Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Von der Koniatowski'schen Kritik des Danielli'schen Satzes zum Sündenfall. Vom Sündenfall zum Gefühlsrätsel der Schwester
Der Zustand, in dem Ulrich die Straße betreten hatte, als er das Palais des Grafen Leinsdorf verließ, ähnelte dem nüchternen Gefühl des Hungers; er blieb vor einer Anschlagfläche stehn und stillte seinen Hunger nach Bürgerlichkeit an den Bekanntmachungen und Anzeigen. Die mehrere Meter große Tafel war bedeckt mit Worten. »Eigentlich dürfte man annehmen,« fiel ihm ein »daß gerade diese Worte, die sich an allen Ecken und Enden der Stadt wiederholen, einen Erkenntniswert haben.« Sie kamen ihm mit den stehenden Wendungen verwandt vor, die von den Personen beliebter Romane in wichtigen Lebenslagen geäußert werden, und er las: »Haben Sie schon etwas so Angenehmes und Praktisches getragen wie den Topinam-Seidenstrumpf?« »Durchlaucht amüsiert sich.« »Die Bartholomäusnacht neu bearbeitet.« »Gemütlichkeit im Schwarzen Rössl.« »Schmissige Erotik und Tanz im Roten Rössl.« Daneben fiel ihm noch ein politischer Anschlag auf »Verbrecherische Machenschaften«: er bezog sich aber nicht auf die Parallelaktion, sondern auf den Brotpreis. Er wandte sich um und blickte nach einigen Schritten in die Auslage eines Buchladens. »Das neue Werk des großen Dichters« las er auf einer Papptafel, die neben fünfzehn gleiche, aneinandergereihte Bände gestellt war. Dieser Tafel gegenüber stand in der anderen Ecke der Auslage ein Seitenstück mit dem gedruckten Hinweis auf ein zweites Werk: »Herr und Dame vertiefen sich mit gleicher Spannung in Babel der Liebe von...«
»Der große Dichter?« dachte Ulrich. Er erinnerte sich, nur ein Buch von ihm gelesen und vorausgesetzt zu haben, er werde niemals ein zweites lesen müssen: seither war der Mann aber trotzdem berühmt geworden. Und Ulrich fiel angesichts der deutschen Geistesauslage ein alter Soldatenwitz ein: »Mortadella!« So war zu seiner Militärzeit ein unbeliebter Divisionsgeneral genannt worden, nach der beliebten italienischen Wurst, und wer nach der Auflösung des Wortspiels fragte, erhielt die Antwort: »Teils Schwein, teils Esel.« Ulrich würde diesen Vergleich angeregt fortgesetzt haben, wäre er daran nicht durch eine Frau verhindert worden, die ihn mit den Worten »Sie warten hier auch auf die Straßenbahn?« ansprach. Dadurch kam er darauf, daß er nicht mehr vor dem Buchladen stand.
Er hatte auch nicht gewußt, daß er inzwischen unbeweglich neben der Tafel einer Haltestelle stehen geblieben war. Die Dame, die ihn das bemerken machte, trug einen Rucksack und eine Brille; sie war eine ihm bekannte Astronomin, Assistentin am Institut, eine der wenigen Frauen, die in dieser männlichen Disziplin etwas Bedeutendes leisten. Er sah ihr auf die Nase und auf die Plätze unter den Augen, die in der gewohnheitsmäßigen Anstrengung des Nachdenkens etwas von Schweißblättern aus Guttapercha angenommen hatten; dann gewahrte er in der Tiefe ihren geschürzten Lodenrock, in der Höhe aber eine Schildhahnfeder auf einem grünen Hut, der über ihrem gelehrten Antlitz schwebte, und lächelte. »Sie gehen ins Gebirge?« fragte er.
Dr. Strastil fuhr auf drei Tage ins Gebirge »ausspannen«. »Was sagen Sie zu der Arbeit von Koniatowski?« fragte sie Ulrich. Ulrich sagte nichts. »Kneppler wird sich darüber ärgern« meinte sie. »Aber die Kritik, die Koniatowski an der Knepplerschen Ableitung des Danielli'schen Satzes übt, ist interessant: finden Sie nicht auch? Halten Sie diese Ableitung für möglich?«
Ulrich zuckte die Achseln.
Er gehörte zu jenen, Logistiker genannten, Mathematikern, die überhaupt nichts richtig fanden und eine neue Fundamentallehre aufbauten. Aber er hielt auch die Logik der Logistiker nicht für ganz richtig. Hätte er weitergearbeitet, er würde nochmals auf Aristoteles zurückgegriffen haben; er hatte darüber seine eigenen Ansichten.
»Ich halte die Knepplersche Ableitung ja trotzdem nicht für verfehlt, sondern bloß für falsch« bekannte Dr. Strastil. Sie hätte ebensogut betonen können, daß sie die Ableitung für verfehlt, aber trotzdem, in wesentlichen Grundzügen, nicht für falsch halte; sie wußte, was sie meinte, aber in der gewöhnlichen Sprache, wo die Worte nicht definiert sind, kann sich kein Mensch eindeutig ausdrücken: unter ihrem Touristenhut regte sich, indes sie sich dieser Urlaubssprache bediente, etwas von dem ängstlichen Hochmut, den die sinnliche Laienwelt in einem Klostermann erregen muß, wenn er sich unvorsichtig mit ihr abgibt.
Ulrich stieg mit Fräulein Strastil in die Straßenbahn: wußte nicht warum. Vielleicht weil ihr die Kritik Koniatowskis an Kneppler so wichtig vorkam. Vielleicht wollte er mit ihr über schöne Literatur sprechen, von der sie nichts verstand. »Was werden Sie im Gebirge machen?« fragte er.
Sie wollte auf den Hochschwab.
»Sie werden dort noch zuviel Schnee vorfinden. Mit Skiern kommt man nicht mehr hinauf und ohne Skier noch nicht« riet er ab, der das Gebirge kannte.
