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Familie zu zweien
Ulrich sagt: »Wenn zwei Männer oder Frauen miteinander durch längere Zeit einen Raum teilen müssen – auf der Reise, im Schlafwagen oder überfüllten Gasthof –, so freunden sie sich nicht selten wunderlich an. Jeder hat eine andere Art, sich den Mund auszuspülen oder sich beim Abziehn der Schuhe zu bücken oder das Bein zu krümmen, wenn er sich ins Bett legt. Die Wäsche und Kleidung, im ganzen gleich, zeigt im einzelnen unzählige kleine Verschiedenheiten, die sich vor dem Auge auftun. Es ist – wahrscheinlich durch den übermäßig gespannten Individualismus der heutigen Lebensart – anfangs ein Widerstand da, der einem leichten Abscheu gleicht und ein Zunahekommen, eine Verletzung der eigenen Persönlichkeit abwehrt, so lange, bis er überwunden ist, und dann bildet sich eine Gemeinschaft heraus, die einen ungewöhnlichen Ursprung zeigt wie eine Narbe. Viele Menschen geben sich nach dieser Wandlung fröhlicher, als sie sonst sind; die meisten harmloser; viele gesprächiger, fast alle freundlicher. Die Persönlichkeit ist verändert, man kann fast sagen, unter der Haut gegen eine weniger eigentümliche umgetauscht: an die Stelle des Ich ist der erste, deutlich als unbehaglich und eine Verminderung empfundene, aber doch unwiderstehliche Ansatz eines Wir getreten.«
Agathe antwortet: »Diese Abneigung bei nahem Beisammensein gibt es besonders zwischen Frauen. Ich habe mich, nie an Frauen gewöhnen können.«
»Es gibt sie auch zwischen Mann und Frau« meint Ulrich. »Sie wird dort bloß von den Verpflichtungen des Liebeshandels überdeckt, die sofort die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Aber gar nicht selten wachen die Verflochtenen aus diesem plötzlich auf und sehen dann – je nach ihrer Art mit Staunen, Ironie oder Fluchtdrang – ein völlig fremdes Wesen sich an ihrer Seite breitmachen; ja manchen Menschen geht es noch nach vielen Jahren so. Dann können sie nicht sagen, was das Natürlichere ist: ihre Verbindung mit anderen oder das verletzte Zurückschnellen ihres Ich aus dieser Verbindung in die Einbildung seiner Einzigkeit, – liegt doch beides in unserer Natur. Und beides verwirrt sich im Begriff der Familie! Das Leben in der Familie ist nicht das volle Leben; junge Menschen fühlen sich beraubt, vermindert, nicht bei sich selbst, wenn sie im Kreis der Familie sind. Sieh dir alte, unverheiratete Töchter an: sie sind von der Familie ausgesogen und ihres Blutes beraubt worden; es sind ganz sonderbare Zwitter zwischen Ich und Wir aus ihnen entstanden.«
Ulrich hat den Brief Clarissens als eine Störung empfunden. Die sprunghaften Ausbrüche darin beunruhigen ihn weit weniger als die ruhige und fast vernünftig aussehende Arbeit, die sie tief im Innern für einen offenbar verrückten Plan leistet. Er hat sich gesagt, daß er nach seiner Rückkehr wohl mit Walter darüber werde sprechen müssen, und seither redet er mit Willen von anderem.
Agathe, ausgestreckt auf dem Diwan, hat ein Knie hochgezogen und geht lebhaft auf ihn ein: »Mit dem, was du sagst, erklärst du doch selbst, warum ich wieder heiraten mußte!« sagte sie.
