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17

Diotima hat ihre Lektüre gewechselt

 

»Lieber Freund,« sagte Diotima, als Ulrich bei ihr eintrat »ich wollte Sie nicht gehen lassen, ohne Sie gesprochen zu haben, aber ich muß Sie so empfangen!« – Sie trug ein Hauskleid, worin die Majestät ihrer Form durch eine Zufallsstellung ein wenig an Schwangerschaft erinnerte, was dem stolzen Körper, der noch nie geboren hatte, etwas von der zuweilen lieblichen Schamlosigkeit der Mutterleiden verlieh; ein Pelzkragen lag neben ihr auf dem Sofa, mit dem sie sich offenbar gerade den Leib gewärmt hatte, und um die Stirn trug sie einen Umschlag gegen Migräne, der auf seinem Platz hatte bleiben dürfen, weil sie wußte, daß er sie ähnlich kleide wie eine griechische Binde. Obwohl es spät war, brannte kein Licht, und der Geruch von Heil- und Erfrischungsmitteln gegen ein unbekanntes Leid lag in der Luft vermischt mit einem kräftigen Wohlgeruch, der über alle einzelnen Gerüche wie eine Decke geworfen worden war.

Ulrich beugte sein Gesicht tief, während er Diotimas Hand küßte, als wollte er am Duft des Arms die Veränderungen wahrnehmen, die während seiner Abwesenheit vorsichgegangen seien. Aber die Haut strömte nur den vollen, satten, gebadeten Geruch aus wie alle Tage.

»Ach, lieber Freund,« wiederholte Diotima »es ist gut, daß Sie zurückkommen – Oh!« stöhnte sie plötzlich lächelnd »ich habe so heftige Magenschmerzen!«

Diese Mitteilung, die, von einem natürlichen Menschen gemacht, so natürlich ist wie ein Wetterbericht, gewann im Munde Diotimas den ganzen Nachdruck eines Zusammenbruchs und Geständnisses.

»Kusine?!« rief Ulrich aus und beugte sich lächelnd vor, um ihr ins Gesicht zu sehn. Es hatte sich in ihm, was Tuzzi zart über das üble Befinden seiner Gattin angedeutet hatte, in diesem Augenblick mit der Vermutung verwirrt, daß Diotima schwanger geworden sei und die Entscheidung nun über das Haus hereingebrochen.

Matt wehrte sie ab, die ihn halb erriet. Sie hatte in Wahrheit bloß Menstruationskrämpfe, was früher allerdings nie vorgekommen war und dunkel ahnbar mit ihrem Schwanken zwischen Arnheim und ihrem Gatten zusammenhing, das seit einigen Monaten von solchen Beschwerden begleitet wurde. Als sie von Ulrichs Rückkehr hörte, bedeutete es ihr einen Trost, und sie begrüßte in ihm den Vertrauten ihrer Kämpfe, weshalb sie ihn vorgelassen hatte. Sie lag da, wahrte nur halb die Haltung des Sitzens und war in seiner Gesellschaft, den Schmerzen preisgegeben, die in ihr wühlten, ein offenes Stück Natur ohne Zäune und Verbotstafeln, was selten genug bei ihr vorkam. Immerhin hatte sie angenommen, daß es glaubhaft sein werde, wenn sie nervöse Magenschmerzen vorschütze, und geradezu ein Zeichen empfindsamer Naturanlage; sonst hätte sie sich ihm nicht gezeigt.

»Nehmen Sie doch etwas ein« schlug Ulrich vor.

»Ach,« seufzte Diotima »das kommt nur von den Erregungen. Meine Nerven werden es nicht mehr lange aushalten!«

Es entstand eine kleine Pause, weil sich Ulrich nun eigentlich hätte nach Arnheim erkundigen müssen, aber neugierig war, etwas von den Vorgängen zu erfahren, die ihn selbst angingen, und nicht gleich einen Ausweg fand. Schließlich fragte er: »Die Befreiung der Seele von der Zivilisation macht wohl Schwierigkeiten?« und fügte hinzu: »Ich darf mir leider schmeicheln, Ihnen schon lange vorhergesagt zu haben, daß ihre Bemühungen, dem Geist eine Gasse in die Welt zu bahnen, schmerzlich zusammenbrechen werden!«

Diotima erinnerte sich, wie sie aus der Gesellschaft geflohen war und mit Ulrich auf der Schuhbank im Vorzimmer gesessen hatte: ihre Niedergeschlagenheit war fast die gleiche gewesen wie heute, und doch lagen unzählige Hoffnungsauf- und -niedergänge dazwischen. »Wie war es doch herrlich,« sagte sie »mein Freund, als wir noch an die große Idee glaubten! Heute darf ich wohl sagen, daß die Welt aufgehorcht hat, aber wie sehr bin ich selbst enttäuscht!«

»Warum eigentlich?« fragte Ulrich.

