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Bonadea oder der Rückfall
So geschah es, daß Ulrich bald darauf den Besuch seiner verlassenen Freundin empfing. Die Begegnung auf der Straße hatte weder für die Vorwürfe ausgereicht, die er ihr über den Mißbrauch seines Namens zu machen wünschte, als sie damit Diotimas Freundschaft gewann, noch hatte sie Bonadea genügend Zeit gelassen, ihm Vorwürfe wegen seines langen Schweigens zu machen und sich nicht nur gegen die Beschuldigung der Indiskretion zu verteidigen und Diotima eine »unvornehme Schlange« zu nennen, sondern dafür auch einen Beweis zu erfinden. Darum war zwischen ihr und ihrem in den Ruhestand getretenen Freund in Eile vereinbart worden, daß sie sich noch einmal aussprechen müßten.
Die erschien, war nicht mehr die Bonadea, die ihr Haar zwischen den Händen wand, bis es ihrem Kopf ein einigermaßen griechisches Aussehen gab, wenn sie sich mit blinzelnden Augen im Spiegel betrachtete und sich vornahm, daß sie ebenso rein und edel sein wolle wie Diotima, noch war es jene, die in wildgemachten Nächten ob solcher Entwöhnungskuren ihrem Vorbild schamlos und mit weiblicher Kundigkeit fluchte, sondern es war wieder die liebe alte Bonadea, der die Löckchen in die nicht sehr kluge Stirn fielen oder aus der Stirn stiegen, je nachdem es die Mode verlangte, und in deren Augen beständig etwas aussah wie die Luft, die über einem Feuer aufsteigt. Während Ulrich daran ging, sie zur Rede zu stellen, weil sie ihre Beziehung zu ihm seiner Kusine preisgegeben habe, setzte sie bedächtig vor einem Spiegel den Hut ab, und als er sich genau zu vergewissern wünschte, wieviel sie gesagt habe, beschrieb sie zufrieden und genau, daß sie Diotima vorgefabelt habe, sie hätte einen Brief von ihm erhalten, worin er sie bäte, dafür zu sorgen, daß Moosbrugger nicht vergessen werde, und wüßte nichts besseres, als sich damit an die Frau zu wenden, von deren hohen Sinn der Briefschreiber oft zu ihr gesprochen hätte. Dann setzte sie sich auf die Lehne von Ulrichs Stuhl, küßte seine Stirn und versicherte bescheiden, daß dies alles doch auch richtig sei, mit Ausnahme des Briefs.
Große Wärme ging von ihrem Busen aus. »Und warum hast du dann meine Kusine eine Schlange genannt? Du selbst warst eine!« sagte Ulrich.
Bonadea richtete die Augen nachdenklich von ihm weg auf die Wand. »Ach, ich weiß nicht,« gab sie zur Antwort »sie ist so nett zu mir. Sie nimmt soviel Anteil an mir!«
»Was heißt das?« fragte Ulrich. »Teilst du jetzt ihre Anstrengungen für das Gute, Wahre und Schöne?«
Bonadea erwiderte: »Sie hat mir erklärt, daß keine Frau so ihrer Liebe leben könne, wie es ihren Kräften entspräche, sie ebensowenig wie ich. Und darum muß jede Frau auf dem Platz, wohin sie vom Schicksal gestellt worden ist, ihre Pflicht tun. Sie ist ja so hochanständig« fuhr Bonadea noch nachdenklicher fort. »Sie redet mir zu, mit meinem Mann nachsichtig zu sein, und behauptet, daß eine überlegene Frau ein bedeutendes Glück in der Bemeisterung ihrer Ehe fände; das stellt sie viel höher als jeden Ehebruch: Und eigentlich habe ich ja selbst auch immer so gedacht!«
Und das war nun wirklich wahr; denn Bonadea hatte nie anders gedacht, sie hatte bloß immer anders gehandelt und konnte darum unbeschwerten Sinnes zustimmen. Als ihr Ulrich das erwiderte, zog es ihm abermals einen Kuß zu; diesmal schon etwas unter der Stirn. »Du verwirrst eben mein polygames Gleichgewicht!« sagte sie mit einem kleinen Seufzer zur Entschuldigung des Widerspruchs, der zwischen ihrem Denken und Handeln entstanden war.
Es stellte sich durch viele Zwischenfragen heraus, daß sie »polyglanduläres Gleichgewicht« habe sagen wollen, ein damals erst den Eingeweihten verständliches physiologisches Wort, das man mit Gleichgewicht der Säfte übersetzen könnte, in der Voraussetzung, daß es gewisse ins Blut wirkende Drüsen seien, die mit ihren Antrieben und Hemmungen den Charakter beeinflussen und namentlich sein Temperament, ja besonders jene Art von Temperament, von der Bonadea in gewissen Zuständen bis zum Leiden viel besaß.
Ulrich runzelte neugierig die Stirn.
