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Morgen in einem Trauerhaus

 

Am nächsten Morgen fuhr Ulrich früh und so glatt aus dem Schlaf, wie ein Fisch aus dem Wasser schnellt; es war eine Folge der traumlos und restlos ausgeschlafenen Müdigkeit des vergangenen Tags. Er suchte sich ein Frühstück zu verschaffen und ging dazu durch das Haus. Die Trauer darin war noch nicht recht in Betrieb, und bloß ein Duft von Trauer hing in allen Räumen: es erinnerte ihn an ein Geschäft, das seine Läden in der Morgenfrühe geöffnet hat, während die Straße noch menschenleer ist. Dann holte er seine wissenschaftliche Arbeit aus dem Koffer und begab sich mit ihr in das Arbeitszimmer seines Vaters. Es sah, als er mitten darin saß und ein Feuer im Ofen brannte, menschlicher aus als am Abend vorher: obgleich ein pedantischer, Einerseits und Anderseits auswägender Geist es ausgebaut hatte bis zu den symmetrisch einander gegenüberstehenden Gipsbüsten auf der Höhe der Büchergestelle, gaben die vielen liegengebliebenen, kleinen persönlichen Dinge – Bleistifte, Augenglas, Thermometer, ein aufgeschlagenes Buch, Federbüchschen und dergleichen mehr – dem Raum doch die rührende Leere eines eben erst verlassenen Lebensgehäuses. Ulrich saß mitten darin, zwar in der Nähe des Fensters, aber am Schreibtisch, der den Orgelpunkt dieses Raumes bildete, und empfand eine eigentümliche Willensmüdigkeit. An den Wänden hingen Bildnisse seiner Voreltern, und ein Teil der Möbel stammte noch aus ihrer Zeit; der hier gewohnt hatte, hatte aus den Schalen ihres Lebens das Ei des seinen geformt: nun war er tot, und sein Hausrat stand noch so scharf da, als wäre er aus dem Raum herausgefeilt worden, aber schon war die Ordnung bereit abzubröckeln, sich dem Nachfolger zu fügen, und man fühlte, wie die größere Lebensdauer der Dinge kaum sichtbar hinter ihrer starren Trauermiene neu zu quellen begann.