»Ich weiß es nicht. Es liegt wohl an mir.«

Sie wollte etwas von Arnheim anfügen, aber Ulrich wünschte zu wissen, wie man sich mit der Demonstration abgefunden habe; seine letzte Erinnerung daran war, daß er Diotima nicht angetroffen hatte, als ihn Graf Leinsdorf zu ihr schickte, um sie auf ein entschlossenes Eingreifen vorzubereiten und gleichzeitig zu beruhigen.

Diotima machte eine hochmütige Gebärde. »Die Polizei hat einige junge Leute verhaftet und wieder freigelassen: Leinsdorf ist sehr verärgert, aber was hätte man sonst tun sollen?! Er hält jetzt erst recht an Wisnieczky fest und sagt, daß etwas geschehen müsse; aber Wisnieczky kann keine Propaganda entfalten, wenn man nicht weiß, wofür!«

»Ich habe gehört, daß dies die Parole der Tat sein soll« schaltete Ulrich ein. Der Name des Barons Wisnieczky, der als Minister am Widerstand der deutschen Parteien gescheitert war und darum an der Spitze des Ausschusses, der für die unbekannte große patriotische Idee der Parallelaktion um Teilnahme warb, heftiges Mißtrauen erregen mußte, rief ihm lebendig das politische Walten Sr. Erlaucht vor Augen, dessen Erfolg das war. Wie es schien, hatte der unbefangene Gang der gräflich Leinsdorfschen Gedanken – vielleicht bekräftigt durch das erwartete Versagen aller Bemühungen, den Geist der Heimat und in weiterem Umkreis den Europas durch das Zusammenwirken seiner bedeutendsten Männer aufzuschrecken – nun zu der Erkenntnis geführt, daß es das Beste sei, diesem Geist einen Stoß zu geben, gleichgültig, von wo dieser komme. Möglicherweise stützte sich das in den Überlegungen Sr. Erlaucht auch auf die Erfahrungen, die man mit Besessenen gemacht hat, denen es zuweilen gut bekommen sein soll, wenn man sie rücksichtslos anschrie oder rüttelte; aber diese Mutmaßung, zu der Ulrich in Eile gelangte, ehe Diotima erwidern konnte, wurde nun durch deren Antwort unterbrochen.

Diesmal bediente sich die Leidende wieder der Anrede: Lieber Freund. »Lieber Freund,« sagte sie »es ist etwas Wahres daran! Unser Jahrhundert dürstet nach einer Tat. Eine Tat –«

»Aber welche Tat! Welche Art Tat?!« unterbrach Ulrich.

»Ganz gleich! in der Tat liegt ein großartiger Pessimismus gegenüber den Worten: Leugnen wir nicht, daß in der Vergangenheit immer nur geredet worden ist: Wir haben für ewige und große Worte und Ideale gelebt; für eine Steigerung des Menschlichen; für unsere innerste Eigenart; für eine wachsende Gesamtfülle des Daseins. Wir haben eine Synthese angestrebt, wir haben für neue Schönheitsgenüsse und Glückswerte gelebt, und ich will nicht leugnen, daß das Suchen nach Wahrheit ein Kinderspiel ist gegen den ungeheuren Ernst, selbst eine Wahrheit zu werden: Aber es war eine Überspannung gegenüber dem gegenwärtigen geringen Wirklichkeitsgehalt der Seele, und wir haben in einer traumhaften Sehnsucht sozusagen für nichts gelebt!« Diotima hatte sich eindringlich am Ellbogen aufgerichtet. »Es ist etwas Gesundes daran, wenn man heute darauf verzichtet, den verschütteten Eingang zur Seele zu suchen, und lieber danach trachtet, mit dem Leben fertig zu werden, wie es ist!« schloß sie.