»Also irgendeine Drüsensache« sagte Bonadea. »Es ist schon eine gewisse Beruhigung, wenn man weiß, daß man nichts dafür kann!« Sie lächelte wehmütig ihrem verlorenen Freund zu: »Und wenn man schnell aus dem Gleichgewicht kommt, entstehen eben leicht mißglückte Sexualerlebnisse!«
»Aber Bonadea,« fragte Ulrich verwundert »wie sprichst du?«
»Wie ich es gelernt habe. Du bist ein mißglücktes Sexualerlebnis, sagt deine Kusine. Aber sie sagt auch, man kann sich den erschütternden körperlichen und seelischen Folgen entziehn, wenn man sich vorhält, daß nichts, was wir tun, bloß unsere persönliche Angelegenheit ist. Sie ist sehr gut zu mir. Von mir behauptet sie, mein persönlicher Fehler sei es, daß ich in der Liebe zu sehr an einer Einzelheit hängen geblieben bin, statt das Liebesleben im ganzen zu betrachten. Verstehst du, mit der Einzelheit meint sie das, was sie auch die rohe Erfahrung nennt: es ist oft sehr interessant, so etwas in ihrer Beleuchtung kennen zu lernen. Aber eines gefällt mir nicht an ihr: denn schließlich hat sie, obwohl sie sagt, daß eine starke Frau ihr Lebenswerk in der Monogamie sucht und es lieben soll wie ein Künstler, doch drei, und mit dir vielleicht vier, Männer in Reserve, und ich habe für mein Glück jetzt keinen!«
Der Blick, mit dem sie ihren fahnenflüchtigen Reservisten dabei musterte, war warm und zweifelnd. Aber Ulrich wollte es nicht bemerken.
»Ihr sprecht über mich?« erkundigte er sich ahnungsvoll.
»Ach, nur zuweilen« erwiderte Bonadea. »Wenn deine Kusine ein Beispiel sucht oder wenn dein Freund, der General, da ist.«
»Womöglich ist auch noch Arnheim dabei?!«
»Er lauscht würdevoll dem Gespräch der edlen Frauen« verspottete ihn Bonadea nicht ohne Begabung zu unauffälliger Nachahmung, fügte aber ernst hinzu: »Sein Benehmen gegen deine Kusine gefällt mir überhaupt nicht. Er ist meistens verreist; und wenn er da ist, spricht er zuviel zu allen, und wenn sie das Beispiel von der Frau von Stern anführt und der –«
»Frau von Stein?« verbesserte Ulrich fragend.
»Natürlich, die Stein meine ich; von der spricht Diotima doch wirklich oft genug. Und wenn sie also von den Beziehungen spricht, die zwischen der Frau von Stein und der anderen bestanden haben, der Vul – – na, wie heißt sie doch: sie hat so einen halb unanständigen Namen?«
»Vulpius.«
»Natürlich. Verstehst du, ich höre da so viele Fremdworte, daß ich schon nicht mehr die einfachsten weiß! Also wenn sie die Frau von Stein mit der vergleicht, so sieht mich der Arnheim dauernd an, als ob ich neben seiner Angebetenen gerade nur für so eine, wie du eben gesagt hast, gut wäre!«
Nun drang Ulrich aber auf Erklärung dieser Veränderungen.
Es stellte sich heraus, daß Bonadea, seit sie den Titel einer Vertrauten Ulrichs in Anspruch nahm, auch im Vertrauen Diotimas große Fortschritte gemacht hatte.
Der Ruf der Mannstollheit, der von Ulrich im Ärger leichtfertig preisgegeben worden war, hatte in seiner Kusine eine unbegrenzte Wirkung erregt. Sie hatte die Neuangekommene, indem sie sie als eine in nicht näher bestimmter Weise für die Wohlfahrt der Menschen tätige Dame ihren Gesellschaften zuzog, einigemal im Verborgenen beobachtet, und dieser Eindringling mit Augen wie weiches Löschpapier, die das Bild ihres Hauses aufsogen, war ihr nicht nur ausgemacht unheimlich gewesen, sondern hatte in ihr auch ebensoviel weibliche Neugierde wie Grauen erregt. Um die Wahrheit zu sagen, wenn Diotima das Wort »Lustseuche« aussprach, hatte sie ähnlich ungewisse Empfindungen, wie wenn sie sich das Treiben ihrer neuen Bekannten vorstellte, und sie erwartete mit unruhigem Gewissen von einem Mal zum andern ein unmögliches Benehmen und Schmach und Schande. Bonadea gelang es aber, dieses Mißtrauen durch ihr ehrgeiziges Verhalten zu mildern, das der besonders wohlerzogenen Aufführung ungeratener Kinder in einer Umgebung entsprach, die ihren sittlichen Wetteifer weckt. Sie vergaß sogar darüber, daß sie auf Diotima eifersüchtig sei, und diese bemerkte mit Staunen, daß ihr beunruhigender Schützling ebenso für das Ideale eingenommen sei wie sie selbst. Denn da war »die gestrauchelte Schwester«, wie sie nun hieß, schon zum Schützling geworden, und bald wandte ihr Diotima eine besonders tätige Teilnahme zu, weil sie sich durch ihre eigene Lage dazu gebracht fühlte, in dem würdelosen Geheimnis der Mannstollheit eine Art weiblichen Damoklesschwertes zu sehn, von dem sie sagte, daß es an einem dünnen Faden selbst über dem Haupte einer Genoveva schweben könne. »Ich weiß, mein Kind,« belehrte sie tröstend die ungefähr gleichaltrige Bonadea »es ist nichts so tragisch wie einen Menschen zu umarmen, von dem man nicht innerlich überzeugt ist!« und küßte sie mit einem Aufwand an Mut auf den unkeuschen Mund, der hingereicht hätte, ihre Lippen zwischen die blutrünstigen Bartstacheln eines Löwen zu pressen.