»Dann bleibe ich unten« erklärte ihm Fräulein Strastil. »In den Hütten auf der Färsenalm, die am Anstieg liegen, bin ich schon einmal drei Tage gewesen. Ich will ja nichts als bloß ein wenig Natur!«
Das Gesicht, das die treffliche Astronomin zu dem Worte Natur machte, reizte Ulrich zu der Frage, wozu sie sich eigentlich Natur wünsche.
Dr. Strastil empörte sich ehrlich. Sie könne die ganzen drei Tage auf der Alm liegen, ohne sich zu rühren: wie ein Felsblock! verkündete sie.
»Höchstens weil Sie Wissenschaftlerin sind!« warf Ulrich ein. »Ein Bauer würde sich langweilen!«
Das sah Dr. Strastil nicht ein. Sie sprach von den Tausenden, die an jedem Feiertag zu Fuß, zu Rad, zu Schiff die Natur suchten.
Ulrich sprach von der Landflucht der Bauern, die es nach der Stadt ziehe.
Fräulein Strastil bezweifelte, daß er elementar genug fühle.
Ulrich behauptete, elementar sei neben Essen und Liebe die Bequemlichkeit, aber nicht das Aufsuchen einer Alm. Das natürliche Empfinden, das dazu angeblich treibe, sei vielmehr ein moderner Rousseauismus, ein verwickeltes und sentimentales Verhalten. – Er fühlte sich keineswegs gut sprechen, es war ihm gleichgültig, was er sagte, er fuhr darin nur fort, weil es noch immer nicht das war, was er aus sich herausbefördern wollte. Fräulein Strastil warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. Sie war nicht imstande, ihn zu verstehen; ihre große Denkerfahrung in reinen Begriffen nützte ihr nicht das geringste, sie konnte die Vorstellungen, mit denen er bloß behende um sich zu werfen schien, weder auseinanderhalten, noch zusammenbekommen; sie vermutete, daß er rede, ohne zu denken. Daß sie solchen Worten mit einer Hahnenfeder am Hut zuhörte, bereitete ihr die einzige Genugtuung und bestärkte ihre Freude an der Einsamkeit, der sie entgegenreiste.
In diesem Augenblick fiel Ulrichs Blick in die Zeitung seines Nachbarn, und er las in großen Lettern als Überschrift eines Inserats: »Die Zeit stellt Fragen, die Zeit gibt Antwort«: es mochte sich darunter die Empfehlung einer Schuheinlage befinden oder die eines Vortrags, das kann man heute nicht mehr unterscheiden, aber seine Gedanken sprangen plötzlich in das Geleise, das er brauchte. Seine Gefährtin bemühte sich, objektiv zu sein, und gestand unsicher: »Ich kenne leider wenig von der Schönen Literatur, unsereins hat ja keine Zeit. Vielleicht kenne ich auch gar nicht das Richtige. Aber zum Beispiel« – und nun nannte sie einen beliebten Namen – »gibt mir unglaublich viel. Ich finde, wenn uns ein Dichter so lebendig fühlen machen kann, ist das wohl etwas Großes!« Doch weil Ulrich der in Dr. Strastils Geist bestehenden Verbindung einer außerordentlichen Entwicklung des begrifflichen Denkens mit auffälligem Schwachsinn des Seelenverstandes bereits genug zu verdanken glaubte, erhob er sich erfreut, sagte seiner Fachverwandten eine dicke Schmeichelei und stieg eilig aus, wobei er vorschützte, schon zwei Haltestellen zu weit gefahren zu sein. Als er im Freien stand und noch einmal grüßte, erinnerte sich Fräulein Strastil, in letzter Zeit Ungünstiges über seine Leistungen gehört zu haben, und fühlte sich menschlich bewegt durch eine Blutwelle, die seine gefälligen Abschiedsworte erregt hatten, was ihren Überzeugungen nach nicht gerade für ihn sprach; er aber wußte nun und wußte es gleichwohl noch nicht ganz, warum seine Gedanken um die Sache der Literatur kreisten und was sie dort wollten, von dem unterbrochenen Mortadella-Vergleich an bis zur unbewußten Verleitung der guten Strastil zu Geständnissen. Schließlich ging ihn die Literatur nichts mehr an, seit er mit zwanzig Jahren sein letztes Gedicht geschrieben hatte; immerhin war zuvor eine Zeitlang heimliches Schreiben eine ziemlich regelmäßige Gewohnheit von ihm gewesen, und er hatte sie nicht etwa deshalb aufgegeben, weil er älter geworden war oder eingesehen hatte, zu wenig Begabung zu haben, sondern aus Gründen, für die er unter den gegenwärtigen Eindrücken am ehesten irgendein Wort hätte gebrauchen mögen, das nach vielen Anstrengungen ein Münden ins Leere ausdrückt.
