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32

Der General bringt Ulrich und Clarisse inzwischen ins Irrenhaus

 

Indes sich Ulrich allein zu Hause befand, fragte das Kriegsministerium an, ob ihn der Herr Leiter des Militär-Erziehungs- und Bildungswesens persönlich sprechen könnte, wenn er in einer halben Stunde zu ihm käme, und fünfunddreißig Minuten später schäumte das Dienstgespann des Generals von Stumm die kleine Rampe herauf.

»Eine schöne Geschichte!« rief der General seinem Freund entgegen, dem es gleich auffiel, daß die Ordonnanz mit dem Brot des Geistes diesmal fehlte. Der General war in Waffenrock und hatte sogar die Orden angelegt. »Du hast mir eine schöne Geschichte eingebrockt!« wiederholte er. »Heute abend ist bei deiner Kusine große Sitzung. Ich habe noch nicht einmal meinem Chef darüber Vortrag halten können. Und da platzt jetzt die Nachricht, daß wir ins Narrenhaus sollen; spätestens in einer Stunde müssen wir dort sein!«

»Aber warum denn?!« fragte Ulrich, wie es nahelag. »Gewöhnlich überläßt man das doch einer Vereinbarung!?«

»Frag nicht so viel!« flehte ihn der General an. »Telefonier lieber augenblicklich deiner Freundin oder Kusine oder was sie ist, daß wir sie abholen müssen!«

Während Ulrich nun den Krämer anrief, bei dem Clarisse ihre kleinen Einkäufe zu besorgen pflegte, und darauf wartete, daß sie an den Fernsprecher käme, erfuhr er das Unglück, das der General beklagte. Dieser hatte sich, um Clarissens durch Ulrich vermitteltem Wunsch zu willfahren, an den Chef des Militärärztlichen Dienstes gewendet, der sich wieder mit seinem berühmten Zivilkollegen, dem Vorstand der Universitätsklinik, in Verbindung gesetzt hatte, wo Moosbrugger einem Obergutachten entgegenharrte. Durch ein Mißverständnis der beiden Herren war dabei aber auch gleich Tag und Stunde verabredet worden, und Stumm hatte das mit vielen Entschuldigungen erst im letzten Augenblick erfahren, zugleich mit dem Irrtum, daß er selbst dem berühmten Psychiater angekündigt worden sei, der seinem Besuch mit großem Vergnügen entgegensehe.

»Mir ist übel!« erklärte er. Das war eine alte und eingebürgerte Formel dafür, daß er sich einen Schnaps wünsche.

Als er diesen getrunken hatte, ließ die Spannung seiner Nerven nach. »Was geht mich ein Narrenhaus an? Nur deinethalben muß ich hin!« klagte er. »Was soll ich überhaupt diesem blöden Professor sagen, wenn er mich fragt, warum ich mitgekommen bin?«

In diesem Augenblick ertönte am anderen Ende der Fernsprechleitung ein jubelnder Kriegsschrei.

»Schön!« sagte der General verdrießlich. »Aber ich muß außerdem dringend mit dir über heute abend reden. Und ich muß dem Exzellenz noch darüber Vortrag halten. Und um vier geht er weg!« Er sah nach seiner Uhr und rührte sich nicht vom Stuhl vor Hoffnungslosigkeit.

»Also ich bin ja fertig!« erklärte Ulrich.

»Deine Gnädige kommt nicht mit?« fragte Stumm erstaunt.

»Meine Schwester ist nicht zu Hause.«

»Schade!« bedauerte der General. »Deine Schwester ist die bewundernswerteste Frau, die ich je gesehen habe!«

»Ich dachte, das sei Diotima?« meinte Ulrich.

»Auch« erwiderte Stumm. »Auch sie ist bewundernswert. Aber seit sie sich der Sexualwissenschaft ergibt, komme ich mir wie ein Schulbub vor. Ich blicke ja gern zu ihr auf; denn, mein Gott, der Krieg ist, wie ich immer sag, ein einfaches und rauhes Handwerk; aber gerade auf sexuellem Gebiet widerstrebt es sozusagen der Offiziersehre, sich als Laie behandeln zu lassen!«

Sie hatten indessen doch den Wagen bestiegen und waren im schärfsten Trab davongefahren.

»Ist deine Freundin wenigstens hübsch?« erkundigte sich Stumm mißtrauisch.

»Eigenartig ist sie, du wirst ja sehen« erwiderte Ulrich.