»Und doch ist auch etwas an dem sogenannten ›heiligen Gefühl der Familie‹ daran, an diesem Aufgehn ineinander, dem einander Dienen, der selbstlosen Bewegung in geschlossenem Kreis« – fährt Ulrich fort, ohne sich darum zu kümmern, und Agathe wundert sich darüber, daß sich seine Worte so oft von ihr wieder entfernen, wenn sie schon ganz nahe gewesen sind. »Gewöhnlich ist dieses kollektive Ich ja nur ein Kollektivegoist, und dann ist starker Familiensinn das Unausstehlichste, was man sich vorzustellen vermag; ich kann mir dieses Unbedingt-für-einander-Einspringen, dieses Gemeinsam-Kämpfen und -Wundentragen aber auch als ein urangenehmes, tief in der Menschenzeit ruhendes, ja schon in der Tierherde ausgeprägtes Gefühl denken« – hörte sie ihn sprechen; und sie vermag sich nicht viel dabei zu denken. Sie vermag es auch nicht beim nächsten Satz: »Dieser Zustand entartet eben leicht, wie es alle alten Zustände tun, deren Ursprung sich verloren hat.« Und erst, als er mit den Worten schließt: »Und man muß wahrscheinlich verlangen, daß die Einzelnen schon etwas besonders Ordentliches seien, wenn das Ganze, das sie bilden, nicht ein sinnloses Zerrbild werden soll!« fühlt sie sich wieder gut in seiner Nähe aufgehoben und möchte, während sie ihn ansieht, ihren Augen nicht gestatten, sich zu schließen, damit er nicht inzwischen verschwinde, weil es so wunderlich ist, daß er da sitzt und Dinge spricht, die in der Höhe verlorengehn und mit einem Mal wieder herabfallen wie ein Gummiball, der sich zwischen Ästen verfangen hat.
Die Geschwister hatten sich am Spätnachmittag im Empfangszimmer getroffen, man schrieb schon manchen Tag seit dem Begräbnis.
Dieser Salon von länglicher Form war nicht nur im Geschmack, sondern auch noch mit dem echten Hausrat des bürgerlichen Empire eingerichtet; zwischen den Fenstern hingen die hohen Rechtecke der von glatten Goldrahmen umschlossenen Spiegel, und die maßvoll steifen Stühle standen an die Wände gerückt, so daß der leere Fußboden das Zimmer mit dem gedunkelten Glanz seiner Quadrate überschwemmt zu haben und ein seichtes Becken zu füllen schien, in das man zögernd den Fuß setzte. Am Rande dieser stilvollen Unwirtlichkeit des Salons – denn das Arbeitszimmer, worin er sich am ersten Morgen niedergelassen hatte, war Ulrich überlassen geblieben – ungefähr dort, wo in einer ausgebrochenen Ecknische wie ein strenger Pfeiler der Ofen stand und eine Vase am Haupt trug (und genau in der Mittellinie seiner Vorderseite auf einem in Hüfthöhe rundum laufenden Bord einen einzelnen Leuchter), hatte sich Agathe eine höchstpersönliche Halbinsel geschaffen. Sie hatte eine Ottomane hinstellen lassen und ihr einen Teppich zu Füßen gelegt, dessen altes Rotblau gemeinsam mit dem türkischen Muster der Liegestatt, das sich in sinnloser Unendlichkeit wiederholte, eine üppige Herausforderung des zarten Grau und vernünftig-schwebenden Lineaments darstellte, die in diesem Raum kraft Urväterwillens zu Hause waren. Des weiteren beleidigte sie diesen zuchtvollen und vornehmen Willen durch eine grüne, großblättrige Pflanze von Mannshöhe, die sie von der Trauerausschmückung des Hauses zurückbehalten und samt dem Kübel sich als »Wald« zu Häupten gestellt hatte, – an die andere Seite als die große helle Stehlampe, die es ihr