Nun besaß Ulrich also neben der vermuteten Leinsdorfschen auch noch eine beglaubigte andere Auslegung der Parole der Tat. Diotima schien ihre Lektüre gewechselt zu haben; er erinnerte sich, daß er sie bei seinem Eintritt von vielen Büchern umgeben gesehen habe, aber es war schon zu finster geworden, um deren Titel zu entziffern, und es lag auch auf einem Teil von ihnen der Körper der nachdenklichen jungen Frau wie eine dicke Schlange, die sich nun noch höher aufgerichtet hatte und ihn erwartungsvoll ansah. Diotima war, nachdem sie sich seit ihren Mädchenjahren mit Vorliebe von sehr empfindsamen und subjektiven Büchern genährt hatte, offenbar, wie Ulrich aus ihren Worten schloß, von jener geistigen Erneuerungskraft ergriffen worden, die immerwährend am Werke ist, das, was sie mit den Begriffen der letzten zwanzig Jahre nicht gefunden hat, mit den Begriffen der nächsten zwanzig Jahre auch nicht zu finden; woraus zuletzt vielleicht sogar jene großen Stimmungswechsel der Geschichte entstehen, die zwischen Humanität und Grausamkeit, Sturm und Gleichgültigkeit oder anderen Widersprüchen schwanken, für die es keinen ganz ausreichenden Grund gibt. Es fuhr Ulrich durch den Kopf, daß jener kleine, unaufgeklärte Rest von Unbestimmtheit, der in jeglichem moralischen Erlebnis übrigbleibt, worüber er mit Agathe so viel gesprochen hatte, wohl eigentlich die Ursache dieser menschlichen Unsicherheit sein müsse; aber weil er sich das Glück, das in der Erinnerung an diese Gespräche lag, nicht gestatten wollte, zwang er seine Gedanken, sich davon ab- und lieber dem General zuzuwenden, der ihm als erster davon erzählt hatte, daß die Zeit jetzt einen neuen Geist bekomme, und in einer Weise erzählt hatte, deren gesunde Ärgerniskraft keinen Raum für die Lust an bezaubernden Zweifeln übrigließ. Und weil er nun schon einmal an den General dachte, fiel ihm auch dessen Bitte ein, daß er sich zwischen seiner Kusine und Arnheim um die gestörte Ordnung kümmern möge, und so gab er schließlich auf die Abschiedsrede Diotimas an die Seele schlicht zur Antwort: »Die grenzenlose Liebe ist Ihnen wohl nicht gut bekommen?!«

»Ach Sie, Sie bleiben sich immer gleich!« seufzte die Kusine und ließ sich in die Kissen zurückfallen, und dort schloß sie die Augen; denn durch Ulrichs Abwesenheit solcher geraden Fragen entwöhnt, mußte sie sich erst besinnen, wieviel sie ihm anvertraut habe. Und mit einem Mal brachte seine Nähe das Vergessene in Bewegung. Dunkel entsann sie sich eines Gesprächs mit Ulrich über »maßloses Lieben«, das bei ihrem letzten oder vorletzten Beisammensein noch eine Fortsetzung gefunden hatte, worin sie sich verschwor, daß die Seelen aus dem Gefängnis des Leibes hervortreten könnten, oder sich wenigstens sozusagen mit halbem Körper hinausbeugen, und Ulrich hatte ihr darauf zur Antwort gegeben, dies seien Delirien des Liebeshungers und sie möge doch Arnheim oder ihm oder irgendwem irgend ein »Gewähren« gewähren; sogar Tuzzi hatte er in solchem Zusammenhang genannt, auch das kam ihr nun wieder ins Gedächtnis: an Vorschläge von dieser Art erinnert man sich eben wohl leichter als an das Übrige, was ein Mensch wie Ulrich redet. Und wahrscheinlich hatte sie es mit Recht damals als eine Frechheit empfunden; aber da vergangener Schmerz im Vergleich mit gegenwärtigem ein harmloser alter Freund ist, genoß es heute des Vorzugs, eine kameradschaftlich-vertraute Erinnerung zu sein. Diotima schlug also die Augen wieder auf und sagte: »Man kann wahrscheinlich auf Erden nicht vollkommen lieben!«

