Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

19

Vorwärts zu Moosbrugger

 

Zur gleichen Zeit saßen Walter, Clarisse und der Prophet Meingast um eine Schüssel, die mit Radieschen, Mandarinen, Krachmandeln, Streichkäse und großen türkischen Dörrpflaumen gefüllt war, und verzehrten dieses köstliche und gesunde Abendbrot. Der Prophet trug über dem etwas dürren Oberkörper wieder nur seine Wolljacke und lobte von Zeit zu Zeit die natürlichen Genüsse, die ihm dargeboten wurden, indes Clarissens Bruder Siegmund in Hut und Handschuhen abseits des Tisches saß und von einer Rücksprache berichtete, deren er abermals mit Dr. Friedenthal, dem Assistenten der psychiatrischen Klinik, »gepflogen« hatte, um es seiner »völlig verrückten« Schwester zu ermöglichen, daß sie Moosbrugger sehe. »Friedenthal beharrt darauf, daß er es nur mit einer Erlaubnis des Landesgerichts möglich machen könne,« schloß er unbefangen »und beim Landesgericht begnügt man sich nicht mit der Eingabe des Fürsorgevereins Letzte Stunde, die ich euch beschafft habe, sondern verlangt eine Empfehlung der Gesandtschaft, da wir leider gelogen haben, Clarisse sei Ausländerin. Da hilft nun nichts anderes mehr: Dr. Meingast muß morgen zur Schweizer Gesandtschaft!«

Siegmund sah seiner Schwester ähnlich, nur war sein Gesicht ausdrucksloser, obwohl er der ältere war. Wenn man die Geschwister nebeneinander betrachtete, wirkten Nase, Mund und Augen in Clarissens fahlem Gesicht wie Risse in einem trockenen Boden, während die gleichen Züge in Siegmunds Antlitz die weichen, etwas verwischten Linien eines rasenbedeckten Geländes hatten, obwohl er bis auf ein Schnurrbärtchen glatt rasiert war. Die Bürgerlichkeit war von seinem Aussehen bei weitem nicht in dem gleichen Maß abgetragen worden wie von dem seiner Schwester und gab ihm eine ahnungslose Natürlichkeit auch in dem Augenblick, wo er so unverschämt über die kostbare Zeit eines Philosophen verfügte. Es würde niemand gewundert haben, wenn darauf aus der Radieschenschüssel Blitz und Donner gebrochen wären; aber der große Mann nahm die Zumutung freundlich hin – was seine Bewunderer als ein äußerst anekdotisches Ereignis betrachteten – und nickte mit dem Auge wie ein Adler, der einen Sperling neben sich auf der Stange duldet.

Immerhin bewirkte die plötzlich entstandene und nicht breit genug abgeleitete Spannung, daß Walter nicht länger an sich hielt. Er zog seinen Teller zurück, war rot wie ein Morgenwölkchen und behauptete mit Nachdruck, daß ein gesunder Mensch, wenn er nicht Arzt oder Wärter sei, in einem Irrenhaus nichts zu suchen habe. Auch ihm pflichtete der Meister mit einem kaum merklichen Nicken bei. Siegmund, der es sah und sich im Lauf des Lebens manches angeeignet hatte, ergänzte diese Zustimmung mit den hygienischen Worten: »Es ist zweifellos eine ekelhafte Angewohnheit des wohlhabenden Bürgertums, daß es in Geisteskranken und Verbrechern etwas Dämonisches sieht.«

»Aber dann erklärt mir doch endlich,« rief Walter »warum ihr alle Clarisse behilflich sein wollt, etwas zu tun, das von euch nicht gebilligt wird und sie nur noch nervöser machen kann!?«

Seine Gattin selbst würdigte das keiner Antwort. Sie machte ein unangenehmes Gesicht, vor dessen der Wirklichkeit fernem Ausdruck man Angst hätte fühlen können; zwei hochmütig lange Linien liefen darin längs der Nase hinab, und das Kinn zeigte eine harte Spitze. Siegmund glaubte weder verpflichtet noch ermächtigt zu sein, für die anderen das Wort zu führen. So trat auf Walters Frage eine kurze Stille ein, bis Meingast leise und gleichmütig sagte: »Clarisse hat einen zu starken Eindruck erlitten, das darf man nicht auf sich beruhen lassen,«

»Wann?« fragte Walter laut.

»Unlängst; abends am Fenster.«

Walter wurde blaß, weil er der einzige war, der das erst jetzt erfuhr, während sich Clarisse offensichtlich Meingast anvertraut hatte und sogar ihrem Bruder. Aber so sei sie! dachte er.