In dieser Stimmung schlug Ulrich seine Arbeit auf, die er vor Wochen und Monaten unterbrochen hatte, und sein Blick fiel gleich zu Beginn auf die Stelle mit den physikalischen Gleichungen des Wassers, über die er nicht hinausgekommen war. Er erinnerte sich dunkel, daß er an Clarisse gedacht hatte, als er aus den drei Hauptzuständen des Wassers ein Beispiel gemacht hatte, um an ihm eine neue mathematische Möglichkeit zu zeigen; und Clarisse hatte ihn dann davon abgelenkt. Doch gibt es ein Erinnern, das nicht das Wort, sondern die Luft, worin es gesprochen worden, zurückruft, und so dachte Ulrich auf einmal: »Kohlenstoff . . .« und bekam gleichsam aus dem Nichts heraus den Eindruck, es würde ihn weiterbringen, wenn er augenblicklich bloß wüßte, in wieviel Zuständen Kohlenstoff vorkomme; aber es fiel ihm nicht ein, und er dachte statt dessen: »Der Mensch kommt in zweien vor. Als Mann und als Frau.« Das dachte er eine ganze Weile, scheinbar reglos vor Staunen, als ob es Wunder was für eine Entdeckung bedeutete, daß der Mensch in zwei verschiedenen Dauerzuständen lebe. Nur verbarg sich unter diesem Stillstand seines Denkens eine andere Erscheinung. Denn man kann hart sein, selbstsüchtig, bestrebt, gleichsam hinaus geprägt, und kann sich plötzlich als der gleiche Ulrich Soundso auch umgekehrt fühlen, eingesenkt, als ein selbstlos glückliches Wesen in einem unbeschreiblich empfindlichen und irgendwie auch selbstlosen Zustand aller umgebenden Dinge. Und er fragte sich »Wie lange ist es her, seit ich das zuletzt empfunden habe?« Zu seiner Überraschung waren es kaum mehr als vierundzwanzig Stunden. Die Stille, die Ulrich umgab, war erfrischend, und der Zustand, an den er sich erinnert sah, kam ihm nicht so ungewöhnlich vor wie sonst. »Wir alle sind ja Organismen«, dachte er beschwichtigt »die sich in einer unfreundlichen Welt mit aller Kraft und Begierde gegeneinander durchsetzen müssen. Aber mit seinen Feinden und Opfern zusammen ist jeder doch auch Teilchen und Kind dieser Welt; ist vielleicht gar nicht so losgelöst von ihnen und selbständig, wie er sich das einbildet.« Und das vorausgesetzt, schien es ihm durchaus nicht unverständlich zu sein, daß zuweilen eine Ahnung von Einheit und Liebe aus der Welt aufsteigt, fast eine Gewißheit, es lasse die handgreifliche Notdurft des Lebens unter gewöhnlichen Umständen von dem ganzen Zusammenhang der Wesen nur die eine Hälfte erkennen. Das hatte nichts an sich, was einen mathematisch-naturwissenschaftlich und exakt fühlenden Menschen zu verletzen brauchte: Ulrich sah sich dadurch sogar an die Arbeit eines Psychologen erinnert, mit dem ihn persönliche Beziehungen verbanden: sie handelte davon, daß es zwei große, einander entgegengesetzte Vorstellungsgruppen gebe, von denen sich die eine auf dem Umfangenwerden vom Inhalt der Erlebnisse, die andere auf dem Umfangen aufbaue, und legte die Überzeugung nahe, daß sich ein solches »In etwas Darinsein« und »Etwas von außen Ansehn«, ein »Konkav-« und »Konvexempfinden«, ein »Raumhaft-« wie ein »Gegenständlichsein«, eine »Einsicht« und eine »Anschauung« noch in so vielen anderen Erlebnisgegensätzen und ihren Sprachbildern wiederhole, daß man eine uralte Doppelform des menschlichen Erlebens dahinter vermuten dürfe. Es war keine von den strengen sachlichen Untersuchungen, sondern eine von den phantasiehaft etwas vorausschweifenden, die einem Anstoß ihr Entstehen verdanken, der außerhalb der täglichen wissenschaftlichen Tätigkeit liegt, aber sie war in den Grundlagen fest und in den Schlüssen von großer Wahrscheinlichkeit, die sich auf eine hinter Urnebeln verborgene Einheit des Empfindens zu bewegten, aus deren mannigfach vertauschten Trümmern, wie nun Ulrich annahm, schließlich das heutige Verhalten entstanden sein konnte, das sich undeutlich um den Gegensatz einer männlichen und weiblichen Erlebensweise ordnet und von alten Träumen geheimnisvoll beschattet wird.

Hier suchte er sich – wörtlich so, wie man beim Abstieg über eine gefährliche Kletterstelle Seil und Mauerhaken gebraucht – zu sichern und begann eine weitere Überlegung:

»Die ältesten, für uns schon fast unverständlich dunklen Überlieferungen der Philosophie sprechen oft von einem männlichen und einem weiblichen ›Prinzip‹!« dachte er.

»Die Göttinnen, die es in den Urreligionen neben den Göttern gab, sind unserem Empfinden in Wahrheit nicht mehr erreichbar« dachte er. »Für uns wäre das Verhältnis zu diesen übermenschenstarken Weibern Masochismus!«

»Aber die Natur« dachte er »gibt dem Mann Saugwarzen und der Frau ein männliches Geschlechtsrudiment, ohne daß daraus zu schließen wäre, unsere Vorfahren seien Hermaphroditen gewesen. Auch seelisch werden sie also keine Zwitter gewesen sein. Und dann muß die doppelte Möglichkeit des gebenden und des nehmenden Sehens einmal von außen empfangen worden sein, als ein Doppelgesicht der Natur, und irgendwie ist alles das viel älter als der Unterschied der Geschlechter, die sich daraus später ihre seelische Kleidung ergänzt haben . . .«