Denn Ulrich gehörte zu den Bücherliebhabern, die nicht mehr lesen mögen, weil sie das Ganze des Schreibens und Lesens als ein Unwesen empfinden. »Wenn die vernünftige Strastil fühlen gemacht werden will« dachte er (»Womit sie recht hat! Hätte ich ihr widersprochen, so wäre sie mir mit der Musik als Kronzeugnis gekommen!«), und wie das schon geschieht, dachte er teils in Worten, teils wirkte die Überlegung als wortloser Einwurf ins Bewußtsein hinein: wenn also die verständige Dr. Strastil fühlen gemacht werden wollte, so kam es auf das hinaus, was alle wollen, daß die Kunst den Menschen bewege, erschüttere, unterhalte, überrasche, ihn an edlen Gedanken schnuppern lasse oder, mit einem Wort, ihn eben wirklich etwas »erleben« mache und selbst »lebendig« oder ein »Erlebnis« sei. Und Ulrich wollte das auch gar nicht verwerfen. In einem Nebengedanken, der als ein Gemisch von leichter Rührung mit widerstrebender Ironie endete, dachte er: »Gefühl ist selten genug. Eine gewisse Temperatur des Fühlens vor dem Erkalten zu schützen, bedeutet wahrscheinlich, die Brutwärme zu hüten, aus der alle geistige Entwicklung entsteht. Und wenn ein Mensch aus seinem Gewirr von intelligenten Absichten, die ihn mit unzähligen fremden Gegenständen verstricken, für Augenblicke in einen ganz zwecklosen Zustand hinausgehoben wird, wenn er also zum Beispiel Musik hört, ist er beinahe im Lebenszustand einer Blume, auf die Regen und Sonnenschein fällt.« Er wollte zugeben, daß eine ewigere Ewigkeit, als der menschliche Geist in seiner Tätigkeit hat, in seinen Pausen und seinem Verruhen liege; aber nun hatte er bald »Gefühl«, bald »Erleben« gedacht, und das zog einen Widerspruch nach sich. Denn es gab doch Willenserlebnisse! Es gab doch Erlebnisse gegipfelten Tuns! Zwar durfte man wahrscheinlich annehmen, daß jedes von ihnen, wenn es seine höchste, strahlende Bitterkeit erreicht, nur noch Gefühl sei; aber damit stände dann erst recht in Widerspruch, daß der Zustand des Fühlens in seiner vollen Reinheit ein »Verruhen«, ein Versinken der Tätigkeit wäre?! Oder stand es doch nicht in Widerspruch? Gab es einen wunderlichen Zusammenhang, wonach höchste Tätigkeit im Kern reglos wäre? Hier zeigte sich aber, daß diese Folge von Einfällen weniger einen Nebengedanken als einen unerwünschten Gedanken bedeutete, denn Ulrich widerrief in plötzlich erwachendem Widerstand gegen ihre empfindsame Wendung die ganze Betrachtung, in die er hineingeraten war. Er war keineswegs gesonnen, über gewisse Zustände nachzusinnen, und, wenn er über Gefühle nachdächte, selbst in Gefühle zu verfallen.
Dabei kam ihm augenblicklich in den Sinn, daß man am besten und ohne Umschweife das, worauf er es abgesehen hätte, als die vergebliche Aktualität oder ewige Augenblicklichkeit der Literatur bezeichnen könnte. Hat sie denn ein Ergebnis? Entweder ist sie ein ungeheurer Umweg vom Erleben zum Erleben und läuft in sich selbst zurück, oder sie ist ein Inbegriff von Reizzuständen, aus dem in keiner Weise etwas Bestimmtes hervorgeht. »Eine Pfütze« dachte er nun »hat schon jedem unwillkürlich viel öfter und stärker den Eindruck der Tiefe gemacht als der Ozean, und aus dem einfachen Grund, weil man mehr Gelegenheit hat, Pfützen zu erleben, als Ozeane«: So schien ihm, sei es auch mit dem Gefühl, und aus keinem andren Grund gälten die alltäglichen Gefühle für die tiefen. Denn die Bevorzugung des Fühlens vor dem Gefühl, wie sie das Kennzeichen aller gefühlvollen Menschen ist, kommt ebenso wie der Wunsch, fühlen zu machen und fühlen gemacht zu werden, der das Gemeinsame aller dem Gefühl dienenden Einrichtungen ist, auf eine Herabsetzung von Rang und Wesen der Gefühle gegenüber ihrem Augenblick als einem persönlichen Zustand hinaus und weiterhin auf jene Seichtheit, Entwicklungshemmung und völlige Belanglosigkeit, für die es nicht am allgemeinen Beispiel mangelt. »Natürlich muß eine solche Auffassung« dachte Ulrich ergänzend »alle Menschen abstoßen, die sich in ihren Gefühlen wohlfühlen wie der Hahn in den Federn und sich womöglich noch etwas darauf zugute tun, daß die Ewigkeit mit jeder Persönlichkeit von vorne anfängt!« Er hatte die klare Vorstellung einer ungeheuren Verkehrtheit, geradezu einer in menschheitlichen Ausmaßen, vermochte das aber doch nicht in einer Weise auszudrücken, die ihn ganz befriedigt hätte, da die Zusammenhänge wohl zu vielseitig waren.
Er beobachtete, während ihn das beschäftigte, die vorbeikommenden Bahnen und wartete auf eine, die ihn möglichst nah an das Innere der Stadt zurückbringen sollte. Er sah die Menschen aus- und einsteigen, und sein technisch nicht unerfahrener Blick spielte zerstreut mit den Zusammenhängen von Schmieden und Gießen, Walzen und Nieten, von Konstruktion und Werkstattausführung, geschichtlicher Entwicklung und gegenwärtigem Stand, aus denen die Erfindung dieser rollenden Baracken bestand, deren sie sich bedienten. »Zum Schluß kommt dann eine Abordnung der Straßenbahnverwaltung in die Waggonfabrik und entscheidet über die Holzverschalung, den Anstrich, die Polsterung, die Anbringung der Arm- und Handstützen, der Aschenbecher und ähnliches,« dachte er nebenbei »und gerade diese Kleinigkeiten machen aus, und die rote oder grüne Farbe des Kastens macht es aus, und der Schwung, mit dem sie über das Trittbrett hineinklettern können, macht für Zehntausende Menschen das aus, was sie behalten, das einzige, was für sie von allem Genie übrig bleibt und von ihnen erlebt wird. Das bildet ihren Charakter, gibt ihm Raschheit oder Bequemlichkeit, läßt sie rote Bahnen als Heimat und blaue als Fremde empfinden und bildet jenen unverwechselbaren Geruch aus kleinen Tatsachen, den die Jahrhunderte an ihren Kleidern haben.« Es war also nicht zu leugnen und schloß sich mit einemmal an das andere an, was Ulrichs Hauptgedankenzug bildete, daß zum großen Teil auch das Leben in unbedeutende Aktualität mündet, oder wenn man es technisch ausdrückt, daß ein seelischer Wirkungskoeffizient sehr klein ist.