Und obwohl es nicht unbedingt nötig gewesen wäre, hatte er plötzlich – über die Schüssel mit Grünzeug weg – das Gefühl, sie wären alle ungefähr um zehn Jahre jünger. Das war die Zeit, wo Meingast, noch der alte, unverwandelte Meingast, Abschied nahm und Clarisse sich für Walter entschied. Später hatte sie ihm gestanden, daß Meingast damals, obwohl er schon verzichtet hatte, sie doch noch manchmal geküßt und berührt hätte. Die Erinnerung war wie die große Bewegung einer Schaukel. Immer höher war Walter emporgehoben worden, und alles gelang ihm damals, wenn auch manche Tiefen dazwischen lagen. Und auch damals hatte Clarisse, wenn Meingast in der Nähe war, nicht mit Walter sprechen gekonnt; er mußte oft erst durch andere erfahren, was sie dachte und tat. In seiner Nähe wurde sie starr. »Wenn du mich anrührst, werde ich ganz starr!« hatte sie zu ihm gesagt. »Mein Körper wird ernst, das ist etwas anderes als mit Meingast!« Und als er sie zum erstenmal küßte, sagte sie zu ihm: »Ich habe Mama versprochen, so etwas nie zu tun!« Obwohl sie ihm später gestand, daß Meingast damals immer unter dem Speisetisch mit den Füßen heimlich ihre Füße berührt hätte. Das machte Walters Einfluß! Der Reichtum innerer Entwicklung, den er in ihr emporgerufen habe, hindere sie an der zwanglosen Bewegung, so erklärte er es sich. Und es fielen ihm die Briefe ein, die er damals mit Clarisse gewechselt hatte: er glaubte noch heute, daß sich ihnen an Leidenschaft und Eigenart nicht leicht etwas an die Seite stellen ließe, wenn man auch die ganze Literatur durchsuche. Er strafte in jenen stürmischen Zeiten Clarisse damit, daß er weglief, wenn sie Meingast erlaubte, bei ihr zu sein, und dann schrieb er ihr einen Brief; und sie schrieb ihm Briefe, worin sie ihn ihrer Treue versicherte und ihm aufrichtig mitteilte, daß sie von Meingast noch einmal durch den Strumpf aufs Knie geküßt worden sei. Walter hatte diese Briefe als Buch herausgeben wollen, und noch jetzt dachte er zuweilen, daß er es einmal doch tun werde. Leider war aber bisher nichts daraus entstanden als gleich zu Anfang ein folgenreiches Mißverständnis mit Clarissens Erzieherin: Zu der hatte nämlich Walter eines Tags gesagt: »Sie werden sehen, in kürzester Zeit mache ich alles gut!« Er hatte das in seinem Sinn gemeint und sich den großen Rechtfertigungserfolg vorgestellt, den er vor der Familie haben werde, sobald ihn die Herausgabe der »Briefe« berühmt mache; denn, genau genommen, war ja damals zwischen Clarisse und ihm manches nicht so, wie es sollte. Clarissens Erzieherin – ein Familienerbstück, das sein Ausgeding unter dem Ehrenvorwand erhielt, eine Art Zwischenmutter abzugeben – verstand das aber falsch und in ihrer Weise, wodurch alsbald in der Familie das Gerücht entstand, Walter wolle etwas tun, das es ihm ermögliche, um Clarissens Hand zu bitten; und als das einmal ausgesprochen war, entstanden daraus ganz eigentümliche Glücke und Zwänge. Das wirkliche Leben war sozusagen mit einem Schlag erwacht: Walters Vater erklärte, nicht länger für seinen Sohn sorgen zu wollen, wenn dieser nicht selbst etwas verdiene; Walters zukünftiger Schwiegervater ließ ihn ins Atelier bitten und sprach dort von den Schwierigkeiten und Enttäuschungen der reinen, nichts als heiligen Kunst, sei diese nun die bildende, Musik oder Dichtung; Walter selbst endlich und Clarisse juckte der mit einemmal leibhaft gewordene Gedanke an selbständige Wirtschaft, Kinder und öffentlich-gemeinsames Schlafzimmer wie ein Riß in der Haut, der nicht heilen kann, weil man unwillkürlich an ihm immer weiter kratzt. So geschah es, daß Walter wenige Wochen nach seinem vorangeeilten Ausspruch wirklich mit Clarisse verlobt wurde, was beide sehr glücklich machte, aber auch sehr aufgeregt, denn nun begann jenes Suchen nach einem bleibenden Ort im Leben, das dadurch alle Schwierigkeiten Europas auf sich lud, daß die von Walter in unbeständigem Irren gesuchte Stellung ja nicht nur durch das Einkommen bestimmt war, sondern auch durch die sechs sich ergebenden Rückwirkungen auf Clarisse, ihn, die Erotik, die Dichtung, die Musik und die Malerei. Eigentlich waren sie aus den verketteten Wirbeln, die an den Augenblick anknüpften, wo ihn angesichts der alten Mademoiselle die Gesprächigkeit übermannt hatte, erst vor kurzem erwacht, als er die Stellung im Denkmalamt annahm und mit Clarisse dieses bescheidene Haus bezog, wo das Schicksal sich nun weiter entscheiden mußte.