So dachte er, aber in der Folge geschah es, daß er sich an eine Einzelheit aus seiner Kindheit erinnerte, und er wurde durch sie abgelenkt, weil es ihm, was lange nicht vorgefallen war, Vergnügen bereitete sich zu erinnern. Es muß vorausgeschickt werden, daß sein Vater früher geritten war und auch Reitpferde besessen hatte, wovon der leere Stall an der Gartenmauer, den Ulrich bei seiner Ankunft zuerst gesehen hatte, heute noch Zeugnis ablegte. Wahrscheinlich war das die einzige adelige Neigung, die sich sein Vater in Bewunderung seiner feudalen Freunde selbst angemaßt hatte, aber Ulrich war damals ein kleiner Knabe gewesen, und das gleichsam Unendliche, jedenfalls Unausmeßbare, das ein hoher, muskulöser Pferdeleib für ein bewunderndes Kind besitzt, stellte sich nun in der Empfindung wieder her wie ein märchenhaft-schauriges Gebirge, von der Haarheide überzogen, durch die das Zucken der Haut wie die Wellen eines Windes lief. Es war das, wie er bemerkte, eine jener Erinnerungen, deren Glanz von der Ohnmacht des Kindes kommt, sich seine Wünsche zu erfüllen; aber das sagt wenig, vergleicht man es mit der Größe dieses Glanzes, die geradezu überirdisch war, oder mit dem nicht weniger wunderbaren Glanz, den der kleine Ulrich ein wenig später mit den Fingerspitzen berührte, als er den ersten suchte. Denn zu jener Zeit waren in der Stadt die Ankündigungen eines Zirkus angeschlagen gewesen, worauf nicht nur Pferde, sondern auch Löwen, Tiger ebenso wie große, prächtige, in Freundschaft mit ihnen lebende Hunde vorkamen, und schon lange hatte er diese Anschläge angestarrt, als es ihm gelang, sich eines dieser bunten Papiere zu verschaffen und die Tiere auszuschneiden, denen er nun mit kleinen Holzständern Steife und Halt gab. Was sich sodann begab, läßt sich aber nur mit einem Trinken vergleichen, das den Durst nicht zu Ende löscht, auch wenn man es noch so lange fortsetzt; denn es hatte weder einen Halt, noch ergab es in wochenlanger Ausbreitung einen Fortschritt, und war ein dauerndes Hinübergezogenwerden in diese bewunderten Geschöpfe, die zu besitzen er mit dem unsäglichen Glück des einsamen Kindes jetzt ebenso stark vermeinte, wenn er sie ansah, wie er fühlte, daß daran etwas Letztes fehle, das durch nichts zu erfüllen war, wovon dann gerade das Verlangen das maßlos durch den Körper Strahlende erhielt. Mit dieser sonderbar grenzenlosen Erinnerung stieg aber nun in ganz natürlicher Weise auch ein anderes, wieder nur um wenig späteres, Erlebnis jener jungen Zeit aus der Vergessenheit auf und nahm trotz seiner kindlichen Hinfälligkeit von dem großen, mit offenen Augen träumenden Körper Besitz: Es war das des kleinen Mädchens, das nur zwei Eigenschaften hatte: die, ihm gehören zu müssen, und die der Kämpfe, die er deshalb mit anderen Buben bestand. Und von diesen beiden waren nur die Kämpfe wirklich, denn das kleine Mädchen gab es nicht. Sonderbare Zeit, wo er wie ein fahrender Ritter unbekannten Gegnern, und am liebsten, wenn sie größer waren als er und ihm in einer einsamen und eines Geheimnisses fähigen Straße begegneten, an die Brust sprang und mit dem Überraschten rang! Er hatte nicht wenig Prügel dafür erhalten und manchmal auch große Siege erfochten, aber wie immer es ausging, fühlte er sich um die Befriedigung betrogen. Und auf den naheliegenden Gedanken, daß die kleinen Mädchen, die er wirklich kannte, die gleichen Geschöpfe seien wie jenes, für das er stritt, ging sein Gefühl einfach nicht ein, denn er wurde wie alle Knaben seines Alters nur blöde und starr in weiblicher Gesellschaft; bis eines Tags davon allerdings eine Ausnahme geschah. Und nun erinnerte sich Ulrich so deutlich, als stünde das Bild im Kreis eines Fernrohrs, das durch die Jahre schaute, an einen Abend, wo Agathe für ein Kinderfest angekleidet wurde. Sie trug ein samtenes Kleid, und ihre Haare flossen wie Wellen von hellem Samt darüber, so daß er sich plötzlich bei ihrem Anblick, obgleich er selbst in einem erschrecklichen Ritterkostüm steckte, ganz in der gleichen unsagbaren Weise wie nach den Tieren auf den Ankündigungen des Zirkus danach sehnte, ein Mädchen zu sein. Er wußte damals noch so wenig von Mann und Frau, daß er das nicht für ganz unmöglich ansah, und doch schon so viel, daß er nicht, wie es Kinder sonst tun, gleich in einen Versuch ausbrach, die Erfüllung seines Wunsches zu erzwingen, sondern daß beides zusammen, wenn er heute einen Ausdruck dafür suchte, etwa dem Zustand entsprach, er taste im Dunkeln nach einer Tür, stoße auf einen blutwarmen oder warmsüßen Widerstand und presse sich immer wieder an ihn, der seinem Verlangen hindurchzudringen zärtlich entgegenkommt, ohne ihm Platz zu machen. Vielleicht glich es auch einer harmlosen Art vampyrischer Leidenschaft, die das ersehnte Wesen in sich einsog, doch wollte dieser kleine Mann jene kleine Frau nicht an sich ziehen, sondern sich ganz an ihre Stelle, und das geschah mit jener blendenden Zärtlichkeit, die nur den Früherlebnissen des Geschlechts zu eigen ist.