Und plötzlich, während er sich selbst mit einem Schwung in den Wagen klettern fühlte, sagte er zu sich: »Ich muß Agathe einprägen: Moral ist Zuordnung jedes Augenblickszustandes unseres Lebens zu einem Dauerzustand!« Dieser Satz war ihm in der Art einer Definition mit einemmal eingefallen. Nicht voll entwickelt und ausgegliedert, waren diesem überblank geschliffenen Gedanken aber Einfälle vorangegangen und folgten nach und ergänzten das Verständnis. Eine strenge Auffassung und Aufgabensetzung für die harmlose Beschäftigung des Fühlens, eine ernste Rangordnung standen damit, ungewiß verkürzt, in Aussicht: Gefühle müssen entweder dienen oder einem bis ins Letzte reichenden, noch keineswegs beschriebenen Zustand angehören, der groß wie das küstenlose Meer ist. Sollte man das eine Idee, sollte man es eine Sehnsucht nennen? Ulrich mußte es auf sich beruhen lassen, denn in dem Augenblick, wo ihm der Name seiner Schwester eingefallen war, verdunkelte ihr Schatten seine Gedanken. Wie immer, wenn er an sie dachte, war ihm zumute, er habe während der in ihrer Gesellschaft verbrachten Zeit einen anderen Geisteszustand gezeigt als sonst. Er wußte auch, daß er leidenschaftlich wieder in diesen Zustand zurück wolle. Aber die gleiche Erinnerung bedeckte ihn mit der Schmach, daß er sich angemaßt, lächerlich und trunken betragen habe, nicht besser als ein Mensch, der sich in seinem Taumel auf die Knie vor Zuschauern wirft, denen er nächsten Tags nicht wird ins Antlitz sehen können. Das war, angesichts der maßvoll gebändigten geistigen Beziehung zwischen den Geschwistern, ungeheuerlich übertrieben, und sollte man es nicht völlig für unbegründet halten, so war es nur als Widerspiel zu Gefühlen anzusehen, die noch keine Gestalt hatten. Er wußte, daß Agathe in wenigen Tagen eintreffen müsse, und hinderte nichts. Hatte sie überhaupt etwas Unrechtes getan? Man konnte ja annehmen, sie habe mit dem Erkalten ihrer Laune alles wieder rückgängig gemacht. Aber eine sehr lebhafte Ahnung versicherte ihm, daß Agathe nicht von ihrer Absicht abgestanden sei. Er hätte bei ihr anfragen können. Er fühlte sich wieder verpflichtet, sie brieflich zu warnen. Aber statt diesen Vorsatz auch nur einen Augenblick ernst zu nehmen, stellte er sich vor, was Agathe zu ihrem ungewöhnlichen Verhalten bewogen haben möge: er sah dieses als eine unglaublich heftige Gebärde an, durch die sie ihm ihr Vertrauen schenkte und sich in seine Hand gab. »Sie hat sehr wenig Realitätssinn,« dachte er »aber eine wunderbare Art, das zu tun, was sie will. Unüberlegt, könnte man sagen; aber darum auch unabgekühlt! Wenn sie böse ist, sieht sie die Welt rubinrot!« Er lächelte freundlich und blickte sich unter den Leuten um, die mitfuhren. Böse Gedanken hatte jeder von ihnen, das war sicher, und jeder unterdrückte sie, und niemand nahm sie sich allzu übel: aber keiner hatte diese Gedanken außer sich, in einem Menschen, der ihnen die bezaubernde Unzugänglichkeit eines geträumten Erlebnisses gibt.
Seit Ulrich seinen Brief nicht zu Ende geschrieben hatte, machte er sich nun zum erstenmal klar, daß er nicht mehr zu wählen habe, sondern sich schon in dem Zustand befinde, vor dem er noch zaudere. Nach seinen Gesetzen – er gestattete sich die überhebliche Doppelsinnigkeit, daß er sie heilig nannte – konnte Agathes Fehler nicht bereut, sondern nur durch Geschehnisse, die ihm folgten, gut-gemacht werden, was übrigens wohl auch dem ursprünglichen Sinn des Bereuens entsprach, das ja ein läuternd-feuriger und nicht ein beschädigter Zustand ist. Agathens unbequemen Gatten zu ent-schädigen oder schad- los zu halten, hätte nichts als Zurücknahme eines Schadens, also bloß jene doppelte und lähmende Negation bedeutet, aus der das gewöhnliche gute Verhalten besteht, das sich innerlich zu Null aufhebt. Was Hagauer geschehen sollte, wie eine schwebende Last »aufzuheben«, war aber anderseits nur möglich, wenn man für ihn ein großes Gefühl aufbrachte, und daran ließ sich nicht ohne Schrecken denken. So konnte nach der Logik, in die sich Ulrich zu schicken suchte, bloß etwas anderes gutgemacht werden als der Schaden, und er war nicht einen Augenblick im Zweifel, daß dies sein und seiner Schwester ganzes Leben sein sollte. »Anmaßend gesprochen,« dachte er »heißt das: Saulus hat nicht jede einzelne Folge seiner früheren Sünden gutgemacht, sondern er ist Paulus geworden!« Gegen diese eigentümliche Logik wandten jedoch Gefühl und Überzeugung gewohnheitsmäßig ein, es wäre jedenfalls anständigerseits nur möglich, wenn man für ihn ein großes Gefühl aufbrachte, und daran ließ sich nicht ohne Schrecken denken. So konnte nach der Logik, in die sich Ulrich zu schicken suchte, bloß etwas anderes gutgemacht werden als der Schaden, und er war nicht einen Augenblick im Zweifel, daß dies sein und seiner Schwester ganzes Leben sein sollte. »Anmaßend gesprochen,« dachte er »heißt das: Saulus hat nicht jede einzelne Folge seiner früheren Sünden gutgemacht, sondern er ist Paulus geworden!« Gegen diese eigentümliche Logik wandten jedoch Gefühl und Überzeugung gewohnheitsmäßig ein, es wäre jedenfalls anständiger und täte späteren Aufschwüngen keinen Abbruch, stellte man vorerst die Rechnung mit dem Schwager glatt und sänne dann auf das neue Leben. Jene Sittlichkeit, die ihn so lockte, war ja überhaupt nicht dazu geschaffen, Geldgeschäfte zu ordnen und Gegensätze, die aus ihnen folgen. An der Grenze jenes anderen Lebens und des alltäglichen mußten darum unlösbare und widerspruchsvolle Fälle entstehn, die man wohl am besten gar nicht erst zu Grenzfällen werden ließ, sondern vorher auf die gewöhnliche, leidenschaftslose Weise der Anständigkeit aus der Welt schaffte. Aber da fühlte Ulrich nun doch wieder, daß man sich nicht an die gewöhnlichen Bedingungen der Güte halten dürfe, wenn man sich in den Bereich der unbedingten Güte vorwagen wolle. Die ihm auferlegte Aufgabe, den Schritt in das Neue hinein zu tun, schien keinen Abstrich zu dulden.