Und im Grunde dachte Walter, es wäre recht annehmbar, wenn sich das Schicksal nun zufrieden gäbe; dann wäre das Ende zwar nicht gerade das, was der Anfang hatte sein wollen, aber die Äpfel fallen ja, wenn sie reif sind, auch nicht den Baum hinauf, sondern zur Erde.

So dachte Walter, und währenddes schwebte über dem seinem Platz gegenüberliegenden Durchmesserende der bunten Schüssel mit gesunder Pflanzenkost der kleine Kopf seiner Gattin, und Clarisse war bemüht, so sachlich wie möglich, ja ebenso sachlich wie Meingast selbst, dessen Erklärung zu ergänzen. »Ich muß etwas tun, um den Eindruck zu zerkleinern; der Eindruck ist zu stark für mich gewesen, sagt Meingast« erläuterte sie und fügte aus eigenem hinzu: »Es ist ja auch gewiß nicht bloß Zufall, daß sich der Mann gerade unter meinem Fenster in die Büsche gestellt hat!«

»Unsinn!« wehrte Walter das ab wie ein Schläfer eine Fliege: »Es war doch auch mein Fenster!«

»Also unser Fenster!« verbesserte Clarisse, mit ihrem Lippenspaltlächeln, an dem bei dieser Anzüglichkeit nicht zu unterscheiden war, ob es Bitternis oder Hohn ausdrücke. »Wir haben ihn angezogen. Soll ich dir aber sagen, wie man das nennen kann, was – der Mann getan hat? Er hat Geschlechtslust gestohlen!«

Walter tat das im Kopf weh: Der war dicht voll Vergangenheit, und die Gegenwart keilte sich ein, ohne daß der Unterschied zwischen Gegenwart und Vergangenheit überzeugend gewesen wäre. Da waren noch Büsche, die sich in Walters Kopf zu hellen Laubmassen schlossen, mit Radfahrwegen, die hindurchführten. Die Kühnheit langer Fahrten und Spaziergänge war wie heute am Morgen erlebt. Mädchenkleider schwangen wieder, die in jenen Jahren zum erstenmal verwegen den Fußknöchel freigegeben und den Saum weißer Unterröcke in der neuen sportlichen Bewegung schäumen gelassen hatten. Daß Walter damals glaubte, zwischen ihm und Clarisse sei manches »nicht so, wie es solle«, war ja wohl eine sehr beschönigende Fassung gewesen, denn genau genommen, war bei diesen Radfahrten im Frühling ihres Verlobungsjahrs alles vorgefallen, wobei ein junges Mädchen gerade noch Jungfrau bleiben kann. »Fast unglaublich bei einem anständigen Mädchen« dachte Walter, während er sich mit Entzücken daran erinnerte. Clarisse hatte es: »Die Sünden Meingasts auf sich nehmen« genannt, der zu jener Zeit noch anders hieß und gerade ins Ausland gegangen war. »Es wäre jetzt eine Feigheit, nicht sinnlich zu sein, weil er es gewesen ist!« So erklärte es Clarisse und hatte verkündet: »Aber wir wollen es ja geistig!« Wohl hatte sich Walter zuweilen Sorge darüber gemacht, daß diese Vorgänge doch noch zu nahe mit dem erst vor kurzem Verschwundenen zusammenhingen, aber Clarisse erwiderte: »Wenn man etwas Großes will, wie doch zum Beispiel wir in der Kunst, dann ist es einem verboten, sich über anderes Sorge zu machen«; und so konnte sich Walter entsinnen, mit welchem Eifer sie die Vergangenheit vernichteten, indem sie sie in neuem Geist wiederholten, und mit wie großem Vergnügen sie die magische Fähigkeit entdeckten, unerlaubte körperliche Annehmlichkeiten dadurch zu entschuldigen, daß man ihnen eine überpersönliche Aufgabe zuspricht. Eigentlich habe Clarisse zu jener Zeit in der Lüsternheit die gleiche Art von Tatkraft entwickelt wie später in der Verweigerung, gestand sich Walter ein, und den Zusammenhang für einen Augenblick verlassend, sagte ihm ein widerspenstiger Gedanke, daß ihre Brüste heute noch genau so starr seien wie damals. Alle konnten es sehn, auch durch die Kleider. Meingast blickte sogar gerade auf die Brust hin; vielleicht wußte er es nicht. »Ihre Brüste sind stumm!« deklamierte Walter in sich so beziehungsreich, als wäre das ein Traum oder ein Gedicht; und beinahe ebenso drang durch die Polsterung des Gefühls währenddem auch die Gegenwart:

»Sagen Sie doch, Clarisse, was Sie denken!« hörte er Meingast wie einen Arzt oder Lehrer Clarisse aufmuntern; aus irgendeinem Grund fiel der Zurückgekehrte zuweilen ins »Sie« zurück.