erleichtern sollte, im Liegen zu lesen, und die in der klassizistischen Landschaft des Zimmers wie ein Scheinwerfer oder ein Antennenmast wirkte. Dieser Salon mit seiner in Felder geteilten Decke, den Wandpilastern und Pfeilerschränkchen hatte sich seit hundert Jahren wenig verändert, weil er selten benutzt wurde und niemals recht in das Leben seiner späteren Besitzer einbezogen worden war; vielleicht mochten zur Zeit der Voreltern die Wände noch mit zarten Stoffen bespannt gewesen sein, statt des hellen Anstrichs, den sie jetzt trugen, und die Bezüge der Stühle konnten etwas anders ausgesehen haben, aber so, wie er sich jetzt darbot, kannte Agathe diesen Salon seit ihrer Kindheit und wußte nicht einmal, ob es ihre Urgroßeltern waren, die sich so eingerichtet hatten, oder fremde Leute, denn sie war in diesem Hause aufgewachsen und das einzig Besondre, was sie wußte, bestand in der Erinnerung, daß sie diesen Raum immer mit jener Scheu betreten habe, die man Kindern vor etwas einimpft, das sie leicht zerstören oder beschmutzen könnten. Nun aber hatte sie das letzte Symbol der Vergangenheit, die Trauerkleidung, abgelegt und wieder ihren Pyjama angezogen, lag auf dem rebellisch eingedrungenen Diwan und las schon seit dem frühen Vormittag gute und schlechte Bücher, die sie zusammengerafft hatte, worin sie sich zeitweilig unterbrach, um zu essen oder einzuschlafen; und als der so verbrachte Tag sich neigte, blickte sie durch das dunkelnde Zimmer zu den hellen Vorhängen, die sich, schon ganz in Zwielicht getaucht, wie Segel an den Fenstern bauschten, und fühlte sich dabei, als reise sie in dem harten Strahlenkranz ihrer Lampe durch den steif-zarten Raum und habe soeben angehalten. So war sie von ihrem Bruder gefunden worden, der mit einem Blick ihr beleuchtetes Etablissement erfaßte; denn auch er kannte diesen Salon und wußte ihr sogar zu erzählen, daß der ursprüngliche Besitzer des Hauses ein reicher Kaufmann gewesen sein solle, dem es später nicht wohl ging, wodurch sich ihr Urgroßvater, der kaiserlicher Notar war, bequem in die Lage versetzt gesehen hätte, das hübsche Anwesen zu erwerben. Auch sonst wußte Ulrich allerhand von diesem Salon, den er sich gründlich angesehen hatte, und besonderen Eindruck machte auf seine Schwester die Erklärung, daß man in ihrer Urgroßväterzeit eine solche steife Einrichtung geradezu als besonders natürlich empfunden habe; das fiel ihr nicht leicht zu verstehen, denn ihr kam sie wie die Ausgeburt einer Geometriestunde vor, und es brauchte eine Weile, ehe in ihr die Vorstellungsweise einer Zeit dämmerte, die von den aufdringlichen Formen des Barock so übersättigt war, daß ihr eigenes symmetrisches und etwas steifes Gehaben von der zarten Einbildung verhüllt wurde, im Sinn einer reinen, schnörkelfreien und als vernünftig gedachten Natur zu handeln. Als sie sich aber endlich diesen Wandel der Begriffe mit allen Einzelheiten, die Ulrich dazugab, vergegenwärtigt hatte, kam es ihr hübsch vor, viel zu wissen, was sie bisher, als gesamte Erfahrung ihres Lebens, verachtet hatte; und als ihr Bruder erfahren wollte, was sie lese, warf sie sich schnell mit dem Körper über den Vorrat ihrer Bücher, wenngleich sie kühn behauptete, daß sie schlechte Lesebeschäftigung genau so gern hätte wie gute.