Die letzte Schanze, die ihn noch verteidigte, war mit heftiger Abneigung dagegen besetzt, daß Vorstellungen wie Ich, Gefühl, Güte, andere Güte, Böse, von denen er großen Gebrauch gemacht hatte, so persönlich und zugleich so hochhinaus und luftdünn allgemein seien, wie es eigentlich nur den moralischen Erwägungen sehr viel jüngerer Menschen entspräche. Es erging ihm so, wie es gewiß auch manchem, der seine Geschichte verfolgt, ergehen wird, er griff ärgerlich einzelne Worte heraus und fragte sich etwa: »›Herstellung und Ergebnisse von Gefühlen‹? welch eine maschinelle, rationale, menschenunkundige Auffassung! ›Moral das Problem eines Dauerzustandes, dem sich alle Einzelzustände unterordnen‹ und nichts sonst? welch eine Unmenschlichkeit!« Wenn man das mit den Augen eines vernünftigen Menschen ansah, erschien alles ungeheuer verkehrt. »Das Wesen der Moral beruht geradezu auf nichts anderem, als daß die wichtigen Gefühle immer die gleichen bleiben,« dachte Ulrich »und alles, was der Einzelne dabei zu leisten hat, ist, in Einklang mit ihnen zu handeln!« Aber gerade da hielten die mit Reißschiene und Zirkel geschaffenen Linien der rollenden Örtlichkeit, die ihn umschloß, an einer Stelle, wo sein Auge, aus dem Leib des modernen Verkehrsmittels kommend und an seiner Einrichtung unwillkürlich noch teilhabend, auf eine Steinsäule fiel, die seit der Zeit des Barock am Straßenrand stand, so daß die unbewußt aufgenommene technische Bequemlichkeit der vernünftigen Schöpfung plötzlich in Gegensatz zu der hereinbrechenden Leidenschaft der alten Gebärde geriet, die einem versteinten Leibschneiden nicht gar unähnlich sah. Die Wirkung dieses optischen Zusammenstoßes war eine ungemein heftige Bestätigung der Gedanken, denen sich Ulrich soeben noch hatte entziehen wollen. Hätte sich die Kopflosigkeit des Lebens durch irgendetwas deutlicher zeigen können, als es in diesem zufälligen Blick geschah? Ohne für das Jetzt oder das Einst geschmacksweise Partei zu nehmen, wie es bei solchen Gegenüberstellungen gewöhnlich ist, zögerte sein Geist nicht einen Augenblick, sich ebensowohl von der neuen wie von der alten Zeit allein gelassen zu fühlen, und sah nur die große Vorführung eines Problems darin, das im Grunde wohl ein moralisches ist. Er vermochte nicht daran zu zweifeln, daß die Vergänglichkeit dessen, was man für Stil, Kultur, Zeitwille oder Lebensgefühl ansieht und als solche bewundert, eine moralische Gebrechlichkeit sei. Denn im großen Maßstab der Zeiten bedeutet sie nichts anderes, als es im kleineren des eigenen Lebens wäre, wenn man sein Können ganz einseitig entwickelte und sich in auflösenden Übertreibungen zerstreute, nie ein Maß seines Willens gewänne, nie zu ganzer Bildung sich bildete, und in unzusammenhängenden Leidenschaften bald das, bald jenes täte. Darum schien ihm auch das, was man Wechsel oder gar Fortschritt der Zeiten nennt, nur ein Wort dafür zu sein, daß kein Versuch bis dorthin kommt, wo sich alle vereinen müßten, auf den Weg zu einer das Ganze umfassenden Überzeugung, und damit erst zu der Möglichkeit steter Entwicklung, dauernden Genusses und jenen Ernstes der großen Schönheit, von dem heute kaum mehr als zeitweilig ein Schatten ins Leben fällt.