Walter nahm ferner wahr, daß Clarisse Meingast fragend ansah.

»Sie haben mir von einem Moosbrugger erzählt, daß er ein Zimmermann sei...«

Clarisse schaute.

»Wer war noch ein Zimmermann? Der Erlöser! Haben Sie das denn nicht gesagt?! Sie haben mir doch sogar erzählt, daß Sie an irgendeine einflußreiche Person deswegen einen Brief geschrieben haben?«

»Hört auf!« bat Walter heftig. Sein Kopf drehte sich innen. Er hatte aber kaum seinen Unwillen ausgerufen, als ihm klar wurde, daß er auch von diesem Brief noch nie etwas gehört hätte, und schwach werdend fragte er: »Welch ein Brief ist das?!«

Er erhielt von niemand eine Antwort. Meingast überging die Frage und sagte: »Es ist das eine der zeitgemäßesten Ideen. Wir sind nicht imstande, uns selbst zu befreien, daran kann kein Zweifel bestehn; wir nennen das Demokratie, aber diese ist bloß der politische Ausdruck für den seelischen Zustand des ›Man kann so, aber auch anders‹. Wir sind das Zeitalter des Stimmzettels. Wir bestimmen ja schon jedes Jahr unser sexuelles Ideal, die Schönheitskönigin, mit dem Stimmzettel, und daß wir die positive Wissenschaft zu unserem geistigen Ideal gemacht haben, heißt nichts anderes als den Stimmzettel den sogenannten Tatsachen in die Hand zu drücken, damit sie an unser Statt wählen. Das Zeitalter ist unphilosophisch und feig; es hat nicht den Mut zu entscheiden, was wert und was unwert ist, und Demokratie, auf das knappeste ausgedrückt, bedeutet: Tun, was geschieht! Nebenbei bemerkt, ist das ja einer der ehrlosesten Zirkelschlüsse, die es in der Geschichte unserer Rasse bisher gegeben hat.«

Der Prophet hatte ärgerlich eine Nuß aufgebrochen und enthäutet und schob nun ihre Bruchstücke in den Mund. Niemand hatte ihn verstanden. Er unterbrach seine Rede zugunsten einer langsam kauenden Bewegung seiner Kinnbacken, an der auch die etwas aufgebogene Spitze der Nase teilnahm, während das übrige Gesicht asketisch reglos blieb, ließ aber den Blick nicht von Clarisse, der in der Gegend ihrer Brust ausruhte. Unwillkürlich verließen auch die Augen der beiden anderen Männer das Gesicht des Meisters und folgten diesem abwesenden Blick. Clarisse fühlte einen saugenden Zug, als könnte sie, wenn man sie noch lange anblickte, von diesen sechs Augen aus sich hinaus gehoben werden. Aber der Meister schluckte den letzten Rest der Nuß gewaltsam hinunter und setzte seine Belehrung fort:

»Clarisse hat entdeckt, daß die christliche Legende den Erlöser einen Zimmermann sein läßt: stimmt nicht einmal ganz; nur seinen Ziehvater. Es stimmt natürlich auch nicht im geringsten, wenn Clarisse dann daraus, daß ein Verbrecher, der ihr auffällt, zufällig ein Zimmermann ist, einen Schluß ziehen will. Intellektuell ist das unter jeder Kritik. Moralisch ist es leichtfertig. Aber es ist mutig von ihr: das ist es!« Meingast machte eine Pause, um das hart gesprochene Wort »mutig« wirken zu lassen. Dann fuhr er wieder in Ruhe fort: »Sie hat unlängst, was uns andern auch widerfahren ist, einen exhibierenden Psychopathen gesehn; sie überschätzt das, überhaupt wird das Sexuelle heute durchaus überschätzt, aber Clarisse sagt: Es ist nicht Zufall, daß dieser Mann unter mein Fenster kam, – und das wollen wir jetzt recht verstehn! Es ist ja falsch, denn kausal bleibt das Zusammentreffen natürlich ein Zufall. Trotzdem sagt sich Clarisse: Wenn ich alles als erklärt ansehe, so wird der Mensch niemals etwas an der Welt ändern. Sie betrachtet es als unerklärlich, daß ein Mörder, der, wenn ich nicht irre, Moosbrugger heißt, gerade ein Zimmermann sei; sie betrachtet es als unerklärlich, daß sich ein unbekannter Kranker, der an sexuellen Störungen leidet, gerade unter ihrem Fenster aufstellt; und so hat sie sich angewöhnt, auch manches andere, das ihr begegnet, als unerklärlich zu betrachten, und –« wieder ließ Meingast seine Zuhörer einen Augenblick warten; seine Stimme hatte zuletzt an die Bewegungen eines entschlossenen Mannes erinnert, der mit äußerster Vorsicht auf den Zehenspitzen daherkommt, nun aber griff dieser Mann zu: »Und sie wird darum etwas tun!« erklärte Meingast mit Festigkeit.