Sie lächelte dazu, aber unter ihrer Stirnbinde lagen Sorgenfalten, die dem Gesicht im Dämmer einen merkwürdig verzogenen Ausdruck gaben. Diotima war in Fragen, die ihr persönlich nahegingen, nicht abgeneigt, an überirdische Möglichkeiten zu glauben. Sogar das unerwartete Auftreten des Generals von Stumm am Konzil hatte sie wie das Werk von Geistern erschreckt, und als Kind hatte sie darum gebetet, daß sie niemals sterben möge. Das hatte es ihr erleichtert, auch ihrer Beziehung zu Arnheim einen überirdischen Glauben zu schenken oder, richtiger gesagt, jenen nicht vollendeten Unglauben, jenes Nicht-für-ausgeschlossen-Halten, die heute die grundlegende Glaubensbeziehung geworden sind. Wenn Arnheim nicht nur imstande gewesen wäre, aus ihrer und seiner Seele etwas Unsichtbares zu ziehen, das sich, bei fünf Meter Entfernung von ihr und ihm, in der Luft berührte, oder wenn ihre Blicke das so imstande gewesen wären zu tun, daß hinterdrein davon eine Kaffeebohne, ein Grießkorn, ein Tintenfleck, irgendeine Gebrauchsspur oder auch nur ein Fortschritt zurückgeblieben wäre, so hätte Diotima als das nächste erwartet, daß es eines Tags noch höher gehen werde, in irgendeinen von jenen überirdischen Zusammenhängen, die man sich so wenig genau vorstellen kann wie die meisten irdischen. Sie hatte auch damit Geduld, daß Arnheim in letzter Zeit öfter verreist und länger fortgeblieben war als früher und sogar an den Tagen seiner Anwesenheit überraschend stark von Geschäften in Anspruch genommen wurde. Sie gestattete sich keinen Zweifel daran, daß die Liebe zu ihr noch immer das große Ereignis in seinem Leben sei, und wenn sie wieder einmal allein zusammenkamen, so war die Erhöhung der Seelenlage augenblicklich so groß und die Berührung so wesenhaft, daß die Gefühle erschrocken verstummten, ja wenn sich nicht Gelegenheit bot, über etwas Unpersönliches zu reden, ein Vakuum entstand, das eine bittere Erschöpfung hinterließ. So wenig es ausgeschlossen war, daß dies Leidenschaft sei, so wenig mochte sie also – von der Zeit, in der sie lebte, daran gewöhnt, daß alles, was nicht praktisch sei, ohnehin nur einen Gegenstand des Glaubens, eben jenes unsicheren Unglaubens, bedeute – es ausschließen, daß noch etwas folgen werde, das allen vernünftigen Voraussetzungen widerspreche. Aber in dieser Minute, wo sie ihre Augen aufgeschlagen hatte und offen auf Ulrich gerichtet ließ, von dem nur ein dunkler Umriß wahrzunehmen war, der keine Antwort gab, fragte sie sich: »Worauf warte ich? Was soll eigentlich geschehn?«

Endlich erwiderte Ulrich: »Arnheim wollte Sie aber doch heiraten?!«

Diotima richtete sich wieder auf ihren Arm auf und sagte: »Kann man denn das Problem der Liebe lösen, indem man sich scheiden läßt oder heiratet?!«

»Mit der Schwangerschaft habe ich mich geirrt« nahm Ulrich still zur Kenntnis, da er auf den Ausruf seiner Kusine durchaus nichts zu erwidern wußte. Plötzlich sagte er aber, vom Zaun gebrochen: »Ich habe Sie vor Arnheim gewarnt!« Vielleicht fühlte er sich in diesem Augenblick verpflichtet, ihr mitzuteilen, was er davon wüßte, daß der Nabob ihrer beider Seelen mit seinen Geschäften verbunden habe, doch ließ er gleich wieder davon ab; denn er fand, daß in diesem Gespräch geradeso jedes Wort seinen alten Platz besaß wie die Gegenstände in seinem Zimmer, die er sorgsam abgestaubt nach seiner Rückkehr angetroffen hatte, als wäre er eine Minute lang tot gewesen. Diotima tadelte ihn: »Sie dürfen das nicht so leicht nehmen. Zwischen Arnheim und mir besteht eine tiefe Freundschaft; und wenn es trotzdem zuweilen auch etwas zwischen uns gibt, das ich eine große Angst nennen möchte, so kommt es gerade von der Aufrichtigkeit. Ich weiß nicht, ob Sie das je erlebt haben oder dessen fähig sind: zwischen zwei Menschen, die eine gewisse Höhe der Empfindung erreichen, kann jede Lüge derart unmöglich werden, daß man überhaupt kaum noch miteinander sprechen kann!«