»Also heute abend« seufzte der General »beginnt etwas. Ich erwarte ein Ereignis.«

»Das hast du noch jedesmal gesagt, wenn du zu mir gekommen bist« verwahrte sich Ulrich lächelnd.

»Kann schon sein, aber trotzdem ist es wahr. Und heute abend wirst du Zeuge der Entrevue zwischen deiner Kusine und der Professor Drangsal sein. Du hast doch hoffentlich nicht alles vergessen, was ich dir schon darüber gesagt hab? Also die Drangsal – so nennen wir sie nämlich, deine Kusine und ich – die Drangsal also hat deine Kusine so lang drangsaliert, bis es dazu gekommen ist; alle Leut hat sie haranguiert, heute sollen sich die zwei aussprechen. Wir haben bloß noch auf den Arnheim gewartet, damit er sich auch ein Urteil bilden kann.«

»So?« Das hatte Ulrich auch nicht gewußt, daß Arnheim, den er lange nicht gesehen hatte, zurückgekommen sei.

»Aber natürlich. Für ein paar Tage« erläuterte Stumm. »Da haben wir die Sache in die Hand nehmen müssen –« Plötzlich unterbrach er sich und prallte aus den schwankenden Polstern mit einer Geschwindigkeit gegen den Kutschbock, die ihm niemand zugetraut hätte: »Sie Trottel,« brüllte er gemessen ins Ohr der Ordonnanz, die als Zivilfuhrmann verkleidet die ministeriellen Pferde lenkte, und klammerte sich, hilflos gegen die Schwankungen des Wagens, an den Rücken des Beschimpften. »Sie fahren ja einen Umweg!« Der Soldat in Zivil hielt den Rücken steif wie ein Brett, empfindungslos gegen die außerdienstlichen Rettungsversuche, die der General daran anstellte, warf den Kopf genau um neunzig Grad herum, so daß er weder seinen General, noch seine Pferde sehen konnte, und meldete stolz einer ins Leere endenden Senkrechten, daß der nächste Weg wegen Straßenarbeiten auf dieser Strecke nicht zu befahren sei, aber bald wieder erreicht sein werde. »Na also, da habe ich doch recht!« rief Stumm zurückfallend aus, teils vor der Ordonnanz, teils vor Ulrich den vergeblichen Ausbruch seiner Ungeduld beschönigend: »Da muß der Kerl einen Umweg fahren, und ich soll doch meinem Exzellenz heute noch Vortrag halten, der um vier Uhr nach Haus will und selbst noch vorher dem Minister einen Vortrag halten muß! ... Seine Exzellenz, der Minister, hat sich nämlich für heute abend persönlich bei Tuzzis angesagt!« fügte er, ausschließlich für Ulrichs Ohren, leiser hinzu.

»Was du nicht sagst?!« Ulrich zeigte sich von dieser Nachricht überrascht.

»Ich sag dir ja schon lang, es liegt was in der Luft.«

Jetzt wollte Ulrich doch wissen, was in der Luft liege. »So sag schon, was der Minister will?!« forderte er.

»Das weiß er doch selbst nicht« erwiderte Stumm gemütlich. »Seine Exzellenz hat das Gefühl: jetzt ist es an der Zeit. Der alte Leinsdorf hat auch das Gefühl: jetzt ist es an der Zeit. Der Chef des Generalstabs hat ebenfalls das Gefühl: jetzt ist es an der Zeit. Wenn viele das haben, dann kann schon etwas Wahres daran sein.«

»Aber wozu an der Zeit?« forschte Ulrich weiter.

»Das braucht man deshalb noch nicht zu wissen!« belehrte ihn der General. »Das sind eben so absolute Eindrücke! Wie viele werden wir übrigens heute sein?« fragte nun er, sei es zerstreut, sei es nachdenklich.

»Wie kannst du das mich fragen?« erwiderte Ulrich erstaunt.

»Ich habe jetzt gemeint,« erklärte Stumm »wieviel wir sein werden, die ins Narrenhaus gehn? Entschuldige! Komisch was, so ein Mißverständnis? Es gibt halt Tage, wo zu viel auf einen eindringt! Also wieviel werden wir sein?«

»Ich weiß nicht, wer mitkommt; je nachdem drei bis sechs Leute.«

»Ich hab nämlich sagen wollen,« äußerte der General bedenklich »wenn wir mehr als drei sind, müssen wir einen zweiten Wagen nehmen. Du verstehst, weil ich in Uniform bin.«

»Ja, natürlich« beruhigte ihn Ulrich.