Clarisse wurde es kalt.

»Ich wiederhole,« sagte Meingast »daß man das nicht intellektuell kritisieren darf. Aber die Intellektualität ist, wie wir wissen, nur der Ausdruck oder das Werkzeug eines ausgetrockneten Lebens; dagegen kommt das, was Clarisse ausdrückt, wahrscheinlich schon aus einer anderen Sphäre: der des Willens. Clarisse wird das, was ihr zustößt, voraussichtlich niemals erklären können, wohl aber wird sie es vielleicht lösen können; und sie nennt das schon ganz richtig erlösen, sie gebraucht instinktiv das rechte Wort dafür. Denn es könnte ja leicht einer von uns auch sagen, daß ihm das wie Wahnideen vorkomme, oder daß Clarisse ein nervenschwacher Mensch sei; aber das hätte gar keinen Zweck: die Welt ist zur Zeit so wahnfrei, daß sie bei nichts weiß, ob sie es lieben oder hassen soll, und weil alles zweiwertig ist, darum sind auch alle Menschen Neurastheniker und Schwächlinge. Mit einem Wort,« schloß der Prophet plötzlich »es fällt dem Philosophen nicht leicht, auf die Erkenntnis zu verzichten, aber es ist wahrscheinlich die große werdende Erkenntnis des zwanzigsten Jahrhunderts, daß man es tun muß. Mir, in Genf, ist es heute geistig wichtiger, daß es dort einen französischen Boxlehrer gibt, als daß der Zergliederer Rousseau dort geschaffen hat!«

Meingast hätte noch mehr gesprochen, da er einmal im Zug war. Erstens davon, daß der Erlösungs-Gedanke immer anti-intellektuell gewesen sei. »Also ist nichts der Welt heute mehr zu wünschen als ein guter kräftiger Wahn«: diesen Satz hatte er sogar schon auf der Zunge gehabt, dann aber zugunsten der anderen Schlußwendung hinuntergeschluckt. Zweitens von der körperlichen Mitbedeutung der Erlösungsvorstellung, die schon durch den Wortkern »lösen«, verwandt mit »lockern«, gegeben sei; eine körperliche Mitbedeutung, die darauf hinweist, daß nur Taten erlösen können, das heißt Erlebnisse, die den ganzen Menschen mit Haut und Haaren einbeziehn. Drittens hatte er davon sprechen wollen, daß wegen der Über-Intellektualisierung des Mannes unter Umständen die Frau die instinktive Führung zur Tat übernehmen werde, wovon Clarisse eines der ersten Beispiele sei. Endlich von der Wandlung des Erlösungsgedankens in der Geschichte der Völker überhaupt und davon, wie gegenwärtig in dieser Entwicklung die jahrhundertealte Vorherrschaft des Glaubens, daß Erlösung bloß ein vom religiösen Gefühl geschaffener Begriff sei, der Erkenntnis Platz mache, daß sie durch die Entschlossenheit des Willens, ja, wenn nötig, sogar durch Gewalt herbeigeführt werden müsse. Denn die Erlösung der Welt durch Gewalt war augenblicklich der Mittelpunkt seiner Gedanken. Aber Clarisse hatte inzwischen den saugenden Zug der ihr zugewendeten Aufmerksamkeit unerträglich werden gefühlt und dem Meister das Wort verlegt, indem sie sich Siegmund als der Stelle des geringsten Widerstandes zuwandte und zu ihm überlaut sagte: »Ich habe dir ja gesagt: man kann nur das verstehn, was man mitmacht: darum müssen wir selbst ins Irrenhaus gehn!«

Walter, der, um an sich zu halten, eine Mandarine schälte, schnitt in diesem Augenblick zu tief, und ein ätzender Strahl spritzte ihm ins Auge, so daß er zurückfuhr und nach dem Taschentuch suchte. Siegmund, wie immer sorgfältig gekleidet, betrachtete zuerst mit Liebe zur Sache die Wirkung der Reizung auf seines Schwagers Auge, dann die Wildlederhandschuhe, die als Stilleben der Ehrbarkeit mitsamt einem runden steifen Hut auf seinem Knie ruhten, und erst als der Blick seiner Schwester nicht von seinem Gesicht wich, und niemand durch eine Antwort für ihn eintrat, sah er mit einem ernsten Kopfnicken auf und murmelte gelassen: »Ich habe niemals bezweifelt, daß wir alle in ein Irrenhaus gehören.«

Clarisse wandte sich darauf zu Meingast und sagte: »Von der Parallelaktion habe ich dir ja erzählt: das wäre wohl auch eine ungeheure Möglichkeit und Pflicht, mit dem Gewährenlassen des So-und-auch-Anders aufzuräumen, das die Sünde des Jahrhunderts ist!«

Der Meister winkte lächelnd ab.