Die Lage, in der sich Diotima damals befand, war aber die zwischen Arnheim und Tuzzi: eine wagrechte Lage, ließe sich bildhaft sagen, auf die der eine zuviel, der andere zuwenig Gewicht legte. Bei seiner Rückkunft hatte ja selbst Ulrich seine Kusine noch mit einer Kopfbinde und gewärmten Tüchern angetroffen; aber diese weiblichen Plagen, deren Stärke sie ahnend als den Einspruch ihres Körpers gegen die widerspruchsvollen Anleitungen begriff, die er von der Seele erhielte, hatten in Diotima auch jene edle Entschlossenheit wachgerufen, die ihr eigen war, sobald sie nicht so sein wollte, wie jede andere Frau. Es war anfangs freilich fraglich, ob diese Aufgabe von der Seele oder vom Körper her in Angriff zu nehmen, ob sie besser durch eine Veränderung des Verhaltens gegen Arnheim oder gegen Tuzzi zu beantworten sei; aber das entschied sich mit Hilfe der Welt, denn während ihr die Seele und deren Liebesrätsel wie ein Fisch entschlüpften, den man in der bloßen Hand halten will, fand die suchende Leidende zu ihrer Überraschung reichlichen Rat in den Büchern des Zeitgeistes, als sie sich zum erstenmal entschlossen hatte, ihr Schicksal am körperlichen anderen Ende anzupacken, das durch ihren Gatten dargestellt wurde. Sie hatte nicht gewußt, daß unsere Zeit, der sich vermutlich der Begriff der Liebesleidenschaft entrückt hat, weil er eher ein religiöser als ein sexueller ist, es als kindisch verschmäht, sich noch mit der Liebe zu beschäftigen, dafür aber ihre Anstrengungen an die Ehe wendet, deren natürliche Vorgänge sie in allen Abwandlungen mit frischer Ausführlichkeit untersucht. Schon damals waren viele jener Bücher entstanden, die mit dem reinen Sinn eines Turnlehrers von den »Umwälzungen im Geschlechtsleben« sprechen und den Menschen dazu verhelfen wollen, verheiratet und dennoch vergnügt zu sein. In diesen Büchern hießen Mann und Frau nur noch »der männliche und der weibliche Keimträger« oder auch »die Geschlechtspartner«, und die Langweile, die zwischen ihnen durch allerhand geistig-körperliche Abwechslung vertrieben werden sollte, taufte man »das sexuelle Problem«. Als Diotima in diese Literatur eindrang, krauste sich ihr erst die Stirn, dann aber glättete sich diese; denn es war ein Stoß in den Ehrgeiz, daß ihr eine beginnende große Bewegung des Zeitgeistes bisher entgangen sei, und endlich faßte sich die Hingerissene an die Stirn vor Staunen darüber, daß sie es wohl verstanden habe, der Welt ein Ziel zu schenken (wenn auch noch immer nicht entschieden war, welches), aber noch nie darauf gekommen sei, daß man auch die entnervenden Unannehmlichkeiten der Ehe mit geistiger Überlegenheit behandeln könne. Diese Möglichkeit entsprach sehr ihren Neigungen und gab ihr plötzlich die Aussicht, das Verhältnis zu ihrem Gatten, das sie bisher nur als ein Leiden empfunden hatte, als eine Wissenschaft und Kunst zu behandeln.
»Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nahe liegt« meinte Bonadea und bekräftigte es mit der ihr eigenen Vorliebe für Gemeinplätze und für Zitate. Denn es war dann so gekommen, daß sie bald von der schutzbereiten Diotima als deren Schülerin in solchen Fragen angenommen und behandelt wurde. Das geschah nach dem pädagogischen Grundsatz, zu lernen, indem man lehrt, und verhalf einesteils Diotima andauernd dazu, aus den vorläufig noch recht ungeordneten und ihr selbst unklaren Eindrücken ihrer neuen Belesenheit etwas herauszufinden, wovon sie felsenfest überzeugt war, – geleitet von dem glücklichen Geheimnis der »Intuition«, daß man ins Schwarze trifft, wenn man ins Blaue redet; andernteils geriet aber auch Bonadea dabei in einen Vorteil, der ihr jene Rückwirkung ermöglichte, ohne die der Schüler selbst für den besten Lehrer unfruchtbar bleibt: ihr reiches praktisches Wissen bedeutete, wenn sie auch vorsichtig damit zurückhielt, für die Theoretikerin Diotima eine ängstlich beobachtete Erfahrungsquelle, seit die Gattin des Sektionschefs Tuzzi daran gegangen war, an Hand der Bücher die Entwicklung ihrer Ehe zu berichtigen. »Schau, ich bin ja sicher viel weniger gescheit als sie,« erläuterte es Bonadea »aber oft stehen in ihren Büchern Sachen, von denen selbst ich keine Ahnung gehabt hab, und das macht sie manchmal so verzagt, daß sie mit Bedauern sagt: Das läßt sich eben nicht am grünen Tisch des Ehebetts entscheiden, sondern dazu gehört leider eine große, am lebenden Material geschulte Sexualerfahrung und Sexualpraxis!«
»Aber, um Himmelswillen,« rief Ulrich aus, den das Lachen schon bei der Vorstellung überwältigte, daß sich seine keusche Kusine in die »Sexualwissenschaft« verirrt habe »was will sie denn eigentlich?«
Bonadea sammelte ihre Erinnerungen an die glückliche Verbindung der wissenschaftlichen Interessen der Zeit mit einer gedankenlosen Ausdrucksweise. »Es handelt sich um die beste Ausbildung und Verwaltung ihres Sexualtriebes« entgegnete sie dann im Geist ihrer Lehrerin. »Und sie vertritt die Überzeugung, daß der Weg zu einer beschwingten und harmonischen Erotik durch härteste Selbsterziehung führen muß.«
»Ihr erzieht euch mit Bedacht? Und noch dazu aufs härteste!? Du sprichst ja großartig!« rief Ulrich abermals aus. »Aber sei so freundlich, mir zu erklären, wozu sich Diotima erzieht?«
»In erster Linie erzieht sie natürlich ihren Mann!« verbesserte ihn Bonadea.