Mit feinem Ohr hörte Ulrich aus diesem Tadel, daß der Eingang zu seiner Kusine Seele für ihn offener stand als sonst und weil ihn überaus erheitert hatte, was sie unfreiwillig davon gestand, daß sie mit Arnheim nicht reden könne, ohne zu lügen, empfahl er seine Aufrichtigkeit eine Weile dadurch, daß auch er nichts sagte, und beugte sich dann, da sich Diotima inzwischen wieder hingelegt hatte, über ihren Arm, um in freundschaftlich sanfter Weise dessen Hand zu küssen. Leicht wie Hollundermark ruhte sie in der seinen und blieb nach dem Kuß dort liegen. Der Puls rann über seine Fingerspitzen. Der puderzarte Geruch der Nähe blieb wie ein Wölkchen an seinem Gesicht hängen. Und obgleich dieser Handkuß bloß ein galanter Scherz gewesen war, hatte er mit einer Untreue jene bittere Hinterlassenschaft der Lust gemeinsam, sich so nah an eine andere Person gebeugt zu haben, daß man aus ihr trank wie ein Tier und das eigene Bild nicht mehr aus dem Wasser zurückkommen sah. »Was denken Sie?« fragte Diotima. Ulrich schüttelte bloß den Kopf und gab ihr dadurch – im Dunkel, das nur noch von einem letzten samtenen Schimmer erhellt wurde – von neuem Gelegenheit, vergleichende Studien über Schweigen anzustellen. Ein wundervoller Satz kam ihr ins Gedächtnis: »Es gibt Menschen, mit denen sich der größte Held nicht zu schweigen getraute.« Oder es war der richtige Wortlaut dem ähnlich. Sie glaubte sich zu erinnern, daß es ein Zitat sei; Arnheim hatte es gebraucht, und sie hatte es auf sich bezogen. Und außer Arnheims Hand hatte sie seit den ersten Wochen ihrer Ehe keines anderen Mannes Hand länger als zwei Sekunden in der ihren gehalten, nur mit Ulrichs Hand geschah das jetzt. Sie übersah in ihrer Selbstbefangenheit, wie das weiterging, fand sich aber einen Augenblick später angenehm überzeugt davon, daß sie völlig recht gehabt habe, als sie die vielleicht noch kommende, vielleicht unmögliche Stunde der höchsten Liebe nicht tatenlos abwartete, sondern die Zeit der zaudernden Entscheidung dazu benutzte, sich etwas mehr ihrem Gatten zu widmen. Verheiratete Menschen haben es sehr gut: wo andere ihren Geliebten die Treue brächen, dürfen sie sagen, daß sie sich auf ihre Pflicht besännen; und weil sich Diotima sagte, sie habe, was immer kommen möge, auf dem Platz, wohin sie vom Schicksal gestellt worden sei, einstweilen ihre Pflicht zu tun, hatte sie den Versuch unternommen, die Fehler ihres Gatten auszugleichen und ihm etwas mehr Seele beizubringen. Wieder fiel ihr ein Dichterwort ein: ungefähr besagte es, daß es keine schlimmere Verzweiflung gebe, als mit einem Menschen in ein gemeinsames Schicksal verflochten zu sein, den man nicht liebe, und auch das bewies, daß sie sich bemühen mußte, etwas für Tuzzi zu empfinden, solange ihr Schicksal sie noch nicht getrennt hätte. In verständigem Gegensatz zu den unberechenbaren Geschehnissen der Seele, die sie ihn nicht länger entgelten lassen wollte, hatte sie das systematisch begonnen; und mit Stolz fühlte sie die Bücher, auf denen sie lag, denn sie beschäftigten sich mit der Physiologie und Psychologie der Ehe, und irgendwie ergänzte es sich gegenseitig, daß es dunkel war, daß sie diese Bücher bei sich hatte, daß Ulrich ihre Hand hielt, daß sie ihm den großartigen Pessimismus zu verstehen gegeben hatte, den sie nun vielleicht auch in ihrer öffentlichen Tätigkeit bald durch einen Verzicht auf ihre Ideale ausdrücken werde, und Diotima drückte Ulrichs Hand von Zeit zu Zeit bei diesen Gedanken so, als ob die Koffer gepackt stünden, um von allem Gewesenen Abschied zu nehmen. Sie stöhnte dann leise, und eine ganz leichte Welle von Schmerz rann zur Entschuldigung durch ihren Körper; Ulrich aber erwiderte begütigend den Druck mit seinen Fingerspitzen, und nachdem sich das einigemal wiederholt hatte, dachte Diotima wohl, daß es eigentlich zuviel sei, doch sie wagte nicht mehr ihre Hand zurückzuziehn, weil diese so leicht und trocken in der seinen lag, und zuweilen sogar zitterte, daß es ihr selbst wie ein unzulässiger Hinweis auf die Physiologie der Liebe vorkam, den sie nun um keinen Preis durch eine ungeschickte Fluchtbewegung verraten wollte.