Clarisse, überströmt vom Enthusiasmus der eigenen Wichtigkeit, rief ziemlich abgerissen und starrköpfig aus: »Eine Frau, die einen Mann gewähren läßt, dessen Geist das schwächt, ist auch ein Lustmörder!«

Meingast mahnte: »Wir wollen nur an die Allgemeinheit denken! Übrigens kann ich dich in der einen Frage beruhigen: bei jenen etwas lächerlichen Beratungen, in denen die sterbende Demokratie noch eine große Aufgabe gebären möchte, habe ich schon seit langem meine Beobachter und Vertrauensleute!«

Clarisse fühlte einfach Eis an den Haarwurzeln.

Vergeblich versuchte Walter noch einmal, das, was sich entwickelte, zu hemmen. Mit großer Achtung gegen Meingast ankämpfend, in einer völlig anderen Tonart, als er etwa zu Ulrich gesprochen hätte, wandte er sich mit den Worten an ihn: »Was du sagst, ist wohl das gleiche, wie wenn ich selbst seit langem sage, daß man nur in reinen Farben malen solle. Man muß Schluß machen mit dem Gebrochen-Verwischten, den Zugeständnissen an die leere Luft, an die Feigheit des Blicks, der nicht mehr zu sehen gewagt hat, daß jedes Ding einen festen Umriß und eine Lokalfarbe hat: ich sage es malerisch, und du sagst es philosophisch. Aber, wenn wir auch einer Meinung sind...« er wurde plötzlich verlegen und fühlte, daß er es vor den anderen nicht aussprechen könne, warum er Clarissens Berührung mit den Geisteskranken fürchte: »Nein, ich wünsche nicht, daß Clarisse das tut,« rief er aus »und mit meinem Einverständnis wird es nicht geschehn!«

Der Meister hatte freundlich zugehört, und dann erwiderte er ihm ebenso freundlich, als wäre nicht eines der wichtig vorgebrachten Worte in sein Ohr gedrungen: »Clarisse hat übrigens noch etwas sehr schön ausgedrückt: sie hat behauptet, daß wir alle außer der Sündengestalt, in der wir lebten, noch eine Unschuldsgestalt besäßen; man könnte das in der schönen Bedeutung auffassen, daß unsere Vorstellung unabhängig von der jämmerlichen sogenannten Erfahrungswelt einen Zugang zu einer Welt der Großartigkeit besitze, worin wir in hellen Augenblicken unser Bild nach einer tausendmal anderen Dynamik bewegt fühlen! Wie haben Sie das gesagt, Clarisse?« fragte er aufmunternd, indem er sich zu ihr wandte. »Haben Sie denn nicht behauptet, wenn es Ihnen gelänge, sich ohne Abscheu zu diesem Unwürdigen zu bekennen, bei ihm einzudringen und in seiner Zelle Tag und Nacht Klavier zu spielen ohne zu erlahmen, so müßten Sie seine Sünden gleichsam aus ihm ziehn, auf sich nehmen und mit ihnen aufsteigen?! Das ist natürlich auch nicht« bemerkte er, nun sich wieder zu Walter zurückwendend »wörtlich zu verstehn, sondern ist ein Tiefenvorgang der Zeitseele, der sich, in die Parabel von diesem Mann verkleidet, ihrem Willen eingibt...«

Er war in diesem Augenblick unsicher, ob er nicht doch noch etwas über Clarissens Beziehung zur Geschichte des Erlösungsgedankens sagen solle oder ob es reizvoller wäre, ihr unter vier Augen noch einmal ihre Mission der Führung zu erklären; aber da war sie von ihrem Platz wie ein übermäßig ermuntertes Kind aufgesprungen, stieß den Arm mit der geballten Faust in die Höhe, lächelte verschämt-gewalttätig und schnitt ihr weiteres Lob mit dem schrillen Ausruf ab: »Vorwärts zu Moosbrugger!«

»Aber es ist ja noch keiner da, der uns Einlaß verschafft...« ließ sich Siegmund vernehmen.

»Ich gehe nicht mit!« versicherte Walter fest.

»Ich darf keine Gefälligkeit von einem Staat der Freiheit und Gleichheit in jeder Preis- und Höhenlage in Anspruch nehmen!« erklärte Meingast.