Ulrich stand auf und reckte die Arme, erstaunt über seine Träumerei. Keine zehn Schritte von ihm entfernt, lag hinter der Wand der Leichnam seines Vaters, und er bemerkte jetzt erst, daß es rings um sie beide schon geraume Zeit wie aus der Erde herauf von Menschen wimmelte, die sich in dem ausgestorben-weiterlebenden Haus zu schaffen machten. Alte Weiber legten Teppiche und zündeten neue Kerzen an, auf den Treppen wurde gehämmert, Blumen wurden heraufgebracht, Böden gewachst, und nun machte sich diese Betriebsamkeit wohl auch an ihn selbst heran, denn es wurden ihm Leute gemeldet, die so früh auf den Beinen waren, weil sie etwas haben oder wissen wollten, und von Stund an riß ihre Kette nicht mehr ab. Die Universität schickte um eine Auskunft wegen des Begräbnisses, ein Trödler kam und fragte schüchtern nach Kleidern, im Auftrag einer deutschen Firma meldete sich unter vielen Entschuldigungen ein städtischer Antiquar, um ein Preisangebot für ein seltenes juridisches Werk zu stellen, das sich vermutlich in der Bibliothek des Verstorbenen befinden werde, ein Kaplan begehrte Ulrich im Auftrag des Pfarramts zu sprechen, weil irgendeine Unklarheit bestand, ein Herr von der Lebensversicherung kam mit einer langen Auseinandersetzung, jemand suchte billig ein Klavier, ein Immobilienagent gab seine Karte für den Fall ab, daß man das Haus zu verkaufen wünsche, ein ausgedienter Beamter bot sich zum Schreiben von Briefumschlägen an, und so kam, ging, fragte und wollte es in diesen günstigen Frühstunden unaufhörlich, knüpfte sachlich an den Todesfall an und forderte sein Daseinsrecht schriftlich und mündlich; am Haustor, wo der alte Diener die Leute nach Kräften abschüttelte, und oben, wo Ulrich trotzdem alles empfangen mußte, was durchschlüpfte. Er hatte sich nie eine Vorstellung davon gemacht, wie viele Menschen höflich auf den Tod anderer warten und wie viele Herzen man in dem Augenblick in Bewegung setzt, wo das eigene stillsteht; er war einigermaßen erstaunt und sah: ein toter Käfer liegt im Wald, und andere Käfer, Ameisen, Vögel und wippende Schmetterlinge kommen zu ihm heran.