Es war »Rachelle«, die sich im Nebenzimmer zu schaffen gemacht hatte und, seit einiger Zeit eigenartig ungezogen geworden, diesem Auftritt ein Ende bereitete, indem sie jenseits der offenen Verbindungstür plötzlich das Licht einschaltete. Diotima zog rasch ihre Hand aus der Ulrichs zurück; ein von Schwerlosigkeit ausgefüllt gewesener Raum blieb einen Augenblick lang in dieser liegen. »Rachelle,« rief Diotima flüsternd »mache auch hier Licht!« Als es geschehen war, hatten die beleuchteten Köpfe etwas Aufgetauchtes, wie wenn das Dunkel noch nicht ganz von ihnen weggetrocknet wäre. Schatten lagen um Diotimas Mund und gaben ihm Nässe und Schwellung; die perlmutterfarbenen kleinen Wülste am Hals und unter den Wangen, die sonst für die Liebhaber üppiger Feinkost geschaffen zu sein schienen, waren hart wie ein Linoleumschnitt und wild mit Tinte schattiert. Auch Ulrichs Kopf ragte schwarz und weiß bemalt wie der eines auf dem Kriegspfad befindlichen Urmenschen ins ungewohnte Licht. Er blinzelte und trachtete die Aufschriften der Werke zu entziffern, von denen Diotima umgeben war, und mit Erstaunen erkannte er nun die seelen- und körperhygienische Wissensbegierde seiner Kusine, die sich in der Wahl dieser Bücher ausdrückte. »Er wird mir einmal noch etwas antun!« dachte sie plötzlich, die seinem Blick gefolgt war und von ihm beunruhigt wurde, aber es kam ihr nicht in der Form dieses Satzes zu Bewußtsein; sie fühlte sich ihrem Vetter bloß zu sehr ausgeliefert, wie sie nun im Licht unter seinen Augen lag, und hatte das Bedürfnis, sich ein sicheres Ansehen zu geben. Mit einer Gebärde, die recht überlegen sein sollte, wie es einer von allem, was es gibt, »unabhängigen« Frau zukommt, wies sie umfassend auf ihre Lektüre hin und sagte mit möglichst sachlicher Betonung: »Werden Sie es glauben, daß mir der Ehebruch manchmal als eine viel zu einfache Lösung der ehelichen Konflikte erscheint?!«

»Er ist jedenfalls die schonendste!« gab Ulrich zur Antwort und ärgerte sie durch seinen spöttischen Ton. »Ich möchte sagen, er schadet auf keinen Fall.«

Diotima warf ihm einen Blick des Vorwurfs zu und gab ihm ein Zeichen, daß Rachel vom Nebenzimmer her zuhören könne. Dann sagte sie laut: »So meine ich es gewiß nicht!« und rief ihre Zofe an, die störrisch zum Vorschein kam und mit bitterer Eifersucht zur Kenntnis nahm, daß sie hinausgewiesen werde. Durch diesen Zwischenfall hatten sich aber die Gefühle geordnet; die vom Dunkel begünstigte Einbildung, gemeinsam eine kleine Untreue zu begehn, wenn auch sozusagen unbezeichenbar und an niemandem, verflog in der Helligkeit, und Ulrich trachtete nun, zur Sprache zu bringen, was noch geschäftlich zu sagen war, um aufbrechen zu können.

»Ich habe Ihnen noch nicht mitgeteilt, daß ich meine Sekretärstelle niederlege« begann er.

Diotima zeigte sich aber unterrichtet und erklärte, er müsse bleiben, es ginge nicht anders. »Die Arbeit, die wir leisten sollen, ist noch immer enorm« bat sie. »Haben Sie nur noch ein wenig Geduld, es muß bald die Lösung kommen! Man wird Ihnen einen richtigen Sekretär zur Verfügung stellen.«

Dieses unbestimmte »Man wird« fiel Ulrich auf, und er wollte Näheres wissen.

»Arnheim hat sich angeboten, Ihnen seinen Sekretär zu leihen.«

»Nein, danke« erwiderte Ulrich. »Ich habe das Gefühl, das wäre nicht ganz selbstlos.« Er hatte in diesem Augenblick wieder nicht übel Lust, Diotima den schlichten Zusammenhang mit den Ölfeldern zu erklären, aber ihr war der zweifelhafte Ausdruck seiner Antwort nicht einmal aufgefallen, und sie berichtete einfach weiter:

»Überdies hat sich auch mein Mann bereit erklärt, Ihnen einen Angestellten aus seinen Büros zu überlassen.«

»Wäre Ihnen das recht?«

»Offen gestanden, es wäre mir nicht ganz lieb« äußerte sich Diotima diesmal bestimmter. »Zumal da wir keinen Mangel leiden: Auch Ihr Freund, der General, hat mir eröffnet, daß er Ihnen mit Vergnügen eine Hilfskraft aus seiner Abteilung zur Verfügung stellen könnte.«