»Der Arme!« dachte Ulrich unwillkürlich und bat: »Also möchte ich dann wissen, wie sie das macht: Sei doch nicht auf einmal zurückhaltend!«
Wirklich fühlte sich Bonadea bei diesen Fragen durch Ehrgeiz gehemmt wie ein Vorzugsschüler im Examen. »Ihre Sexualatmosphäre ist vergiftet« erklärte sie vorsichtig. »Und wenn sie diese Atmosphäre retten soll, so geht das nur noch so, daß Tuzzi und sie ihr Handeln auf das sorgfältigste überprüfen. Es gibt da keine allgemeinen Regeln. Man muß sich bemühen, den anderen in seinen Lebensreaktionen zu beobachten. Und um richtig beobachten zu können, muß man eine gewisse Einsicht in das Geschlechtsleben haben. Man muß die praktisch erworbene Erfahrung mit dem Niederschlag theoretischer Forschung vergleichen können, sagt Diotima. Es gibt eben heute eine neue, veränderte Einstellung der Frau zum sexuellen Problem: sie verlangt vom Mann nicht nur ein Tun, sondern ein Tun aus richtiger Erkenntnis des Weiblichen verlangt sie!« Und um Ulrich abzulenken oder weil es ihr selbst Spaß machte, fügte sie erheitert hinzu: »Stell dir bloß vor, wie das auf ihren Mann wirken muß, der von diesen neuen Sachen nicht die leiseste Ahnung hat und das meiste darüber beim Auskleiden im Schlafzimmer erfährt, wenn Diotima, sagen wir, im halb aufgelösten Haar die Nadeln sucht und die Röcke zwischen die Beine geklemmt hat und plötzlich davon zu sprechen anfängt. Ich habe das an meinem Mann nachgeprüft, und er ist beinahe erstickt daran: das eine kann man also zugeben, wenn schon Dauerehe sein soll, dann hat sie wenigstens den Vorzug, daß sie aus dem Lebenspartner den ganzen erotischen Gehalt herausholt; und das ist es, worum sich Diotima bei Tuzzi bemüht, der ein bisserl unfein ist.«
»Eine harte Zeit ist für eure Männer angebrochen!« neckte sie Ulrich.
Bonadea lachte, und er merkte daran, wie froh sie wäre, gelegentlich dem drückenden Ernst ihrer Liebesschule entwischen zu können.
Aber Ulrichs Forscherwille ließ noch nicht locker; er fühlte heraus, daß seine veränderte Freundin über etwas schweige, worüber sie im Grunde viel lieber gesprochen hätte. Er machte den vertraulichen Einwand, daß dem Vernehmen nach der Fehler der beiden in Mitleidenschaft gezogenen Ehemänner bisher doch eher in einem zu großen »erotischen Gehalt« bestanden haben solle.
»Ja, du denkst eben auch immer nur das!« belehrte ihn Bonadea und begleitete es mit einem Blick, dessen lange Spitze am Ende ein Häkchen hatte, was man ganz gut als Bedauern über ihre gewonnene Unschuld auslegen konnte. »Du mißbrauchst ja auch den physiologischen Schwachsinn des Weibes!«
»Was mißbrauche ich? Da hast du ja ein prächtiges Wort für die Geschichte unserer Liebe gefunden!«
Bonadea gab ihm eine kleine Ohrfeige und ordnete mit nervösen Fingern vor dem Spiegel ihr Haar. Aus dem Glas ihn anblickend, sagte sie: »Das ist aus einem Buch!«
»Natürlich. Aus einem sehr bekannten.«
»Aber Diotima bestreitet das. Sie hat in einem anderen Buch etwas gefunden; das heißt: Die physiologische Minderwertigkeit des Mannes. Dieses Buch ist von einer Frau geschrieben. Glaubst du, daß es wirklich eine so große Rolle spielt?«
»Ich ahne nicht, was, und kann keinen Ton antworten!«
»Also gib acht! Diotima geht von einer Entdeckung aus, die sie die ständige Lustbereitschaft der Frau nennt. Du kannst dir darunter etwas vorstellen?«
»Bei Diotima nicht!«
»Sei nicht so unfein!« tadelte ihn seine Freundin. »Diese Theorie ist sehr delikat, und ich muß mich bemühen, sie dir so zu erklären, daß du keine falschen Schlüsse aus dem Umstand ziehst, daß ich dabei mit dir allein in deiner Wohnung bin. Also diese Theorie beruht darauf, daß eine Frau auch dann geliebt werden kann, wenn sie nicht will. Verstehst du jetzt?«
»Ja.«
»Das läßt sich leider auch nicht leugnen. Hingegen soll der Mann sehr oft, auch wenn er lieben will, nicht können. Diotima sagt, daß das wissenschaftlich bewiesen sei. Glaubst du das?«
»Es soll vorkommen.«
»Ich weiß nicht?« zweifelte Bonadea. »Aber Diotima sagt, wenn man das im Licht der Wissenschaft betrachtet, so versteht es sich von selbst. Denn im Gegensatz zur beständigen Lustbereitschaft der Frau ist der Mann, also kurz gesagt, des Mannes männlichster Teil, sehr leicht einzuschüchtern.« Ihr Gesicht war bronzefarben, als sie es jetzt vom Spiegel abwandte.