Denn der Emsigkeit dieses Nutzengetriebes war allerwegen auch ein Flackern und Flattern des waldtief Dunklen zugesetzt. Der Eigennutz blickte durch die Scheiben gerührter Augen wie eine Laterne, die man am hellen Tag brennen läßt, als ein Herr mit schwarzem Flor auf der schwarzen Kleidung eintrat, die ein Mittelding zwischen Bedauern und Büroanzug war, an der Tür stehen blieb und zu erwarten schien, daß entweder er oder Ulrich in Schluchzen ausbrechen müsse. Nachdem aber keins von beidem geschah, schien es ihm nach einigen Sekunden auch zu genügen, denn er trat nun vollends ins Zimmer ein, und genau so, wie es jeder gewöhnliche Geschäftsmann auch getan hätte, stellte er sich als der Leiter der Leichenbestattungsanstalt heraus, der sich zu erkundigen kam, ob Ulrich mit der Ausführung bisher zufrieden gewesen sei. Er versicherte, daß auch alles Weitere in einer Weise ausgeführt werden solle, mit der selbst der selige Herr Papa unbedingt hätte einverstanden sein müssen, der, wie man wisse, nicht leicht zufriedenzustellen gewesen sei. Er nötigte Ulrich ein Stück Papier in die Hand, das mit vielen Vordrucken und Rechtecken ausgestattet war, und zwang ihn, in dem für allerhand Grade der Bestellung abgefaßten Vertragsentwurf einzelne Worte zu lesen wie: . . . achtspännig und zweispännig . . . Kranzwagen . . . Zahl . . . Bespannung à la . . . mit Vorreiter, silberplattiert . . . Begleitung à la . . . Fackeln nach Marienburger Weise . . . nach Admonter Weise . . . Zahl der Begleiter . . . Art der Beleuchtung . . . Brenndauer . . . Sargholz . . . Pflanzenschmuck . . . Name, Geburt, Geschlecht, Beruf . . . Ablehnung jeder unvorhergesehenen Haftung. Ulrich hatte keine Ahnung, woher die teilweise altertümelnden Bezeichnungen kamen; er fragte, der Geschäftsführer blickte ihn erstaunt an, und auch er hatte keine Ahnung. Er stand vor Ulrich wie ein Reflexbogen des Menschheitsgehirns, durch den Reiz und Handlung verbunden waren, ohne daß ein Bewußtsein entstand. Jahrhundertealte Geschichte war diesem Trauergeschäftsmann anvertraut, er durfte mit ihr als Warenbezeichnung schalten, hatte das Gefühl, daß Ulrich eine falsche Schraube gelüftet habe, und bemühte sich, sie rasch mit einer Bemerkung zu schließen, die zur Effektuierung der Lieferung zurückführen sollte. Er erklärte, alle diese Unterscheidungen seien leider im Einheitsvertrag des Reichsvereins der Leichenbestattungsunternehmer vorgeschrieben, aber es hätte weiter auch keine Bedeutung, wenn man sich nicht an sie halte, und das täte ohnehin niemand, und wenn Ulrich unterschriebe – die gnädige Frau Schwester habe das gestern ohne den Herrn Bruder nicht tun wollen –, so solle das einfach bedeuten, daß der Herr mit dem von seinem Vater gegebenen Auftrag einverstanden sei, und er werde an der erstklassigen Durchführung schon nichts auszusetzen finden.

