle würgte ein heftiges Schluchzen. Um das zu verbergen und nicht den Augen ihres Bruders darzubieten, schlang sie die Arme um seinen Hals und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter. Ulrich fühlte, wie sie weinte und ihr Rücken zitterte. Eine lästige Verlegenheit beschlich ihn: er bemerkte sich kalt werden. So viele zärtliche und glückliche Gefühle er auch für seine Schwester zu besitzen glaubte, sie waren in diesem Augenblick, der ihn rühren mußte, nicht da; sein Empfinden war verstört und kam nicht in Tätigkeit. Er streichelte Agathe und flüsterte einige Trostworte, aber es widerstrebte ihm. Und weil die geistige Miterregung fehlte, kam ihm die Berührung der beiden Körper wie die zweier Strohwische vor. Er machte dem ein Ende, indem er Agathe zu einem Stuhl führte und sich selbst einige Schritte von ihr entfernt in einen anderen setzte. Dabei erwiderte er auf das, was sie eingewandt hatte, mit den Worten: »Die Geschichte mit dem Testament macht dir ja gar keine Freude! Und wird dir auch nie eine machen, weil sie etwas Unordentliches gewesen ist!«

»Ordnung?!« rief Agathe unter Tränen aus. »Pflicht?!«

Sie war eigentlich ganz fassungslos, weil sich Ulrich so kalt betragen hatte. Aber sie lächelte schon wieder. Sie begriff, daß sie mit sich allein fertig werden müsse. Sie hatte die Empfindung, das Lächeln, das ihr hervorzubringen gelang, schwebe sehr weit vor ihren eisigen Lippen. Ulrich dagegen war jetzt frei von Verlegenheit, es kam ihm sogar schön vor, daß sich die gewöhnliche körperliche Rührung bei ihm nicht eingestellt hatte; es leuchtete ihm ein, daß auch das zwischen ihnen beiden anders sein müsse. Er hatte aber nicht Zeit darüber nachzudenken, denn er sah, daß Agathe sehr in Mitleidenschaft gezogen war, und deshalb fing er zu sprechen an. »Laß dich nicht durch die Worte kränken, die ich benutzt habe,« bat er »und verüble sie mir nicht! Wahrscheinlich habe ich unrecht, wenn ich solche Worte wie Ordnung und Pflicht wähle; sie muten ja auch an wie eine Predigt. Aber warum,« unterbrach er das gleich wieder »warum, zum Teufel, sind Predigten verächtlich? Sie müßten doch unser höchstes Glück sein?!«

Agathe hatte gar keine Lust, darauf zu antworten.

Ulrich ließ von seiner Frage ab.

»Glaub nicht, daß ich mich vor dir als der Gerechte aufspielen möchte!« bat er. »Ich habe nicht sagen wollen, daß ich nichts Schlechtes täte. Bloß es heimlich tun müssen, das mag ich nicht. Ich liebe die Räuber der Moral, und nicht die Diebe. Ich möchte also einen moralischen Räuber aus dir machen« scherzte er »und gestatte dir nicht, aus Schwäche zu fehlen!«

»Ich habe da keinen Ehrenstandpunkt!« sagte seine Schwester hinter ihrem sehr weit von ihr entfernten Lächeln.

»Es ist ja furchtbar lustig, daß es Zeiten wie unsere gibt, wo alle jungen Menschen für das Schlechte eingenommen sind!« warf er lachend ein, um das Gespräch vom Persönlichen zu entfernen. »Diese heutige Vorliebe für das moralisch Gruselige ist natürlich eine Schwäche. Wahrscheinlich bürgerliche Übersättigung am Guten; sein Ausgelutschtsein. Ich selbst habe auch ursprünglich gedacht, daß man zu allem Nein sagen müsse; alle haben so gedacht, die heute zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig sind; aber das war natürlich nur eine Art Mode: ich könnte mir vorstellen, daß jetzt bald der Umschwung und mit ihm eine Jugend kommt, die sich statt der Unmoral wieder die Moral ins Knopfloch stecken wird. Die ältesten Esel, die nie in ihrem Leben das Erregende der Moral verspürt und bei Gelegenheit bloß moralische Gemeinplätze von sich gegeben haben, werden dann plötzlich Vorläufer und Pioniere eines neuen Charakters sein!«