»Mich wundert das von Tuzzi« meinte Ulrich ablenkend.
»Ich glaube auch nicht, daß das früher so war,« sagte Bonadea »sondern das kommt als eine nachträgliche Bestätigung von der Theorie, weil sie ihm die alle Tage vorhält. Sie nennt das die Theorie des ›Fiasko‹. Denn weil der männliche Keimträger so leicht dem Fiasko verfällt, fühlt er sich nur dort sexuell sicher, wo er keine wie immer geartete seelische Überlegenheit der Frau zu befürchten hat, und darum haben Männer fast nie den Mut, es mit einer menschlich gleichwertigen Frau aufzunehmen. Zumindest versuchen sie gleich, sie niederzudrücken. Diotima sagt, daß das Leitmotiv aller männlichen Liebeshandlungen, und besonders das der männlichen Überheblichkeit, die Angst ist. Große Männer zeigen sie; damit meint sie den Arnheim. Kleinere verschleiern sie hinter brutaler körperlicher Anmaßung und mißbrauchen das Seelenleben der Frau: damit meine ich dich! Und sie den Tuzzi. Dieses gewisse Augenblicklich – oder nie! womit ihr uns so oft zu Fall bringt, ist nur eine Art Überkomp –« Kompresse wollte sie sagen, »Kompensation« half Ulrich aus.
»Ja. Damit entzieht ihr euch dem Eindruck eurer körperlichen Minderwertigkeit!«
»Und was habt ihr zu tun beschlossen?« fragte Ulrich ergeben.
»Man muß sich bemühen, nett zu den Männern zu sein! Und darum bin ich ja auch zu dir gekommen. Wir werden sehen, wie du das aufnimmst!?«
»Aber Diotima?«
»Gott, was geht dich denn Diotima an! Der Arnheim macht Augen wie ein Schneck, wenn sie ihm sagt, daß die geistig höchststehenden Männer leider nur bei minderwertigen Frauen ihre volle Befriedigung zu finden scheinen, während sie bei seelisch gleichgestellten Frauen versagen, was durch die Frau von Stein und die Vulpius wissenschaftlich bewiesen ist. (Siehst du, jetzt macht mir der Name keine Schwierigkeiten mehr. Aber daß sie die bekannte Sexualpartnerin des alternden Olympiers gewesen ist, habe ich natürlich immer gewußt!)«
Ulrich suchte das Gespräch noch einmal auf Tuzzi zu lenken, um es von sich zu entfernen. Bonadea begann zu lachen; sie war nicht ohne Verständnis für die jammervolle Lage dieses Diplomaten, der ihr als Mann ganz gut gefiel, und empfand Schadenfreude und Spießgesellenschaft darüber, daß er unter der Zuchtrute der Seele zu leiden hatte. Sie erzählte, daß Diotima in der Behandlung ihres Gatten von der Voraussetzung ausgehe, daß sie ihn von der Angst vor ihr befreien müsse, und daß sie sich dadurch auch ein wenig mit seiner sexuellen Brutalität ausgesöhnt habe. Sie gebe zu, den Fehler ihres Lebens darin erkannt zu haben, daß ihre Bedeutung zu groß für das naive Überlegenheitsbedürfnis ihres männlichen Eheteils sei, und sei daran gegangen, das zu mildern, indem sie ihre seelische Überlegenheit jetzt hinter anpassungsfähiger erotischer Koketterie verberge.
Ulrich fragte lebhaft dazwischen, was sie darunter verstehe.
Bonadeas Blick grub sich ernst in sein Gesicht. »Zum Beispiel sagt sie ihm: Unser Leben ist bisher durch den Wettstreit um unsere persönliche Geltung verdorben worden. Und dann gibt sie ihm zu, daß die vergiftende Wirkung des männlichen Geltungsstrebens auch das ganze öffentliche Leben beherrscht –«
»Aber das ist doch weder kokett noch erotisch?!« wandte Ulrich ein.
»Doch! Denn du mußt bedenken, daß sich ein Mann, wenn er wirklich leidenschaftlich ist, gegen eine Frau wie ein Henker gegen sein Opfer beträgt. Das gehört zum Geltungsstreben, wie man das jetzt nennt. Und anderseits wirst du nicht leugnen, daß der Sexualtrieb auch für die Frau wichtig ist?!«
»Natürlich nicht!«
»Schön. Aber die sexuelle Beziehung verlangt zu ihrem beglückenden Verlauf ein Gleich und Gleich. Man muß den Liebespartner, wenn man eine glückhafte Umarmung aus ihm herausholen will, als gleichberechtigt gelten lassen, und nicht nur als eine willenlose Ergänzung für sich selbst« fuhr sie fort, in die Ausdrucksweise ihrer Meisterin geraten, wie sich ein Mensch auf einer glatten Fläche von seiner eigenen Bewegung unwillkürlich und geängstigt fortgeführt sieht. »Denn wenn schon keine andere menschliche Beziehung ein ständiges Drücken und Gedrücktwerden verträgt um wieviel weniger verträgt das erst die sexuelle –!«
»Oho!« widersprach Ulrich.