Natürlich kam es Ulrich als eine ungeheuerliche Überhebung vor, anzunehmen, daß alles gleich nichts gewesen sein solle. Und doch war es nichts. Unermeßlich als Sein, Gewirr als Sinn. Zumindest war es, an seinem Ergebnis gemessen, nicht mehr als das, woraus die Seele der Gegenwart geworden ist, also wenig genug. Während Ulrich das dachte, gab er sich diesem »Wenig« aber mit einem Behagen hin, als wäre es die letzte Mahlzeit vom Tisch des Lebens, die ihm seine Absichten gestatteten. Er hatte den Wagen verlassen und einen Weg eingeschlagen, der ihn rasch in die Mitte der Stadt zurückführte. Es dünkte ihn, daß er aus einem Keller käme. Die Straßen kreischten vor Vergnügen und waren frühreif mit Wärme gefüllt wie von einem Sommertag. Der süße Giftgeschmack des Mitsichselbstredens wich aus dem Munde; alles war mitteilsam und in die Sonne gestellt. Ulrich blieb vor fast jeder Auslage stehn. Diese Fläschlein in so viel Farben, eingekapselte Wohlgerüche und unzählige Abwandlungen der Nagelschere: welche Summe von Genie lag doch schon in einem Friseurladen! Ein Handschuhgeschäft: welche Beziehungen und Erfindungen, ehe eine Ziegenhaut über eine Damenhand gezogen wird und das Tierfell vornehmer geworden ist als das eigene Fell! Er staunte die Selbstverständlichkeiten, die unzähligen niedlichen Habseligkeiten des Wohllebens an, als sähe er sie zum erstenmal. Welch reizendes Wort: hab-selig! fühlte er. Und welch ein Glück, dieses ungeheure Übereinkommen des Zusammenlebens! Nichts war hier mehr von der Erdkruste des Lebens zu spüren, von den ungepflasterten Wegen der Leidenschaft, vom – er fühlte wahrhaftig: vom Unzivilisierten der Seele! Hell und schmal flog die Aufmerksamkeit über einen Blumengarten aus Früchten, Edelsteinen, Stoffen, Formen und Verlockungen, deren sanft-eindringliche Augen in allen Farben aufgeschlagen waren. Da man damals die Weiße der Haut liebte und vor der Sonne schützte, schwebten schon einzelne bunte Schirme über der Menge und legten seidene Schatten auf blasse Frauengesichter. Sogar von dem matt goldenen Bier wurde Ulrichs Blick entzückt, das er im Vorbeigehn durch die Spiegelscheiben eines Gasthauses auf Tischtüchern stehen sah, die so weiß waren, daß sie an der Schattengrenze blaue Flächen bildeten. Dann fuhr der Erzbischof an ihm vorbei; eine sanfte, schwere Kalesche, in deren Dunkel Rot und Violett war: es mußte der Wagen des Erzbischofs gewesen sein, denn dieses Pferdefuhrwerk, dem Ulrich nachblickte, sah ganz kirchlich aus und zwei Polizisten nahmen Stellung und salutierten dem Nachfolger Christi, ohne an ihre Vorfahren zu denken, die dem seinen eine Lanze in die Rippen gestochen haben.
Er gab sich diesen Eindrücken, die er soeben noch »die vergebliche Aktualität des Lebens« genannt hatte, mit so großem Eifer hin, daß nach und nach, während er sich an der Welt sättigte, daraus sein gegnerischer früherer Zustand wieder entstand. Ulrich wußte jetzt genau, wo die Schwäche seiner Überlegungen stak. »Was soll es denn bedeuten,« fragte er sich »angesichts dieser Selbstherrlichkeit auch noch ein Ergebnis zu verlangen, das darüber, dahinter, darunter sein soll?! Soll das wohl eine Philosophie sein? Eine alles umfassende Überzeugung, ein Gesetz? Oder Gottes Finger? Oder an seiner Statt die Annahme, daß der Moral bisher eine induktive Gesinnung gefehlt habe, daß es viel schwerer sei, gut zu sein, als man geglaubt habe, und daß dazu eine ähnlich endlose Zusammenarbeit vonnöten sein werde wie überall in der Forschung? Ich nehme an, daß es keine Moral gibt, weil sie sich nicht von etwas Beständigem herleiten läßt, sondern daß es nur Regeln zur unnützen Aufrechterhaltung vergänglicher Zustände gibt; und ich nehme an, daß es kein tiefes Glück gibt ohne eine tiefe Moral: dabei scheint es mir aber ein unnatürlicher, bleicher Zustand zu sein, daß ich darüber nachdenke, und es ist überhaupt nicht das, was ich will!« In der Tat hätte er sich weit einfacher fragen können: »Was habe ich auf mich genommen?« und er tat es nun auch. Diese Frage berührte aber mehr seine Empfindsamkeit als sein Denken, ja sie unterbrach dieses und hatte Ulrich von der immer wachen Lust des feldherrlichen Planens schon ein Stück nach dem anderen fortgenommen, ehe er sie erfaßte. Sie war anfangs wie ein dunkler Ton nahe bei seinem Ohr gewesen, der ihn begleitete, dann lag der Ton in ihm selbst, nur eine Oktave tiefer als alles übrige, und nun war Ulrich endlich eins mit seiner Frage und kam sich selbst wie ein wunderlich tiefer Ton in der hell harten Welt vor, um den ein weites Intervall lag. Was hatte er also da wirklich auf sich genommen und versprochen?
Er strengte sich an. Er wußte, daß er nicht nur im Scherz, wenn auch nur als Vergleich, den Ausdruck »Tausendjähriges Reich« gebraucht habe. Wenn man dieses Versprechen ernst nahm, kam es auf den Wunsch hinaus, mit der Hilfe gegenseitiger Liebe in einer so gehobenen weltlichen Verfassung zu leben, daß man nur noch das fühlen und tun kann, was diesen Zustand erhöht und erhält. Daß es eine solche Verfassung des Menschen in Andeutungen gebe, galt ihm als eine Gewißheit, solange er denken mochte. Das hatte als die »Geschichte mit der Frau Major« begonnen, und die späteren Erfahrungen waren nicht groß, aber immer die gleichen gewesen. Wenn man alles zusammenfaßte, so kam es nicht weit davon hinaus, daß Ulrich an den »Sündenfall« und an die »Erbsünde« glaubte. Das heißt, er hätte geradezu annehmen mögen, daß es irgend einmal eine bis an den