»Und Leinsdorf?«

»Diese drei Möglichkeiten sind mir freiwillig angeboten worden, darum hatte ich keine Ursache, Leinsdorf zu fragen: aber sicher würde er ein Opfer nicht scheuen.«

»Man verwöhnt mich.« Mit diesen Worten faßte Ulrich die überraschende Bereitwilligkeit Arnheims, Tuzzis und Stumms zusammen, sich in billiger Weise eine gewisse Kontrolle über alle Vorgänge der Parallelaktion zu sichern. »Aber vielleicht wäre es doch das Klügste, ich nähme den Vertrauensmann Ihres Gatten zu mir.«

»Lieber Freund –?« wehrte Diotima das noch immer ab, aber sie wußte nicht recht, wie sie fortfahren solle, und wahrscheinlich kam darum etwas sehr Verwickeltes heraus. Sie stützte sich wieder auf den Ellbogen und sagte lebhaft: »Ich lehne Ehebruch als eine zu plumpe Lösung ehelicher Konflikte ab: das habe ich Ihnen gesagt! Aber trotzdem: es ist nichts so schwer, wie mit einem Menschen in ein Schicksal verflochten zu sein, den man nicht genügend liebt!«

Das war ein höchst unnatürlicher Naturlaut. Aber ungerührten Sinnes beharrte Ulrich auf seinem Entschluß. »Ohne Frage möchte Sektionschef Tuzzi auf diese Weise Einfluß auf das gewinnen, was Sie unternehmen: aber das möchten die anderen auch!« erklärte er ihr. »Alle drei Männer lieben Sie, und jeder muß das irgendwie mit seiner Pflicht vereinen.« Er wunderte sich geradezu darüber, daß Diotima weder die Sprache der Tatsachen noch die der Bemerkungen verstand, die er dazugab, und schloß, während er aufstand, um sich zu verabschieden, noch ironischer: »Der einzige, der Sie selbstlos liebt, bin ich; weil ich durchaus nichts zu tun und keine Pflichten habe. Aber Gefühle ohne Ablenkung sind zerstörend: das haben Sie inzwischen selbst erfahren, und Sie haben mir immer ein berechtigtes, wenn auch nur instinktives Mißtrauen entgegengebracht.«

Diotima wußte zwar nicht warum, doch geschah es vielleicht gerade aus diesem manchmal so sympathischen Grund, daß es ihr angenehm war, Ulrich in der Frage des Sekretärs die Partei ihres Hauses nehmen zu sehen, und sie ließ seine Hand, die er ihr dargeboten hatte, nicht los.

»Und wie steht damit Ihr Verhältnis mit jener Frau in Einklang?« fragte sie, übermütig an seine Bemerkung anknüpfend – soweit Diotima des Übermuts fähig war, was ungefähr so aussah, wie wenn ein Schwerathlet mit einer Feder spielt.

Ulrich verstand nicht, wen sie meinen könne.

»Mit der Frau des Gerichtspräsidenten, die Sie mir vorgestellt haben!«

»Das haben Sie bemerkt, Kusine?!«

»Doktor Arnheim hat mich darauf aufmerksam gemacht.«

»So? Sehr schmeichelhaft, daß er glaubt, mir bei Ihnen damit schaden zu können. Aber natürlich sind meine Beziehungen zu dieser Dame völlig einwandfrei!« verteidigte Ulrich in der herkömmlichen Weise die Ehre Bonadeas.

»Sie war während Ihrer Abwesenheit bloß zweimal in Ihrer Wohnung!« Diotima lachte. »Wir haben sie das eine Mal zufällig beobachtet, und das zweite Mal haben wir es anders erfahren. Ihre Verschwiegenheit ist also zwecklos. Dagegen möchte ich Sie begreifen! Ich kann es nicht!«

»Mein Gott, wie könnte man gerade Ihnen das erklären!«

»Tun Sie es!« befahl Diotima. Sie hatte die Miene ihrer »amtlichen Unkeuschheit« aufgesetzt, eine Art bebrillten Ausdrucks, den sie annahm, wenn ihr Geist ihr befahl, Dinge anzuhören oder zu sagen, die ihrer Seele als Dame eigentlich verboten waren. Aber Ulrich weigerte sich und wiederholte, daß er über das Wesen Bonadeas nur auf Mutmaßungen angewiesen wäre.