Bonadea preßte seinen Arm, und ihr Auge funkelte wie ein stürzender Stern. »Schweig still!« stieß sie hervor. »Es fehlt euch allen die selbsterlebte Kenntnis der weiblichen Psyche! Und wenn du willst, daß ich dir weiter von deiner Kusine erzähle –«: aber da war sie auch am Ende ihrer Kraft, und jetzt funkelten ihre Augen wie die einer Tigerin, an deren Käfig man Fleisch vorbeiträgt. »Nein, ich kann das selbst nicht mehr hören!« rief sie aus.
»Spricht sie wirklich so?« fragte Ulrich. »Hat sie das wirklich gesagt?«
»Aber jeden Tag höre ich ja nichts als Sexualpraxis, geglückte Umarmung, springende Punkte der Liebe, Drüsen, Sekrete, verdrängte Wünsche, erotisches Training und Regulierung des Sexualtriebs! Wahrscheinlich hat jeder die Sexualität, die er verdient, wenigstens behauptet das deine Kusine, aber muß ich denn durchaus eine so hohe verdienen?!«
Ihr Blick hielt den ihres Freundes fest. »Ich glaube, du mußt nicht« behauptete Ulrich langsam.
»Schließlich könnte man doch auch sagen, daß meine starke Erlebnisfähigkeit einen physiologischen Überwert darstellt?« fragte Bonadea mit einem glücklich-zweideutigen Auflachen.
Zu einer Antwort kam es nicht mehr. Als sich in Ulrich längere Zeit danach ein Widerstand fühlen machte, sprühte durch die Ritzen an den Fenstern der lebendige Tag, und wenn man dorthin blickte, glich das verdunkelte Zimmer der Grabkammer eines Gefühls, das bis zur Unkenntlichkeit verschrumpft war. Bonadea lag mit geschlossenen Augen da und gab kein Lebenszeichen mehr. Die Empfindungen, die sie jetzt von ihrem Körper hatte, waren nicht unähnlich denen eines Kindes, dessen Trotz durch Prügel gebrochen worden ist. Jeder Zoll ihres Leibes, der völlig satt und zerschlagen war, verlangte nach der Zärtlichkeit einer moralischen Vergebung. Von wem? Bestimmt nicht von dem Mann, in dessen Bett sie lag und den sie angefleht hatte, sie zu töten, weil ihre Lust durch keine Wiederholung und Steigerung zu brechen war. Sie hielt die Augen geschlossen, um ihn nicht sehen zu müssen. Bloß versuchsweise dachte sie: »Ich liege in seinem Bett!« Das und: »Ich lasse mich nie wieder daraus vertreiben!« hatte sie vor kurzem innerlich geschrien; jetzt drückte es bloß eine Lage aus, aus der nicht ohne peinliche Vorgänge herauszukommen war, die ihr noch bevorstanden. Bonadea knüpfte träge und langsam ihre Gedanken dort an, wo sie abgerissen waren.
Sie dachte an Diotima. Allmählich kamen ihr Worte in den Sinn, ganze Sätze und Bruchstücke von Sätzen, meist aber nur das Gefühl der Genugtuung über ihr Dasein, wenn solche unverständliche und unerinnerbare Worte wie Hormone, Glandeln, Chromosome, Zygoten oder innere Sekretion an ihrem Ohr in ganzen Gesprächen vorbeirauschten. Denn die Keuschheit ihrer Lehrerin kannte keine Grenzen, sobald diese durch wissenschaftliche Beleuchtung verwischt wurden. Diotima war imstande, vor ihren Zuhörern zu sagen: »Das Geschlechtsleben ist kein zu erlernendes Handwerk, es soll uns immer die höchste Kunst bleiben, die zu erlernen uns im Leben gegeben ist!«, aber dabei ebensowenig Unwissenschaftliches zu fühlen, wie wenn sie im Eifer von einem »heranzuziehenden« oder einem »schweren Punkt« sprach. Und an solche Ausdrücke erinnerte sich ihre Schülerin nun mit Genauigkeit. Kritische Beleuchtung der Umarmung, körperliche Klärung der Lage, reizbare Zonen, Weg zur Höchstbeglückung der Frau, gut disziplinierte, auf ihre Partnerin achtsame Männer...: Bonadea war sich vor ungefähr einer Stunde von diesen wissenschaftlichen, geistigen und hochvornehmen Ausdrücken, die sie sonst bewunderte, auf das gemeinste betrogen vorgekommen. Sie hatte zu ihrer Überraschung erst mit Bewußtsein bemerkt, daß diese Worte nicht für die Wissenschaft, sondern auch für das Gefühl eine Bedeutung haben, als aus deren unbeaufsichtigter Gefühlsseite schon die Flammen züngelten. Sie hatte da Diotima gehaßt. »Über so etwas so zu reden, daß man alle Lust daran verlieren muß!« hatte sie gedacht, und unter gräßlichen Rachgefühlen war es ihr nicht anders erschienen, als daß Diotima, die selbst vier Männer habe, ihr gar nichts gönne und sie auf diese Weise hinters Licht führe. Ja, Bonadea hatte die Aufklärung, durch deren Hilfe die Sexualwissenschaft mit den dunklen Geschlechtsvorgängen aufräumt, wahrhaftig für ein Ränkespiel Diotimas gehalten. Sie konnte das jetzt ebensowenig verstehen wie das leidenschaftliche Verlangen nach Ulrich. Sie suchte sich die Augenblicke zu vergegenwärtigen, wo alle ihre Gedanken und Empfindungen ins Rasen geraten waren: ähnlich unverständlich mag sich ein Verblutender vorkommen, wenn er an die Ungeduld zurückdenkt, die ihn verleitet hat, den schützenden Verband abzureißen! Bonadea dachte an Graf Leinsdorf, der die Ehe ein hohes Amt genannt und Diotimas von ihr handelnde Bücher mit einer