Während Ulrich unterschrieb, fragte er den Mann, ob er hier in der Stadt schon eine der elektrisch betriebenen Wurstmaschinen gesehen habe, die auf dem Gehäuse den heiligen Lukas als Patron der Fleischhauerinnung zeigten; er selbst habe sie einmal in Brüssel gesehn – aber er kam nicht mehr dazu, die Antwort abzuwarten, denn schon stand an der Stelle dieses Mannes ein anderer da, der von ihm etwas wünschte, und war ein Journalist, der für das Provinzhauptblatt Auskünfte zum Nekrolog wollte. Ulrich gab sie und verabschiedete den Bestatter, aber sowie er auf die Frage nach dem Wichtigsten in seines Vaters Leben zu antworten begann, wußte er schon nicht, was wichtig sei und was nicht, und sein Besucher mußte ihm zu Hilfe kommen. Erst da ging es, angefaßt mit den Fragezangen einer beruflich auf das Wissenswerte geschulten Neugier, vorwärts, und Ulrich bekam ein Gefühl, als wohne er der Erschaffung der Welt bei. Der Journalist, ein junger Mann, fragte, ob der Tod des alten Herrn nach langem Leiden oder unerwartet gekommen sei, und als Ulrich zur Antwort gab, daß sein Vater bis zur letzten Woche seine Vorlesungen abgehalten habe, formte er daraus: in voller Arbeitsrüstigkeit und Frische. Dann flogen von dem Leben des alten Herrn die Späne davon bis auf ein paar Rippen und Knoten: Geboren in Protiwin im Jahre 1844, die und die Schulen besucht, ernannt zum . . ., ernannt am . . .; mit fünf Ernennungen und Auszeichnungen war das Wesentliche fast schon erschöpft. Eine Heirat dazwischen. Ein paar Bücher. Einmal beinahe Justizminister geworden; es scheiterte am Widerspruch von irgendeiner Seite. Der Journalist schrieb, Ulrich begutachtete es, es stimmte. Der Journalist war zufrieden, er hatte die nötige Zeilenzahl. Ulrich staunte über das kleine Häufchen Asche, das von einem Leben übrigbleibt. Der Journalist hatte für alle Auskünfte, die er empfing, sechs- und achtspännige Formeln bereit gehabt: großer Gelehrter, geöffneter Weltsinn, vorsichtigschöpferischer Politiker, universale Begabung und so weiter; es mußte schon geraume Zeit niemand gestorben sein, die Worte waren lange nicht benutzt und hungrig nach Anwendung gewesen. Ulrich überlegte; er hätte gerne über seinen Vater noch etwas Gutes gesagt, aber das Sichere hatte der Chronist, der jetzt sein Schreibzeug einpackte, schon erfragt, und der Rest war, als ob man den Inhalt eines Glases Wasser ohne das Glas in die Hand nehmen wollte.

Das Kommen und Gehn hatte inzwischen nachgelassen, denn von Agathe waren am vergangenen Tag alle Leute an ihren Bruder gewiesen worden und dieser Überschuß war nun vorbeigeströmt, und Ulrich blieb allein zurück, als sich der Reporter empfahl. Er war durch irgendetwas in eine erbitterte Stimmung geraten. Hatte sein Vater nicht recht gehabt, daß er die Säcke des Wissens schleppte und den Körnerhaufen des Wissens ein wenig umgrub und darüber hinaus sich einfach jenem Leben unterwarf, von dem er glaubte, daß es das richtige sei!? Er dachte an seine Arbeit, die unberührt im Schreibtisch lag. Wahrscheinlich würde man von ihm nicht einmal sagen können wie von seinem Vater, daß er ein Umschaufler gewesen sei! Ulrich trat in das kleine Zimmer, worin der Tote aufgebahrt lag. Diese starre, geradwandige Zelle inmitten der unruhigen Betriebsamkeit, die ihr entsprang, war phantastisch unheimlich; steif wie ein Holzstückchen schwamm der Tote zwischen den Fluten der Geschäftigkeit, aber für Augenblicke konnte sich das Bild verkehren, dann erschien das Lebendige starr, und er schien in einer unheimlich ruhigen Bewegung zu gleiten. »Was kümmern den Reisenden« sagte er dann »die Städte, die an den Anlegestellen zurückbleiben: ich habe hier gewohnt und mich betragen, wie man es verlangte, aber nun fahre ich wieder!« . . . Die Unsicherheit des Menschen, der zwischen den anderen etwas anderes will als sie, drückte Ulrichs Herz: er sah seinem Vater ins Gesicht. Vielleicht war alles, was er für seine persönliche Besonderheit hielt, nichts ah ein von diesem Gesicht abhängiger Widerspruch, irgendwann kindisch erworben? Er suchte nach einem Spiegel, aber es war keiner da, und nichts als dieses blinde Gesicht warf Licht zurück. Er forschte darin nach Ähnlichkeiten. Vielleicht waren sie da. Vielleicht war alles darin, die Rasse, die Gebundenheit, das Nichtpersönliche, der Strom des Erbgangs, in dem man nur eine Kräuselung ist, die Einschränkung, Entmutigung, das ewige Wiederholen und im Kreis Gehen des Geistes, das er im tiefsten Lebenswillen haßte!

Von dieser Entmutigung plötzlich angewandelt, überlegte er, ob er nicht seine Koffer packen und schon vor dem Begräbnis abreisen solle. Wenn er wirklich noch etwas im Leben bestellen könnte, was hatte er dann noch hier zu tun!

Als er aber durch die Türe trat, stieß er im Nebenzimmer mit seiner Schwester zusammen, die ihn zu suchen kam.


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