Grund reichende Veränderung im Verhalten des Menschen gegeben habe, die ungefähr so gewesen sein müsse, wie wenn ein Verliebter nüchtern wird: er sieht dann wohl die ganze Wahrheit, aber etwas Größeres ist zerrissen worden, und die Wahrheit ist überall bloß wie ein Teil, der übrig geblieben und wieder zusammengeflickt worden ist. Vielleicht war es sogar wirklich der Apfel der »Erkenntnis«, der diese Veränderung im Geiste anrichtete und das Menschengeschlecht aus einem ursprünglichen Zustand hinausstieß, in den es erst nach unendlichen Erfahrungen und durch Sünde weise geworden, wieder zurückfinden mochte. Aber Ulrich glaubte nicht an solche Geschichten so, wie sie überliefert werden, sondern so, wie er sie entdeckt hatte: er glaubte wie ein Rechner an sie, der das System seiner Gefühle vor sich liegen hat und daraus, daß sich kein einziges rechtfertigen läßt, auf die Notwendigkeit schließt, eine phantastische Annahme einzuführen, deren Beschaffenheit sich ahnungsweise erkennen läßt. Das war keine Kleinigkeit! Er hatte Ähnliches schon oft genug gedacht, aber noch nie war er in der Lage gewesen, sich binnen wenigen Tagen entscheiden zu müssen, ob er es lebendig ernst nehmen wolle. Leichter Schweiß entstand ihm unter Hut und Kragen, und die Nähe der Menschen, die an ihm vorbeidrängten, regte ihn auf. Was er dachte, bedeutete soviel wie ein Abscheiden von den meisten lebendigen Beziehungen; darüber täuschte er sich nicht. Denn man lebt heute geteilt und nach Teilen mit anderen Menschen verschränkt; was man träumt, hängt mit dem Träumen zusammen und mit dem, was andere träumen; was man tut, hängt unter sich, aber noch mehr mit dem zusammen, was andere Menschen tun; und wovon man überzeugt ist, hängt mit Überzeugungen zusammen, von denen man nur den kleinsten Teil selbst hat: Aus seiner vollen Wirklichkeit handeln wollen, ist also eine ganz unwirkliche Forderung. Und gerade er war sein ganzes Leben lang immer davon durchdrungen gewesen, daß man seine Überzeugungen teilen, daß man den Mut haben müsse, inmitten moralischer Widersprüche zu leben, weil dadurch die große Leistung erkauft werde. War er wenigstens von dem überzeugt, was er da über die Möglichkeit und Bedeutung einer anderen Art zu leben dachte? Keineswegs! Trotzdem konnte er nicht verhindern, daß sich sein Gefühl darauf in einer Weise einließ, als hätte es die unverkennbaren Anzeichen einer Tatsache vor sich, auf die es jahrelang gewartet habe.
Nun mußte er sich freilich fragen, mit welchem Recht er überhaupt dazu käme, einem Insichverliebten ähnlich, nichts der Seele Gleichgültiges mehr tun zu wollen. Es widerstrebt der Gesinnung des tätigen Lebens, die heute jeder Mensch in sich trägt, und wenn auch gottesüberzeugte Zeiten ein solches Bestreben entwickeln konnten, ist es doch unter der stärker werdenden Sonne wie Dämmerung zergangen. Ulrich fühlte einen Duft von Abgeschiedenheit und Süße an sich, der seinem Geschmack immer mehr widerstrebte. Darum bemühte er sich auch, seine ausgeschweiften Gedanken, sobald es anging, zu beschränken, und hielt sich, wenngleich nicht ganz aufrichtig, vor, daß jenes seiner Schwester wunderlich gegebene Versprechen eines Tausendjährigen Reichs, vernünftig aufgefaßt, nichts bedeute als eine Art wohltuenden Werks; es sollte wohl der Umgang mit Agathe ein Aufgebot an Zartheit und Selbstlosigkeit von ihm fordern, das ihm bisher allzusehr abgegangen war. Er erinnerte sich, so wie man sich an eine ungemein durchsichtige Wolke erinnert, die über den Himmel geflogen ist, an gewisse Augenblicke des vergangenen Beisammenseins, die schon von solcher Art gewesen waren. »Vielleicht ist der Inhalt des Tausendjährigen Reiches nichts als das Anschwellen dieser Kraft, die sich anfänglich nur zu zweien zeigt, bis zu einer brausenden Gemeinschaft aller?« überlegte er etwas befangen. Er suchte wieder Rat bei seiner eigenen »Geschichte mit der Frau Major«, die er sich ins Gedächtnis rief: Die Einbildungen der Liebe, da sie in ihrer Unreife die Ursache des Irrtums gewesen waren, beiseite lassend, sammelte er seine ganze Aufmerksamkeit auf die schonungsvollen Empfindungen der Güte und Anbetung, deren er damals in seiner Einsamkeit fähig gewesen war, und es schien ihm, daß Vertrauen und Neigung zu fühlen oder für einen anderen zu leben, ein zu Tränen rührendes Glück sein müsse, so schön wie das glutvolle Versinken des Tags in den Abendfrieden und ein wenig auch so zum Weinen arm an Vergnügen und geistesstill. Denn dazwischen kam ihm sein Vorhaben nun auch schon komisch vor, etwa so wie die Übereinkunft zweier alter Junggesellen zusammenzuziehn, und an solchen Zuckungen der Phantasie fühlte er, wie wenig die Vorstellung der dienenden Bruderliebe geeignet war, ihn zu erfüllen. Verhältnismäßig anteilslos gestand er sich ein, daß der Beziehung zwischen Agathe und ihm von Anfang an ein großes Maß an Asozialem beigemengt gewesen sei. Nicht nur die Geschäfte mit Hagauer und dem Testament, sondern auch die ganze Gefühlstönung deutete auf etwas Heftiges, und zweifellos war in dieser Geschwisterlichkeit nicht mehr Liebe für einander enthalten als Abstoßung von der übrigen Welt. »Nein!« dachte Ulrich. »Für einen anderen leben wollen, ist nichts als das Fallissement des Egoismus, der nebenan ein neues Geschäft mit einem Sozius eröffnet!«