Rationalisierung des Dienstweges verglichen hatte; sie dachte an Arnheim, der ein Multimillionär war und die Wiederbelebung der ehelichen Treue aus der Idee des Körpers eine echte Zeitnotwendigkeit genannt hatte; und sie dachte an die vielen anderen berühmten Männer, die sie in dieser Zeit kennengelernt hatte, ohne sich auch nur zu erinnern, ob sie kurze oder lange Beine hatten oder fett oder hager waren: denn sie sah nur den strahlenden Begriff der Berühmtheit an ihnen, der von einer ungewissen körperlichen Masse ähnlich ergänzt wurde, wie man den zarten Wänden einer gebratenen jungen Taube durch eine dicke, von Kräutern geäderte Fülle Inhalt gibt. Bei solchen Erinnerungen schwur sich Bonadea, daß sie nie wieder die Beute eines dieser jäh auftretenden Stürme sein wolle, die Oben und Unten zusammenschlügen, und sie schwor sich das so lebhaft zu, daß sie sich schon, sofern sie nur streng bei ihren Vorsätzen bliebe, im Geist und ohne körperliche Bestimmtheit als die Geliebte des feinsten aller Männer sah, den sie sich aus den Verehrern ihrer großen Freundin heraussuchen wollte. Da es aber vorläufig nicht zu leugnen war, daß sie noch in wenig bekleidetem Zustand im Bette Ulrichs lag, ohne die Augen öffnen zu wollen, ging dieses reichhaltige Gefühl einer willigen Zerknirschung, statt sich weiter ins Tröstliche zu entwickeln, in einen jämmerlichen und aufreizenden Ärger über.
Die Leidenschaft, durch deren Wirken Bonadeas Leben in solche Gegensätze aufgeteilt wurde, entsprang zutiefst nicht der Sinnlichkeit, sondern dem Ehrgeiz. Darüber dachte Ulrich nach, der seine Freundin gut kannte, und schwieg, um nicht ihre Vorwürfe zu wecken, während er ihr Gesicht betrachtete, das seinen Blick vor ihm verbarg. Die Urform aller ihrer Begierden erschien ihm als eine Ehrbegierde, die sich in falsche Bahnen, ja sogar wörtlich in falsche Nervenbahnen verirrt habe. Und warum sollte sich nicht wirklich ein sozialer Rekordehrgeiz, der sonst Triumphe darin feiern darf, die größte Menge Bier zu trinken oder sich die größten Edelsteine an den Hals zu hängen, einmal auch wie bei Bonadea als Nymphomanie äußern können?! Diese Äußerungsform hatte sie nun, nachdem es geschehen war, mit Bedauern zurückgenommen, das sah er ein, und er verstand auch recht gut, daß gerade Diotimas umständliche Unnatur ihr, die der Teufel immer auf ungesatteltem Fleisch geritten hatte, paradiesisch imponieren mußte. Er betrachtete ihre Augäpfel, die ausgetobt und schwer in ihren Säcken lagen; er sah die bräunliche Nase vor sich, die sich mit Entschiedenheit aufschwang, und die roten, zugespitzten Löcher darin; er gewahrte etwas verwirrt die verschiedenen Linien dieses Leibes: die, wo auf dem geraden Korsett der Rippen der runde, große Busen lag; die, wo aus der Zwiebel der Hüften der gehöhlte Rücken wuchs; die der spitzen, steifen Nagelbrettchen über den sanften Kuppen der Finger. Und während er schließlich mit Abscheu lange Zeit einige kleine Haare betrachtete, die aus den vor seinen Augen liegenden Nasenlöchern seiner Geliebten sproßten, beschäftigte auch ihn die Erinnerung, wie verführerisch der gleiche Mensch vor kurzem auf seine Begierden gewirkt habe. Das lebendig-zweideutige Lächeln, mit dem Bonadea zu der »Aussprache« erschienen war, die natürliche Art, in der sie alle Vorwürfe abwehrte oder eine Neuigkeit von Arnheim zum besten gab, ja die diesmal beinahe witzige Genauigkeit ihrer Beobachtungen: sie hatte sich wirklich zu ihrem Vorteil verändert, sie schien unabhängiger geworden zu sein, die in die Höhe und die in die Tiefe ziehenden Kräfte hielten sich an ihr in einem freieren Gleichgewicht, und dieser Mangel an moralischer Schwere hatte Ulrich, der in letzter Zeit unter seinem eigenen Ernst sehr gelitten hatte, wohltuend erfrischt; er konnte selbst jetzt noch fühlen, wie gern er ihr zugehört und das Spiel des Ausdrucks auf ihrem Gesicht betrachtet hatte, das wie Sonne und Wellen war. Und plötzlich fiel ihm ein, während sein Blick das nun grämlich gewordene Gesicht Bonadeas betrachtete, daß eigentlich bloß ernste Menschen böse sein können. »Heitere Menschen« dachte er »könnte man schlechtweg davor gesichert nennen. So wie der Intrigant immer Baß singt!« Irgendwie bedeutete das auf eine nicht ganz geheuerliche Weise auch für ihn selbst, daß tief und finster zusammenhingen; denn es ist sicher, daß jede Schuld erleichtert wird, wenn sie ein heiterer Mensch »von der leichten Seite« begeht, andererseits mochte es aber auch sein, daß dies nur in der Liebe gelte, wo die schwerblütigen Verführer viel zerstörender und unverzeihlicher wirken als die leichtsinnigen, auch wenn sie bloß das gleiche tun. So dachte er hin und her und war nicht nur enttäuscht davon, daß die leicht begonnene Stunde der Liebe in Trübnis endete, sondern auch unerwartet belebt.