Ulrich war aufgestanden und ging unruhig hin und her. »Wir können vielleicht so sagen« schlug er vor: »Das Gute ist beinahe schon seiner Natur nach Gemeinplatz, das Böse bleibt Kritik! Das Unmoralische gewinnt sein himmlisches Recht als eine drastische Kritik des Moralischen! Es zeigt uns, daß das Leben auch anders geht. Es straft Lügen. Dafür danken wir ihm mit einer gewissen Nachsicht! Daß es Testamentsfälscher gibt, die über jeden Zweifel reizend sind, sollte beweisen, daß an der Unverbrüchlichkeit des Eigentums etwas nicht stimmt. Vielleicht bedarf das ja keines Beweises; aber da fängt dann die Aufgabe an: denn wir müssen uns zu jeder Art von Verbrechen entschuldigte Verbrecher als möglich denken, selbst zum Kindesmord oder was es sonst Greuliches gibt –«

Er hatte vergeblich einen Blick seiner Schwester zu fangen gesucht, obwohl er sie mit der Erwähnung des Testaments neckte. Jetzt machte sie eine unwillkürliche Bewegung der Abwehr. Sie war keine Theoretikerin, sie konnte nur ihr eigenes Verbrechen entschuldigt finden, sie war durch seinen Vergleich eigentlich von neuem beleidigt.

Ulrich lachte. »Es sieht wie eine Spielerei aus, hat aber Bedeutung,« versicherte er »daß wir so jonglieren können. Es beweist, daß an der Bewertung unseres Tuns etwas nicht stimmt. Und es stimmt ja auch nicht: Du selbst wärest in einer Gesellschaft von Testamentsfälschern ganz gewiß für die Unantastbarkeit der rechtlichen Bestimmungen; bloß in einer Gesellschaft von Gerechten verwischt und verkehrt sich das. Ja, du würdest sogar, wenn Hagauer ein Lump wäre, glühend gerecht sein; es ist geradezu ein Unglück, daß schon er anständig ist! So wird man hin- und hergestoßen!«

Er wartete auf eine Antwort, die nicht kam; so zuckte er die Achseln und wiederholte: »Wir suchen einen Grund für dich. Wir haben festgestellt, daß sich die honetten Menschen gar zu gern, wenn auch natürlich nur in der Phantasie, auf Verbrechen einlassen. Wir dürfen hinzufügen, daß dafür die Verbrecher, wenn man sie selbst hört, fast ohne Ausnahme als honette Menschen gelten möchten. Also könnte man geradezu definieren: Verbrechen sind die in den Herrn Sündern stattfindende Vereinigung alles dessen, was die andern Menschen in kleinen Unregelmäßigkeiten abströmen lassen. Das heißt in der Phantasie und in tausend alltäglichen Bosheiten und Lumpereien der Gesinnung. Man könnte auch sagen: die Verbrechen liegen in der Luft und suchen sich bloß einen Weg des geringsten Widerstandes, der sie zu bestimmten Menschen hinführt. Man könnte sogar sagen, sie sind zwar auch die Handlungen von Individuen, die der Moral nicht fähig sind, in der Hauptsache sind sie aber der zusammengezogene Ausdruck irgendeines allgemeinen menschlichen Mißverhaltens in der Scheidung zwischen Gut und Böse. Das ist es, was uns schon von Jugend an mit der Kritik erfüllt hat, über die unsere Zeitgenossenschaft nicht hinausgekommen ist!«

»Aber was ist denn Gut und Bös?« warf Agathe hin, ohne daß Ulrich bemerkte, daß er sie mit seiner Unbefangenheit peinige.