»Dann muß uns Ulrich die Erlaubnis besorgen!« rief Clarisse aus.

Gerne stimmten die anderen dieser Entscheidung zu, durch die sie sich nach zweifellos schwerer Anstrengung bis auf weiteres beurlaubt fühlten, und selbst Walter mußte trotz seines Widerstrebens schließlich die Aufgabe übernehmen, vom nächsten Kaufmannsgeschäft den zur Hilfe ausersehenen Freund anzurufen. Als er es tat, geschah es, daß Ulrich in dem Brief, den er Agathe schreiben wollte, endgültig unterbrochen wurde. Erstaunt vernahm er Walters Stimme und hörte er die Botschaft. Man könne wohl verschieden darüber denken, fügte Walter aus eigenem hinzu, aber so gänzlich nur eine Laune sei es gewiß nicht. Vielleicht müsse man wirklich mit irgend etwas einen Anfang machen, und es sei weniger wichtig, womit. Natürlich bedeute auch das Auftreten der Person Moosbruggers in diesem Zusammenhang nur einen Zufall; aber Clarisse habe ja eine so merkwürdige Unmittelbarkeit; ihr Denken sehe immer aus wie die neuen Bilder, die in unvermischten reinen Farben gemalt seien, hart und ungefüge, aber wenn man auf diese Art eingeht, oft überraschend richtig. Er könne das am Telefon nicht ausreichend erklären; Ulrich möge ihn nicht im Stich lassen...

Ulrich war es willkommen, daß er abgerufen wurde, und er nahm die Aufforderung an, obwohl sich die Dauer des Weges in schlechtem Verhältnis zu der knappen Viertelstunde befand, die er mit Clarisse sollte reden können; denn diese war von ihren Eltern eingeladen, mit Walter und Siegmund zum Abendbrot zu erscheinen. Auf der Fahrt wunderte sich Ulrich darüber, daß er so lange nicht an Moosbrugger gedacht habe und immer erst durch Clarisse wieder an ihn erinnert werden müsse, obwohl dieser Mensch früher doch fast beständig in seinen Gedanken wiedergekehrt wäre. Selbst in dem Dunkel, durch das Ulrich von der Endstelle der Straßenbahn dem Haus seiner Freunde zuschritt, war jetzt kein Platz für solchen Spuk; eine Leere, worin er vorgekommen, hatte sich geschlossen. Ulrich nahm es mit Befriedigung zur Kenntnis und mit jener leisen Ungewißheit über sich selbst, die eine Folge von Veränderungen ist, deren Größe deutlicher ist als ihre Ursachen. Wohlgefällig durchschnitt er die lockere Finsternis mit dem festeren Schwarz seines eigenen Körpers, als ihm Walter unsicher entgegenkam, der sich in der einsamen Gegend fürchtete, aber gern ein paar Worte gesagt haben wollte, ehe sie zu den anderen stießen. Lebhaft setzte er seine Mitteilungen fort, wo sie abgebrochen worden waren. Er schien sich und dazu auch Clarisse gegen Mißdeutungen verteidigen zu wollen. Überall stoße man, wenn ihre Einfälle auch unzusammenhängend wirkten, dahinter auf einen Krankheitsstoff, der wirklich in der Zeit gäre; dies sei die wunderlichste Fähigkeit, die sie besäße. Sie sei wie eine Rute, die verborgenes Vorkommen anzeige. In diesem Fall die Notwendigkeit, daß man an die Stelle des passiven, bloß intellektuellen und sensiblen Verhaltens des Gegenwartsmenschen wieder »Werte« setzen müsse; die Intelligenz der Zeit habe nirgends mehr einen festen Punkt übrig gelassen, und da könne also nur noch der Wille, ja, wenn es nicht anders ginge, sogar nur die Gewalt, eine neue Rangordnung der Werte schaffen, in der der Mensch Anfang und Ende für sein Inneres finde...: er wiederholte zögernd und doch begeistert, was er von Meingast gehört hatte.

Ulrich, der das erriet, fragte ihn unwillig: »Warum drückst du dich denn so geschwollen aus? Das macht wohl euer Prophet? Früher hast du doch nicht genug an Einfachheit und Natürlichkeit haben können?!«

Walter litt es Clarissens wegen, damit der Freund nicht seine Hilfe verweigere; aber wenn bloß ein Strahl Licht in der mondlosen Nacht gewesen wäre, würde man seine Zähne aufblinken gesehn haben, die er ohnmächtig öffnete. Er erwiderte nichts, aber der zurückgehaltene Ärger machte ihn schwach und die Nähe des muskulösen Gefährten, der ihn gegen die etwas beängstigende Einsamkeit schützte, weich. Plötzlich sagte er: »Stell dir vor, daß du eine Frau liebst, und du triffst einen Mann, den du bewunderst, und erkennst, daß ihn auch deine Frau bewundert und liebt, und ihr fühlt nun beide mit Liebe, Eifersucht und Bewunderung die unerreichbare Überlegenheit dieses Mannes –«

»Das mag ich mir nicht vorstellen!« Ulrich hätte ihn anhören sollen, aber er wölbte lachend die Schulter, während er ihn unterbrach.