Ulrich hatte vormittags gearbeitet und war dann aus dem Haus gegangen. Seine Hoffnung auf Sammlung hatte sich bis zu diesem Tag nicht erfüllt, und die förderliche Wirkung, die von der Unterbrechung des gewohnten Lebens zu erwarten gewesen wäre, war durch die Ablenkungen aufgewogen worden, welche die neuen Verhältnisse im Gefolge hatten. Erst nach dem Begräbnis trat darin eine Veränderung ein, als die Beziehungen zur Außenwelt, die sich so lebhaft angelassen hatten, wie mit einem Schlag abrissen. Die Geschwister, die ja nur in einer Art Vertretung ihres Vaters durch einige Tage den Mittelpunkt einer allgemeinen Teilnahme gebildet und die mannigfaltigen Verbindungen gefühlt hatten, die sich an ihre Stellung knüpften, kannten in dieser Stadt außer Walters altem Vater keinen, den sie hätten besuchen mögen, und in Berücksichtigung der Trauer wurden sie auch von niemand eingeladen, und bloß Professor Schwung war nicht nur zum Begräbnis, sondern auch noch am nächsten Tag erschienen, um sich zu erkundigen, ob sein toter Freund nicht ein Manuskript über die Frage der verminderten Zurechnungsfähigkeit hinterlassen habe, dessen posthume Veröffentlichung man erwarten dürfe. Dieser unvermittelte Übergang von einer Bewegtheit, die unaufhörlich Blasen geworfen hatte, zu der auf sie folgenden bleiernen Stille übte nun einen geradezu körperlichen Stoß aus. Es kam hinzu, daß sie noch immer in ihren alten Kinderzimmern schliefen, denn Gastzimmer hatte das Gebäude keine, oben in der Mansarde auf Notbetten und umgeben von dem dürftigen Um und An der Kindheit, das etwas von dem Einrichtungsmangel einer Tobsuchtszelle hat und sich mit dem ehrlosen Glanz des Wachstuchs auf den Tischen oder dem Linoleumbelag am Fußboden, in dessen Öde einst der Steinbaukasten die fixen Ideen seiner Architektur spie, bis an die Träume drängt. Diese Erinnerungen, die so sinnlos und unendlich waren wie das Leben, auf das sie hatten vorbereiten sollen, ließen es den Geschwistern angenehm erscheinen, daß sich ihre Schlafräume, nur durch eine Kleider- und Gerümpelkammer getrennt, wenigstens nebeneinander befanden; und weil das Badezimmer ein Stockwerk tiefer lag, waren sie auch nach dem Erwachen aufeinander angewiesen, begegneten einander vom Morgen an in der Leere der Treppen und des Hauses, mußten aufeinander Rücksicht nehmen und hatten gemeinsam alle die Fragen zu beantworten, die das fremde Wirtschaftswesen stellte, das ihnen mit einemmal anvertraut war. Auf diese Weise empfanden sie natürlich auch die Komik, von der dieser so innige wie unvorhergesehene Zusammenschluß nicht frei war: sie glich der abenteuerlichen Komik eines Schiffbruchs, der sie auf die einsame Insel ihrer Kindheit zurückgeworfen hatte, und beides führte dazu, daß sie gleich nach den ersten Tagen, auf deren Verlauf sie keinen Einfluß gehabt hatten, nach Selbständigkeit trachteten, aber jeder von ihnen tat es mehr aus Rücksicht auf den anderen als auf sich selbst.