»Ja, das weiß ich doch nicht!« antwortete er lachend. »Ich bemerke doch soeben erst und zum erstenmal, daß ich das Böse verabscheue. Ich habe es wirklich bis heute nicht in dem Maße gewußt. Ach, Agathe, du hast ja keine Ahnung, wie das ist« klagte er nachdenklich; »zum Beispiel die Wissenschaft! Für einen Mathematiker ist, um es ganz einfach zu sagen, Minus Fünf nicht schlechter als Plus Fünf. Ein Forscher darf vor nichts Abscheu haben und wird von einem schönen Krebsfall unter Umständen freudiger erregt als von einer schönen Frau. Ein Wissender weiß, daß nichts wahr ist und die ganze Wahrheit erst am Ende aller Tage liegt. Die Wissenschaft ist amoralisch. Dieses ganze herrliche Eindringen ins Unbekannte entwöhnt uns der persönlichen Beschäftigung mit unserem Gewissen, ja es gewährt uns nicht einmal die Genugtuung, sie ganz ernst zu nehmen. Und die Kunst? Bedeutet sie nicht dauernd ein Schaffen von Bildern, die mit dem des Lebens nicht übereinstimmen? Ich rede nicht von dem falschen Idealismus oder von der Üppigkeit des Aktmalens zu Zeiten, wo man bis zur Nasenspitze angezogen lebt« scherzte er nun wieder. »Aber denk an ein wirkliches Kunstwerk: Hast du nie das Gefühl gehabt, daß etwas daran an den brenzlichen Geruch erinnert, der von einem Messer aufsteigt, das du an einem Stein schleifst? Es ist ein kosmischer, meteorischer, gewittriger Geruch, himmlisch unheimlich!?«

Hier war die einzige Stelle, wo ihn Agathe aus eigenem Antrieb unterbrach. »Hast du nicht früher selbst Gedichte gemacht?« fragte sie ihn.

»Das weißt du noch? Wann habe ich dir das einbekannt?« fragte Ulrich. »Ja; wir machen doch alle irgendwann Gedichte. Ich habe es sogar noch als Mathematiker getan« gab er zu. »Aber sie sind, je älter ich wurde, desto schlechter geworden; und ich glaube, nicht so sehr aus Talentlosigkeit wie aus wachsender Abneigung gegen das Unordentliche und zigeunerhaft Romantische dieser Gefühlsabschweifung –«

Seine Schwester schüttelte bloß leise den Kopf, aber Ulrich bemerkte es. »Doch!« beharrte er. »Ein Gedicht soll doch genau so wenig bloß ein Ausnahmezustand sein wie eine Tat der Güte! Aber wo kommt denn, wenn ich so fragen darf, der Augenblick der Erhebung im nächsten Augenblick hin? Du liebst Gedichte, das weiß ich: aber was ich sagen will, ist, daß man nicht bloß den Feuergeruch in der Nase haben darf, bis er sich verflüchtigt. Dieses unvollständige Verhalten ist genau das Seitenstück zu dem in der Moral, das sich in halbfertiger Kritik erschöpft.« Und plötzlich zur Hauptsache zurückkehrend, entgegnete er seiner Schwester: »Wenn ich mich in dieser Hagauer-Sache so verhielte, wie du es heute von mir erwartest, dann müßte ich doch skeptisch, lässig und ironisch sein. Die sicher sehr tugendhaften Kinder, die du oder ich vielleicht noch haben könnten, werden dann wahrhaftig von uns sagen, daß wir in eine bürgerlich sehr geborgene Zeit gehört haben, die sich keine Sorgen gemacht hat oder höchstens überflüssige. Und wir haben uns mit unserer Überzeugung doch schon soviel Mühe gegeben –!«

Ulrich wollte wahrscheinlich noch vieles sagen; er zögerte ja eigentlich nur mit dem Einsatz, den er für seine Schwester bereit hatte, und es wäre gut gewesen, hätte er ihr das verraten. Denn plötzlich stand sie auf und machte sich unter einem flüchtigen Vorwand zum Ausgehen bereit. »Es bleibt also dabei, daß ich moralisch schwachsinnig bin?« fragte sie mit einem erzwungenen Versuch zu scherzen. »Ich komme mit dem allen, was du dagegen sagst, nicht mehr mit!«

»Wir beide sind moralisch schwachsinnig!« versicherte Ulrich höflich. »Wir beide!« Und er war etwas verstimmt durch die Eile, mit der ihn seine Schwester verließ, ohne zu sagen, wann sie wiederkäme.


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