»Da darf ich nicht wie in einer Sardinenbüchse fahren.«

»Gewiß. Aber sag, wie kommst du auf die absoluten Eindrücke?«

»Aber werden wir denn da draußen auch einen Wagen bekommen?« grübelte Stumm. »Da sagen sich doch die Füchs gute Nacht!?«

»Wir werden unterwegs einen mitnehmen« erwiderte Ulrich entschieden. »Und jetzt erklär mir, bitte, wieso ihr den absoluten Eindruck habt, daß jetzt etwas an der Zeit sei?«

»Da ist gar nichts zu erklären« entgegnete Stumm. »Wenn ich von etwas sag, daß es absolut so und nicht anders sein muß, dann heißt das doch gerade, daß ich es nicht erklären kann! Man könnte höchstens hinzufügen, daß die Drangsal so eine Art Pazifistin ist, wahrscheinlich, weil der Feuermaul, den sie lanziert, Gedichte darüber macht, daß der Mensch gut ist. Daran glauben jetzt viele.«

Ulrich wollte ihm nicht traun. »Du hast mir doch erst unlängst das Gegenteil erzählt: daß man in der Aktion jetzt für eine Tat ist, für die starke Hand und ähnliches!«

»Auch« gab der General zu. »Und einflußreiche Kreise setzen sich halt für die Drangsal ein; so etwas versteht sie ja ausgezeichnet. Man verlangt von der Vaterländischen Aktion eine Handlung der menschlichen Güte.«

»So?« sagt Ulrich.

»Ja, Du kümmerst dich eben auch um gar nichts mehr! Anderen Leuten macht das Sorgen. Ich erinnere dich zum Beispiel daran, daß der deutsche Bruderkrieg von Sechsundsechzig daraus entstanden ist, daß sich alle Deutschen im Frankfurter Parlament als Brüder erklärt haben. Natürlich will ich damit nicht im geringsten gesagt haben, daß vielleicht der Kriegsminister oder der Generalstabschef diese Sorgen hat; das wäre ein Unsinn von mir. Aber es kommt halt so eins zum andern: So ist es! Verstehst du mich?«

Das war nicht klar, aber es war richtig. Und dem fügte der General etwas sehr Weises hinzu. »Schau, du verlangst immer Klarheit« hielt er seinem Nachbarn vor. »Ich bewundere dich ja dafür, aber du mußt auch einmal geschichtlich denken: Wie sollen denn die an einem Ereignis unmittelbar Beteiligten im voraus wissen, ob es ein großes wird? Doch höchstens, weil sie sich einbilden, daß es eines ist! Wenn ich also paradox sein darf, möchte ich behaupten, daß die Weltgeschichte früher geschrieben wird, als sie geschieht; sie ist zuerst immer so eine Art Tratsch. Und da stehen die energischen Menschen eben vor einer sehr schwierigen Aufgabe.«

»Da hast du recht« lobte Ulrich. »Und jetzt erzähl mir doch alles!«

Aber der General wurde, obwohl er selbst davon zu sprechen wünschte, in diesen überlasteten Augenblicken, als die Pferdehufe schon weichen Straßengrund zu treten begannen, plötzlich wieder von anderen Sorgen ergriffen: »Ich bin doch für den Minister, falls er mich rufen läßt, schon angezogen wie ein Christbaum« rief er aus und unterstrich es, indem er auf seinen hellblauen Waffenrock und die daran hängenden Orden hinwies: »Meinst du nicht, daß es zu peinlichen Zwischenfällen führen kann, wenn ich mich so in Uniform den Narren zeige? Was mach ich zum Beispiel, wenn einer meinen Rock beleidigt? Da kann ich doch nicht den Säbel ziehn, und zu schweigen ist für mich auch höchst gefährlich!?«

Ulrich beruhigte seinen Freund, indem er ihm in Aussicht stellte, daß er über der Uniform einen weißen Arztkittel tragen werde; aber ehe sich Stumm noch von dieser Lösung zufriedengestellt erklärt hatte, begegnete ihnen Clarisse in großer Sommerkleidung, die ihnen, von Siegmund begleitet, ungeduldig auf dem Fahrweg entgegenkam. Sie erzählte Ulrich, daß sich Walter und Meingast geweigert hätten mitzukommen. Und nachdem auch ein zweiter Wagen aufgetrieben war, sagte der General zufrieden zu Clarisse: »Gnädige haben, wie Sie da den Weg herabgekommen sind, ausgesehen wie ein Engerl!«

Als er aber beim Tor der Klinik den Wagen verließ, sah Stumm von Bordwehr rot und etwas verstört aus.


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