Darum war Ulrich schon aufgestanden, ehe sich Agathe im Salon ihre Halbinsel baute, und hatte sich leise in das Arbeitszimmer geschlichen, wo er seine unterbrochene mathematische Untersuchung aufnahm, allerdings mehr zum Zeitvertreib als in der Absicht auf Gelingen. Aber zu seiner nicht geringen Überraschung brachte er darauf in den wenigen Stunden eines Vormittags alles, was er monatelang hatte unberührt liegen lassen, bis auf unbedeutende Einzelheiten zu Ende. Es war ihm beim Zustandekommen dieser unerwarteten Lösung einer jener außer der Regel liegenden Gedanken zu Hilfe gekommen, von denen man nicht sowohl sagen könnte, daß sie erst dann entstehen, wenn man sie nicht mehr erwartet, als vielmehr, daß ihr überraschendes Aufleuchten an das der Geliebten erinnert, die längst schon zwischen den anderen Freundinnen da war, ehe der bestürzte Freier zu verstehen aufhört, daß er ihr andere hat gleichstellen können. Es ist an solchen Einfällen nicht nur der Verstand, sondern immer auch irgend eine Bedingung der Leidenschaft beteiligt, und Ulrich war es zu Mute, als hätte er in diesem Augenblick fertig und frei werden müssen, ja er kam sich, weil weder ein Grund noch ein Zweck zu erkennen war, geradezu vor der Zeit fertig geworden vor, und es stieß nun die übrig gebliebene Energie ins Träumerische hinaus. Er erblickte die Möglichkeit, daß man den Gedanken, der seine Aufgabe gelöst hatte, auch auf weitaus größere Fragen anwenden könne, entwarf spielerisch die erste Phantasie einer solchen Systematik und fühlte sich in diesen Augenblicken glücklicher Entspannung sogar von der Einflüsterung Professor Schwungs versucht, doch noch zu seinem Beruf zurückzukehren und den Weg zu suchen, der zu Geltung und Einfluß führt. Als er sich aber nach wenigen Minuten dieses intellektuellen Behagens nüchtern vergegenwärtigt hatte, welche Folgen es haben würde, wenn er seinem Ehrgeiz nachgäbe und jetzt noch als Nachzügler den akademischen Weg einschlüge, begegnete es ihm zum erstenmal, daß er sich für ein Unternehmen zu alt fühlte, und seit seiner Knabenzeit hatte er diesen halb unpersönlichen Begriff der Jahre nicht als etwas empfunden, das einen selbständigen Gehalt habe, und ebensowenig bisher den Gedanken gekannt: du vermagst etwas nicht mehr zu tun!
Als das Ulrich nun nachträglich seiner Schwester am Spätnachmittag erzählte, gebrauchte er von ungefähr das Wort Schicksal, das ihre Anteilnahme erregte. Sie wollte wissen, was »Schicksal« ist.
»Ein Mittelding zwischen ›Meine Zahnschmerzen‹ und ›König Lears Töchter‹!« erwiderte Ulrich. »Ich gehöre nicht zu den Menschen, die mit diesem Wort gern umgehn.«
Aber für junge Menschen gehört es zum Gesang des Lebens; sie möchten ein Schicksal haben und wissen nicht, was es ist.
Ulrich entgegnete ihr: »In späteren, besser unterrichteten Zeiten wird das Wort Schicksal wahrscheinlich einen statistischen Inhalt gewinnen.«
Agathe war siebenundzwanzig. Jung genug, noch einige von den hohlen Empfindungsformen bewahrt zu haben, die man zuerst ausbildet; alt genug, schon den anderen Inhalt zu ahnen, den die Wirklichkeit einfüllt. Sie erwiderte: »Altwerden ist wohl selbst schon ein Schicksal!« und war sehr unzufrieden mit dieser Antwort, in der sich ihre jugendliche Schwermut auf eine Weise ausdrückte, die ihr nichtssagend vorkam.