»Gut« gestand Diotima zu. »Ihre Freundin hat zwar selbst nicht mit Andeutungen gespart! Sie scheint zu glauben, mir gegenüber irgend ein Unrecht verteidigen zu müssen! Aber sprechen Sie, wenn Sie es vorziehen, nur so, als ob Sie bloß mutmaßten!«

Nun fühlte Ulrich Wissensdurst und erfuhr, daß Bonadea schon einigemal von Diotima empfangen worden sei, und nicht nur in Angelegenheiten, die mit der Parallelaktion und der Stellung ihres Gatten zusammenhingen. »Ich muß gestehn, daß ich diese Frau schön finde« räumte Diotima ein. »Und sie ist ungewöhnlich ideal gesinnt. Ich bin eigentlich böse darüber, daß Sie mein Vertrauen beanspruchen und mir das Ihre immer vorenthalten haben!«

In diesem Augenblick hatte Ulrich ungefähr den Wunsch: »Hol euch alle –!«Er wollte Diotima schrecken und Bonadea ihre Aufdringlichkeit entgelten lassen oder fühlte für einen Augenblick die volle Entfernung zwischen sich und dem Leben, das zu führen er sich gewährt hatte. »Also hören Sie« gab er Auskunft und sah scheinbar finster drein: »Diese Frau ist Nymphomanin, und dem kann ich nicht widerstehn!«

Diotima wußte »amtlich«, was Nymphomanie sei. Es trat eine Pause ein, dann erwiderte sie gedehnt: »Die arme Frau! Und so etwas lieben Sie?!«

»Es ist so idiotisch!« meinte Ulrich.

Diotima wollte »Näheres« wissen; er mußte ihr die »beklagenswerte Erscheinung« erläutern und »menschlich machen«. Er tat es nicht gerade eingehend, und trotzdem bemächtigte sich ihrer dabei allmählich das Gefühl einer Genugtuung, deren Grundlage wohl der bekannte Dank an den Herrn bildete, daß sie nicht so sei wie jene, deren Spitze sich aber in Schreck und Neugierde verlor und auf ihre späteren Beziehungen zu Ulrich nicht ohne Einfluß bleiben sollte. Nachdenklich sagte sie: »Es muß doch einfach entsetzlich sein, einen Menschen zu umarmen, wenn man nicht innerlich von ihm überzeugt ist!«

»Finden Sie das?« gab ihr Vetter treuherzig zurück. Diotima empfand, wie ihr bei dieser Anzüglichkeit Entrüstung und Kränkung zu Kopf stiegen, aber sie durfte es nicht zeigen; sie begnügte sich damit, seine Hand loszulassen und mit einer verabschiedenden Bewegung in die Kissen zurückzusinken. »Sie hätten mir das nie erzählen dürfen!« sagte sie von dort. »Sie haben sich soeben sehr unschön gegen diese arme Frau betragen und sind indiskret!«

»Nie bin ich indiskret!« verwahrte sich Ulrich und mußte über seine Kusine lachen. »Sie sind wirklich ungerecht. Sie sind die erste Frau, der ich Geständnisse über eine andere mache, und Sie haben mich dazu verleitet!«

Diotima war geschmeichelt. Sie wollte etwas dem Ähnliches sagen, daß man sich ohne geistige Verwandlung um das Beste betröge; nur brachte sie es nicht fertig, weil es ihr plötzlich persönlich nahe ging. Schließlich verhalf ihr aber die Erinnerung an eins der sie umgebenden Bücher zu einer unverfänglichen, gleichsam durch Amtsschranken geschützten Erwiderung: »Sie begehen den Fehler aller Männer« tadelte sie. »Sie behandeln den Liebespartner nicht als gleichberechtigt, sondern bloß als Ergänzung für Sie selbst und sind dann enttäuscht. Haben Sie sich nie die Frage vorgelegt, ob nicht vielleicht der Weg zu einer beschwingten und harmonischen Erotik nur durch härtere Selbsterziehung führe?!«

Ulrich blieb beinahe der Mund offen; aber in unwillkürlicher Abwehr dieses gelehrten Angriffs gab er die Antwort: »Wissen Sie, daß mich heute auch Sektionschef Tuzzi schon nach den Erziehungs- und Entstehungsmöglichkeiten der Seele gefragt hat?!«

Diotima fuhr in die Höhe: »Wie, Tuzzi spricht mit Ihnen über Seele?« fragte sie erstaunt.

»Ja, natürlich; er will sich unterrichten, was das sei« versicherte Ulrich, war aber durch nichts mehr in seinem Aufbruch aufzuhalten und versprach bloß, vielleicht ein anderes Mal die Pflicht der Verschwiegenheit zu brechen und auch das zu erzählen.


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