Darüber vergaß er die gegenwärtige Bonadea, ohne daß er recht wußte wie, und hatte ihr, den Kopf auf den Arm gestützt und den Blick durch die Wände auf ferne Dinge gerichtet, nachdenklich den Rücken zugekehrt, als sie sich durch sein vollkommenes Schweigen bewogen fühlte, die Augen zu öffnen. In diesem Augenblick dachte er ahnungslos daran, daß er einmal auf einer Reise ausgestiegen sei, ohne an sein Ziel zu kommen, denn ein durchsichtiger Tag, der die Umgebung kupplerisch geheimnisvoll entschleierte, hatte ihn vom Bahnhof fort zu einem Spaziergang verlockt, um ihn mit beginnender Nacht zu verlassen, wo er sich ohne Gepäck in einem stundenweit entfernten Ort vorfand. Überhaupt glaubte er sich zu erinnern, daß er immer die Eigenschaft gehabt habe, unberechenbar lange auszubleiben und nie auf dem gleichen Weg zurückzukehren; und dabei fiel plötzlich von einer ganz fernen Erinnerung, die auf einer Stufe der Kindheit lag, an die er sonst niemals gelangte, Licht in sein Leben. Im Spalt einer unermeßlich kleinen Zeit meinte er das geheimnisvolle Verlangen wieder zu fühlen, von dem ein Kind auf einen Gegenstand zugeführt wird, den es sieht, um ihn zu berühren oder gar in den Mund zu stecken, womit dann der Zauber wie in einer Sackgasse endet; ebensolange kam es ihm wahrscheinlich vor, daß auch das Verlangen der Erwachsenen nichts Besseres und nichts Schlechteres sei, das sie auf jede Ferne zutreibt, um sie in Nähe zu verwandeln, wie es ihn selbst beherrschte und sich durch eine gewisse, von Neugierde bloß maskierte, Inhaltslosigkeit eigentlich deutlich als einen Zwang kennzeichnete; und dieses Grundbild wandelte sich endlich zum dritten Mal in dem ungeduldigen und enttäuschenden Geschehen ab, auf das, von ihnen beiden ungewollt, das Wiedersehen mit Bonadea hinausgelaufen war. Dieses Nebeneinander in einem Bett Liegen kam ihm jetzt höchst kindisch vor. »Aber was bedeutet dann der Gegensatz dazu, die reglose, die luftstille Fernliebe, die so unkörperlich ist wie ein Frühherbsttag?« fragte er sich. »Wahrscheinlich auch nur ein verändertes Kinderspiel« dachte er zweifelnd, und erinnerte sich an die buntgedruckten Tiere, die er als Kind seliger geliebt hatte als heute seine Freundin. Aber da hatte nun Bonadea gerade genug von seinem Rücken gesehn, um ihr Unglück daran zu ermessen, und sprach ihn mit den Worten an: »Du bist schuld gewesen!«
Ulrich wandte sich lächelnd zu ihr und erwiderte ohne Überlegen: »In einigen Tagen wird meine Schwester kommen und bei mir wohnen bleiben: habe ich dir das schon mitgeteilt? Wir werden uns dann kaum sehen können.«
»Wie lange?« fragte Bonadea.
»Dauernd« antwortete Ulrich und lächelte wieder.
»Und?« meinte Bonadea. »Was soll das denn hindern? Vielleicht wirst du mir einreden, daß dir deine Schwester nicht erlaubt, eine Geliebte zu haben!«
»Gerade das will ich dir einreden« sagte Ulrich.
Bonadea lachte. »Ich bin heute harmlos zu dir gekommen, und du hast mich nicht einmal zu Ende erzählen lassen!!« hielt sie ihm vor.
»Meine Natur ist als eine Maschine angelegt, die unaufhörlich Leben entwertet! Ich will einmal anders sein!« entgegnete Ulrich. Sie konnte das unmöglich verstehn, doch erinnerte sie sich jetzt trotzig, daß sie Ulrich liebe. Mit einemmal war sie nicht mehr das schwankende Phantom ihrer Nerven, sondern fand eine überzeugende Natürlichkeit und sagte schlicht: »Du hast ein Verhältnis mit ihr angefangen!«
Ulrich verwies es ihr; ernster, als er wollte. »Ich habe mir vorgenommen, lange Zeit keine Frau anders zu lieben, als wäre sie meine Schwester« erklärte er und schwieg.
Dieses Schweigen machte durch seine Dauer auf Bonadea einen Eindruck größerer Entschlossenheit, als ihm vielleicht durch seinen Inhalt zukam.
»Aber du bist ja pervers!« rief sie plötzlich im Ton einer warnenden Prophezeiung aus und sprang aus dem Bett, in Diotimas Weisheitsschule der Liebe zurückzueilen, deren Pforten der reuig Erfrischten ahnungslos offenstanden.