Aber ihr Bruder achtete nicht darauf und gab ein Beispiel: »Als ich Mathematiker wurde,« erzählte er »wünschte ich mir wissenschaftlichen Erfolg und setzte alle Kraft für ihn ein, wenn ich das auch nur für eine Vorstufe zu etwas anderem ansah. Und meine ersten Arbeiten haben auch wirklich – natürlich unvollkommen, wie es Anfänge immer sind – Gedanken enthalten, die damals neu waren und entweder unbemerkt blieben oder sogar auf Widerstand stießen, obwohl ich mit allem übrigen gut aufgenommen wurde. Nun könnte man es ja vielleicht Schicksal nennen, daß ich bald die Geduld verlor, hinter diesen Keil weiter noch meine volle Kraft zu setzen.«
»Keil?« unterbrach ihn Agathe, als bereite die Aussprache dieses männlich-werktätigen Wortes unbedingt Unannehmlichkeiten. »Warum nennst du es Keil?«
»Weil es nur das war, was ich zuerst machen wollte: ich wollte es wie einen Keil vorantreiben und verlor dann eben die Geduld. Und heute, als ich vielleicht meine letzte Arbeit abschloß, die noch in jene Zeit zurückreicht, ist es mir klar geworden, daß ich mich wahrscheinlich nicht ganz ohne Grund als den Führer einer Bewegung ansehen dürfte, wenn ich damals etwas mehr Glück gehabt oder etwas mehr Beständigkeit bewiesen hätte.«
»Du könntest es ja noch nachholen!« meinte Agathe nun wieder. »Ein Mann wird doch nicht so leicht für etwas zu alt wie eine Frau.«
»Nein,« erwiderte Ulrich »ich will es nicht nachholen! Denn es ist erstaunlich, aber wahr, daß sich damit sachlich – am Gang der Dinge, an der Entwicklung der Wissenschaft selbst – gar nichts geändert hätte. Ich mag meiner Zeit etwa um zehn Jahre vorausgewesen sein; aber etwas langsamer und auf anderen Wegen sind andere Leute auch ohne mich dahin gekommen, wohin ich sie höchstens etwas rascher geführt hätte, während es schon fraglich wäre, ob eine solche Veränderung meines Lebens genügt haben möchte, mich selbst inzwischen mit neuem Vorsprung über das Ziel hinauszureißen. Da hast du also ein Stück von dem, was man persönliches Schicksal nennt, aber es kommt auf etwas auffallend Unpersönliches hinaus.«
»Überhaupt« – fuhr er fort – »widerfährt es mir, je älter ich werde, desto öfter, daß ich etwas gehaßt habe, das später und auf Umwegen trotzdem in der gleichen Richtung wie mein eigener Weg verläuft, so daß ich ihm die Daseinsberechtigung mit einem Mal nicht mehr absprechen kann; oder es geschieht, daß sich die Schäden an Ideen oder Geschehnissen zeigen, für die ich mich ereifert habe. Über größere Strecken scheint es also ganz gleichgültig zu sein, ob man sich erregt und in welchem Sinn man seine Erregung eingesetzt hat. Es kommt alles ans gleiche Ziel, und es dient alles einer Entwicklung, die undurchsichtig und unfehlbar ist.«
»Früher hat man das den unerforschlichen Ratschlüssen Gottes zugeschrieben« antwortete Agathe stirnrunzelnd und hatte den Ton eines, der von Selbsterlebtem spricht, und nicht gerade respektvoll.
Ulrich erinnerte sich, daß sie in einem Kloster erzogen worden war. Sie lag in ihren langen, unten zugebundenen Hosen auf dem Diwan, an dessen Fußende er saß, und die Stehlampe bestrahlte sie gemeinsam, so daß am Fußboden ein großes Blatt aus Licht entstand, auf dem sie sich im Dunkel befanden. »Heute macht das Schicksal eher den Eindruck der übergeordneten Bewegung einer Masse« meinte er; »man steckt darin und wird mitgewälzt.« Er erinnerte sich, schon einmal auf den Gedanken gekommen zu sein, es käme heute jede Wahrheit in ihre Halbheiten geteilt auf die Welt, und trotzdem könnte sich auf diese windige und bewegliche Weise eine größere Gesamtleistung ergeben, als wenn jeder ernst und einsam nach ganzer Pflicht strebe. Er hatte diesen ihm wie ein Haken im Selbstgefühl sitzenden Gedanken, der dennoch nicht ohne die Möglichkeit der Größe war, sogar schon einmal mit dem Schluß vorgetragen, den er nicht ernst meinte, daß man also tun könne, was man wolle! Denn nichts lag ihm so fern wie dieser Schluß, und gerade jetzt, wo ihn sein Schicksal abgesetzt zu haben schien und ihm nichts übrig ließ zu tun, in diesem für seinen Ehrgeiz gefährlichen Augenblick, wo er sonderbar angetrieben auch noch das Letzte abgeschlossen hatte, was ihn mit seinen älteren Zeiten verband, diese nachzüglerische Arbeit, gerade in diesem Augenblick also, wo er persönlich ganz blank war, fühlte er statt eines Ablassens von sich die neue Spannung, die seit seiner Abreise entstanden war. Sie hatte keinen Namen; man mochte einstweilen ebensogut sagen, ein junger, ihm verwandter Mensch suche seinen Rat, wie man auch etwas anderes sagen konnte: Aber er sah erstaunlich scharf die strahlende Matte aus hellem Gold auf dem Schwarzgrün des Zimmers, mit den zarten Würfeln von Agathes Narrenanzug darauf, und sich selbst und den überdeutlich umsäumten, aus dem Dunkel genommenen Zufall ihres Beisammenseins.