Walter blickte giftig in seiner Richtung. Er hatte fragen wollen: »Was tätest du in diesem Fall?« Aber das alte Spiel der Jugendfreunde wiederholte sich. Sie schritten durch die Halbhelle des Treppenflurs, und er rief aus: »Verstell dich nicht so: so bis zur Unempfindlichkeit eingebildet bist du doch gar nicht!« Und dann mußte er laufen, um Ulrich einzuholen und leise noch auf der Treppe von allem zu unterrichten, was er wissen müßte.

»Was hat dir Walter erzählt?« fragte oben Clarisse.

»Das kann ich schon tun,« gab Ulrich ohne Umschweife zur Antwort »aber ich bezweifle, daß es vernünftig ist.«

»Hörst du, sein erstes Wort ist ›vernünftig‹!?;« rief Clarisse lachend zu Meingast. Sie war in voller Fahrt zwischen Kleiderschrank, Waschtisch, Spiegel und der Tür, die halboffen ihr Zimmer mit dem verband, darin sich die Männer befanden. Von Zeit zu Zeit war sie zu sehn; mit nassem Gesicht und darüberhängendem Haar, mit hochgebürstetem Haar, mit nackten Beinen, in Strümpfen ohne Schuh, den Unterleib schon im langen Gesellschaftskleid, den Oberleib noch in einer Frisierjacke, die wie ein weißer Anstaltskittel aussah...: dieses Auf- und Abtauchen tat ihr wohl. Seit sie ihren Willen durchgesetzt hatte, waren alle ihre Gefühle in eine leichte Wollust getaucht. »Ich tanze auf Lichtseilen!« rief sie in das Zimmer hinein. Die Männer lächelten; nur Siegmund sah nach der Uhr und trieb geschäftsmäßig zur Eile. Er betrachtete das Ganze wie eine Turnübung.

Dann glitt Clarisse auf einem »Lichtstrahl« in die Zimmerecke, um eine Brosche zu holen, und feuerte die Lade des Nachtkästchens zu. »Ich ziehe mich rascher an als ein Mann!« rief sie ins Nebenzimmer zu Siegmund zurück, stockte aber plötzlich über dem Doppelsinn von »anziehen«, da es für sie in diesem Augenblick ebensowohl Ankleiden bedeutete wie das Anziehen geheimnisvoller Schicksale. Sie vollendete rasch ihre Kleidung, steckte ihren Kopf durch die Tür und sah mit ernstem Gesicht einen nach dem anderen ihrer Freunde an. Wer das nicht für einen Scherz hielt, hätte darüber erschrecken können, daß in diesem ernsten Antlitz etwas erloschen war, das zum Ausdruck eines gewöhnlichen, gesunden Gesichts gehört hätte. Sie verbeugte sich vor ihren Freunden und sagte feierlich: »Jetzt habe ich also mein Schicksal angezogen!«; aber als sie sich wieder aufrichtete, sah sie wie gewöhnlich aus, sogar sehr reizend, und ihr Bruder Siegmund rief: »Vorwärts, marsch! Papa hat es nicht gern, wenn man zu Tisch zu spät kommt!«

Als sie zu viert zur Straßenbahn gingen, Meingast war vor dem Abschied verschwunden, blieb Ulrich mit Siegmund etwas zurück und fragte ihn, ob ihm seine Schwester nicht in letzter Zeit Sorge mache. Siegmunds glimmende Zigarette beschrieb im Dunkel einen flach aufsteigenden Bogen. »Sie ist ohne Zweifel anomal« erwiderte er. »Aber ist Meingast normal? Oder selbst Walter? Ist Klavierspielen normal? Es ist ein ungewöhnlicher Erregungszustand, verbunden mit einem Tremor in den Hand- und Fußgelenken. Für einen Arzt gibt es nichts Normales. Aber wenn Sie mich ernst fragen: Meine Schwester ist etwas überreizt, und ich denke, daß sich das bessern wird, sobald der Großmeister abgereist sein wird. Was halten Sie von ihm?« Er betonte die beiden »wird« mit einer leichten Bosheit.

»Ein Schwätzer!« meinte Ulrich.

»Nicht wahr?!« rief Siegmund erfreut aus. »Widerwärtig, widerwärtig!«

»Aber als Denker interessant, das möchte ich doch nicht ganz leugnen!« fügte er nach einer Atempause nachträglich hinzu.


 << zurück weiter >>