In der Tat hatte seine innere Anspannung trotz dieser glanzvoll zugeschliffenen Bemerkung ihren Höhepunkt schon in dem Augenblick überschritten, wo er versucht worden war, das ihn unklar erfüllende Licht in ein irdisches Lämpchen zu fassen; und als sich nun zeigte, daß dies ein Fehler gewesen, fehlte seinem Denken bereits die Absicht, eine Entscheidung zu suchen, und er ließ sich bereitwillig ablenken. In seiner Nähe waren gerade zwei Männer zusammengestoßen und riefen sich unangenehme Bemerkungen zu, als wollten sie handgemein werden, woran er mit erfrischter Aufmerksamkeit teilnahm, und als er sich kaum davon abgewandt hatte, stieß sein Blick mit dem einer Frau zusammen, der wie eine fette, auf dem Stengel nickende Blume war. In jener angenehmen Laune, die sich zu gleichen Mengen aus Gefühl und nach außen gerichteter Aufmerksamkeit mischt, nahm er Kenntnis davon, daß die ideale Forderung, seinen Nächsten zu lieben, unter wirklichen Menschen in zwei Teilen befolgt wird, deren erster darin besteht, daß man seine Mitmenschen nicht leiden kann, während das der zweite dadurch wettmacht, daß man zu ihrer einen Hälfte in sexuelle Beziehungen gerät. Ohne zu überlegen, kehrte auch er nach wenigen Schritten um, der Frau zu folgen; es geschah noch ganz mechanisch als Folge der Berührung durch ihren Blick. Er sah ihre Gestalt unter dem Kleid wie einen großen weißen Fisch vor sich, der nahe der Wasseroberfläche ist. Er wünschte sich, ihn männlich zu harpunieren und zappeln sehen zu können, und es lag darin ebensoviel Abneigung wie Verlangen. An kaum merklichen Zeichen wurde ihm auch Gewißheit, daß diese Frau von seinem Hinterdreinstreichen wisse und es billige. Er suchte zu ermitteln, auf welchen Platz sie in der gesellschaftlichen Schichtung gehören möge, und riet auf höheren Mittelstand, wo es schwer ist, die Stellung genau zu bestimmen. »Kaufmannsfamilie? Beamtenfamilie?« fragte er sich. Aber verschiedene Bilder tauchten willkürlich auf, darunter sogar das einer Apotheke: er fühlte den scharf-süßen Geruch an dem Mann, der nach Hause kommt; die kompakte Atmosphäre des Heims, der nichts mehr von den Zuckungen anzumerken ist, unter denen sie kurz vorher die Diebslampe eines Einbrechers durchleuchtet hat. Ohne Zweifel war das abscheulich und doch ehrlos lockend.
Und während Ulrich weiter hinter der Frau herging und in Wahrheit fürchtete, daß sie vor einer Auslage stehen bleiben und ihn zwingen werde, entweder blöde weiterzustolpern oder sie anzusprechen, war irgendetwas immer noch unabgelenkt und hellwach in ihm. »Was mag eigentlich Agathe von mir wollen?« fragte er sich zum erstenmal. Er wußte es nicht. Er nahm wohl an, daß es ähnlich sein werde wie das, was er von ihr wolle, aber er hatte nur Gefühlsgründe dafür. Mußte er sich nicht darüber wundern, wie rasch und unvorhergesehen alles gekommen sei? Außer ein paar Kindheitserinnerungen hatte er nichts von ihr gewußt, und das wenige, was er erfuhr, zum Beispiel die schon einige Jahre dauernde Beziehung zu Hagauer, war ihm eher unlieb. Er entsann sich jetzt auch des eigentümlichen Zögerns, fast Widerstrebens, womit er sich bei der Ankunft seinem Vaterhaus genähert hatte. Und plötzlich nistete sich in ihm der Einfall ein: »Mein Gefühl für Agathe ist nur Einbildung!« In einem Mann, der dauernd anderes wolle als seine Umgebung, dachte er nun wieder ernsthaft, in einem solchen Mann, der immer nur die Abneigung zu fühlen bekomme und nie bis zur Neigung gelange, müsse sich das übliche Wohlwollen und die laue Güte der Menschlichkeit leicht zerlegen und in eine kalte Härte zerfallen, über der ein Nebel von unpersönlicher Liebe schwebe. Seraphische Liebe hatte er die einmal genannt. Man könnte auch sagen: Liebe ohne Gegenspieler, dachte er. Oder ebensogut: Liebe ohne Geschlechtlichkeit. Man liebe heute überhaupt nur geschlechtlich: unter Gleichen möge man sich nicht ausstehn, und in der geschlechterweisen Verkreuzung liebe man sich mit einer wachsenden Auflehnung gegen die Überschätzung dieses Zwangs. Von beidem sei die seraphische Liebe aber befreit. Sie sei die von den Gegenströmungen der sozialen und sexuellen Abneigungen befreite Liebe. Man könnte sie, die allenthalben in Kompanie mit der Grausamkeit des heutigen Lebens zu spüren sei, wahrhaftig die Schwesterliebe einer Zeit nennen, die für Bruderliebe keinen Platz habe, – sagte er sich, ärgerlich zusammenzuckend.
Aber obwohl er zum Schluß nun so dachte, träumte er daneben und abwechselnd damit von einer Frau, die sich in keiner Weise erreichen läßt. Sie schwebte ihm vor wie die späten Herbsttage im Gebirge, wo die Luft etwas zum Sterben Ausgeblutetes in sich hat, die Farben aber in höchster Leidenschaft brennen. Er sah die blauen Fernblicke vor Augen, ohne Ende in ihrer geheimnisvoll reichen Abstufung. Er vergaß ganz die Frau, die wirklich vor ihm ging, war fern jedem Begehren und vielleicht nah der Liebe.
Er wurde erst durch den anhaltenden Blick einer anderen Frau abgelenkt, der ähnlich dem der ersten war, aber nicht so frech und fett wie dieser, sondern gesellschaftlich-delikat wie ein Pastellstrich und doch schon im Bruchteil einer Sekunde sich einprägend: er sah auf und gewahrte in einem Zustand völliger innerer Erschöpfung eine sehr schöne Dame, in der er Bonadea erkannte.
Der herrliche Tag hatte sie auf die Straße gelockt. Ulrich sah nach der Uhr: er war nur eine Viertelstunde spazieren gegangen, und seit er das Leinsdorfsche Palais verlassen hatte, waren es keine fünfundvierzig Minuten. Bonadea sagte: »Ich bin heute nicht frei.« Ulrich dachte: »Wie lang ist da erst ein ganzer Tag, ein Jahr, und gar ein Vorsatz fürs Leben!« Es war nicht zu ermessen.