»Wie hast du das gesagt?« fragte Agathe.
»Was man heute noch persönliches Schicksal nennt, wird verdrängt von kollektiven und schließlich statistisch erfaßbaren Vorgängen« wiederholte Ulrich.
Agathe dachte nach, dann mußte sie lachen. »Ich verstehe das natürlich nicht, aber wäre es denn nicht wunderbar, wenn man von der Statistik aufgelöst würde; die Liebe bringt das ja doch längst nicht mehr zustande!« meinte sie.
Und das verleitete Ulrich, seiner Schwester plötzlich zu erzählen, was ihm nach Beendigung seiner Arbeit widerfahren sei, als er von Hause fort in den Mittelpunkt der Stadt gegangen war, um die ihm übriggebliebene Bestimmungslosigkeit mit etwas auszufüllen. Er hatte nicht davon sprechen wollen, weil es ihm als eine zu persönliche Angelegenheit vorkam. Denn jedesmal, wenn ihn seine Reisen in Städte führten, mit denen er durch keinerlei Geschäft verknüpft war, liebte er sehr das daraus entstehende besondere Gefühl der Einsamkeit, und selten war es so stark gewesen wie dieses Mal. Er hatte die Farben der Straßenbahn, der Wagen, Auslagen, Tore, die Formen der Kirchtürme, Gesichter und Hausfronten gesehn, und ob sie auch die allgemeine europäische Ähnlichkeit zeigten, flog doch der Blick über sie hin wie ein Insekt, das sich über ein Feld mit fremden Lockfarben verirrt hat und sich nicht niederlassen kann, obschon es das tun möchte. Dieses Gehn ohne Ziel und deutliche Bestimmung in einer lebhaft mit sich selbst beschäftigten Stadt, diese gesteigerte Anspannung des Erlebens bei gesteigerter Fremdheit, die noch durch die Überzeugung verstärkt wird, daß es auf einen nicht ankomme, sondern nur auf diese Summen von Gesichtern, diese vom Körper gerissenen, untereinander zu Armeen von Armen, Beinen oder Zähnen zusammengefaßten Bewegungen, denen die Zukunft gehört, vermag das Gefühl zu wecken, daß man sich als noch ganz und geschlossen für sich wandelnder Mensch schon geradezu unsozial und verbrecherisch vorkommt; aber wenn man dem dann noch weiter nachgibt, kann unversehens auch eine so törichte leibliche Annehmlichkeit und Verantwortungslosigkeit daraus entstehn, als gehöre der Körper nicht mehr einer Welt an, wo das sinnliche Ich in kleine Nervenstränge und -gefäße eingeschlossen ist, sondern einer von unwacher Süße durchfluteten. Mit diesen Worten beschrieb Ulrich seiner Schwester, was vielleicht die Folge eines Zustands ohne Ziel und Ehrgeiz war oder die Folge herabgeminderter Persönlichkeitseinbildung, vielleicht aber auch nichts anderes als der »Urmythos der Götter«, jenes »Doppelgesicht der Natur«, jenes »gebende« und »nehmende Sehen«, wohinter er nachgerade drein war wie ein Jäger. Er wartete nun neugierig, ob Agathe ein Zeichen des Einverständnisses geben oder zeigen werde, daß sie auch solche Eindrücke kenne, und als es nicht geschah, erklärte er es noch einmal: »Es ist wie eine leichte Bewußtseinsspaltung. Man fühlt sich umarmt, umschlossen und bis ans Herz von einer willenlos angenehmen Unselbständigkeit durchdrungen; aber anderseits bleibt man wach und der Geschmackskritik fähig und sogar bereit, mit diesen Dingen und Menschen, die voll ungelüfteter Anmaßung sind, Streit anzubinden. Es ist so, als gäbe es zwei verhältnismäßig selbständige Lebensschichten in uns, die sich sonst tief im Gleichgewicht halten. Und da wir doch von Schicksal gesprochen haben, es ist auch so, als hätte man zwei Schicksale: ein regsam-unwichtiges, das sich vollzieht, und ein reglos-wichtiges, das man nie erfährt.«
Da sagte unvermittelt Agathe, die lange Zeit, ohne sich zu rühren, zugehört hatte: »Das ist, wie wenn man Hagauer küßt!«
Sie hatte sich auf den Ellbogen gestützt und lachte; die Beine ruhten noch immer lang ausgestreckt auf ihrem Lager. Und sie fügte hinzu: »Natürlich, so schön, wie du es beschreibst, ist es nicht gewesen!« Und Ulrich lachte mit. Es war nicht recht klar, weshalb sie lachten. Irgendwie war dieses Lachen aus der Luft oder aus dem Haus über beide gekommen oder aus den Spuren des Staunens und Unbehagens, welche die feierlichen, das Jenseits nutzlos berührenden Vorgänge der letzten Tage in ihnen hinterlassen hatten, oder aus dem ungewöhnlichen Gefallen, das sie an ihrem Gespräch fanden; denn jeder aufs äußerste ausgebildete menschliche Brauch trägt den Keim des Wechsels schon in sich, und jede, das Gewöhnliche überschreitende Erregung beschlägt sich bald mit einem Hauch von Trauer, Absurdität und Übersättigung.
Auf solche Art und auf solchem Umweg waren sie dann schließlich und gleichsam zur Erholung in das harmlosere Gespräch über Ich und Wir und Familie und zu der zwischen Spott und Staunen schwankenden Entdeckung gekommen, daß sie beide eine Familie bildeten. Und während Ulrich von dem Verlangen nach Gemeinschaft spricht – nun wieder mit dem Eifer eines Mannes, der sich eine gegen seine Natur gerichtete Pein zufügt; nur weiß er nicht, ob sie sich gegen seine wahre oder seine angenommene Natur richtet –, hört Agathe an, wie seine Worte ihr nahe kommen und sich wieder entfernen, und er bemerkt, daß er lange Zeit in ihrer Erscheinung, die sich doch in dem hellen Licht und ihrer launischen Kleidung sehr schutzlos vor ihm befindet, nach etwas gesucht hat, das ihn abstoßen könnte, wie es leider seine Gewohnheit ist, aber nichts gefunden hat, und er dankt dafür mit einer reinen und einfachen Zuneigung, die er sonst nie empfindet. Und er ist sehr entzückt von der Unterhaltung. Als sie aber geendet hat, fragt Agathe unbefangen: »Und bist du nun eigentlich für das, was du Familie nennst, oder bist du dagegen?«
Ulrich erwidert, daß es darauf gar nicht ankäme, denn er hätte doch eigentlich von einer Unschlüssigkeit der Welt gesprochen und nicht von der Unentschlossenheit seiner Einzelperson.
Agathe denkt darüber nach.
Schließlich sagt sie aber unvermittelt: »Das kann ich doch nicht beurteilen! Aber ich möchte wohl einmal ganz eins und einverstanden mit mir sein und auch . . .: nun eben, irgendwie so leben! Möchtest du es denn nicht auch einmal versuchen?«