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Heilige Gespräche. Wechselvoller Fortgang
Es lag in der Folge immer eine große Anzahl von Büchern auf dem Tisch, die er teils von zu Hause mitgebracht, teils nachher gekauft hatte, und er sprach bald frei, bald schlug er zum Beweis, oder weil er einen Ausspruch wörtlich wiedergeben wollte, in ihnen eine der vielen Stellen auf, die er durch eingesteckte Zettel gekennzeichnet hatte. Es waren zumeist Lebensbeschreibungen und persönliche Äußerungen von Mystikern, was er vor sich hatte, oder wissenschaftliche Arbeiten über sie, und gewöhnlich zweigte er mit den Worten »Laß uns einmal so nüchtern wie möglich nachsehn, was hier vor sich geht« das Gespräch davon ab. Das war eine vorsichtige Haltung, die er freiwillig nicht so leicht aufgab, und so sagte er denn auch einmal: »Wenn du diese Beschreibungen ganz durchlesen könntest, die Männer und Frauen vergangener Jahrhunderte vom Zustand ihrer Gottesergriffenheit hinterlassen haben, so würdest du finden, daß zwischen allen Buchstaben Wahrheit und Wirklichkeit ist, und doch würden die aus diesen Buchstaben gebildeten Behauptungen deinem Gegenwartswillen aufs äußerste widerstreben.« Und er fuhr fort: »Sie sprechen von einem überflutenden Glanz. Von einer unendlichen Weite, einem unendlichen Lichtreichtum. Von einer schwebenden ›Einheit‹ aller Dinge und Seelenkräfte. Von einem wunderbaren und unbeschreiblichen Aufschwung des Herzens. Von Erkenntnissen, die so schnell sind, daß alles zugleich ist, und wie Feuertropfen sind, die in die Welt fallen. Und anderseits sprechen sie von einem Vergessen und Nichtmehrverstehn, ja auch von einem Untergehn der Dinge. Sie sprechen von einer ungeheuren Ruhe, die den Leidenschaften entrückt ist. Einem Stummwerden. Einem Verschwinden der Gedanken und Absichten. Einer Blindheit, in der sie klar sehen, einer Klarheit, in der sie tot und übernatürlich lebendig sind. Sie nennen es ein ›Entwerden‹ und behaupten doch, in vollerer Weise zu leben als je: Sind das nicht, wenn auch von der Schwierigkeit des Ausdrucks flimmernd verhüllt, dieselben Empfindungen, die man noch heute hat, wenn zufällig das Herz – ›gierig und gesättigt‹, wie sie sagen! – in jene utopischen Regionen gerät, die sich irgend- und nirgendwo zwischen einer unendlichen Zärtlichkeit und einer unendlichen Einsamkeit befinden?!«
In die kleine Überlegungspause, die Ulrich machte, mischte sich die Stimme Agathes: »Es ist das, was du einmal zwei Schichten genannt hast, die in uns übereinander liegen.«
»Du bist ohne Ziel in die Stadt gegangen, und es war dir, als ob du in ihr aufgelöst würdest, aber zugleich hast du sie nicht mögen; und ich habe dir gesagt, daß es mir oft so ergeht.«
»O ja! Du hast sogar darauf ›Hagauer‹ gesagt!« rief Ulrich aus. »Und wir haben gelacht: jetzt erinnere ich mich wohl. Aber das haben wir nicht ganz wirklich gemeint. Ich habe dir ja auch sonst schon vom gebenden und vom nehmenden Sehen, vom männlichen und weiblichen Prinzip, vom Hermaphroditismus der Urphantasie und Ähnlichem erzählt: ich kann viel davon reden! Als wäre mein Mund so fern von mir wie der Mond, der auch immer zur Stelle ist, wenn man in der Nacht einen Vertrauten zum Schwätzen braucht! Aber was diese Frommen von den Abenteuern ihrer Seele erzählen,« fuhr er fort, wobei sich in die Bitterkeit seiner Worte wieder Sachlichkeit und auch Bewunderung mischte, »das ist zuweilen mit der Kraft und rücksichtslosen Überzeugung einer Stendhalschen Untersuchung geschrieben. Allerdings nur,« – schränkte er das ein – »solange sie rein bei den Erscheinungen bleiben und nicht sich ihr Urteil dareinmengt, das von der schmeichelhaften Überzeugung verfälscht wird, sie wären von Gott ausersehen worden, ihn unmittelbar zu erleben. Denn von diesem Augenblick an erzählen sie uns natürlich nicht mehr ihre schwer beschreiblichen Wahrnehmungen, in denen es keine Haupt- und keine Tätigkeitsworte gibt, sondern sprechen in Sätzen mit Subjekt und Objekt, weil sie an ihre Seele und an Gott wie an zwei Türpfosten glauben, zwischen denen sich das Wunderbare öffnen wird. Und so kommen sie zu diesen Aussagen, daß ihnen die Seele aus dem Leib gezogen und in den Herrn versenkt werde, oder daß der Herr in sie eindringe wie ein Liebhaber; sie werden von Gott gefangen, verschlungen, geblendet, geraubt, vergewaltigt, oder ihre Seele weitet sich zu ihm, dringt in ihn ein, kostet von ihm, umfaßt ihn mit Liebe und hört ihn sprechen. Das irdische Vorbild ist dabei ja unverkennbar; und diese Beschreibungen gleichen jetzt nicht mehr ungeheuren Entdeckungen, sondern bloß noch den etwas gleichförmigen Bildern, mit denen ein Liebespoet seinen Gegenstand ausschmückt, über den es nur eine Meinung geben darf: mich wenigstens, der ich zur Zurückhaltung erzogen bin, spannen diese Berichte auf die Folter, weil die Auserwählten gerade in dem Augenblick, wo sie versichern, daß Gott zu ihnen gesprochen habe oder daß sie die Reden der Bäume und Tiere verstanden hätten, es unterlassen, mir noch zu sagen, was ihnen mitgeteilt worden sei; und tun sie es einmal, so kommen bloß persönliche Angelegenheiten heraus oder bekannte kirchliche Nachrichten. Es ist ewig schade, daß keine exakten Forscher Gesichte haben!« schloß er seine lange Erwiderung.
»Meinst du, daß sie es könnten?« versuchte ihn Agathe.
Ulrich zögerte einen Augenblick. Dann antwortete er wie ein Bekenner:
»Ich weiß es nicht; vielleicht könnte es mir geschehen!« Als er seine Worte hörte, lächelte er, um sie wieder einzuschränken.
Auch Agathe lächelte; sie schien nun die Antwort zu haben, nach der es sie gelüstete, und ihr Gesicht spiegelte den kleinen Augenblick ratloser Enttäuschung wider, der auf das plötzliche Aufhören einer Spannung folgt. So erhob sie vielleicht nur deshalb Widerspruch, weil sie ihren Bruder von neuem antreiben wollte. »Du weißt,« erklärte sie »daß ich in einem sehr frommen Institut erzogen worden bin: die Folge davon ist, daß sich in mir eine Lust an der Karikatur meldet und einfach schändlich wird, sobald jemand von frommen Idealen spricht. Unsere Erzieherinnen haben ein Habit getragen, dessen zwei Farben ein Kreuz bildeten, und das erinnerte doch gewiß an einen der höchsten Gedanken, den wir auf diese Weise den ganzen Tag vor Augen haben sollten; aber wir haben keine Sekunde lang an ihn gedacht und nannten unsere Mütter bloß die Kreuzspinnen wegen ihres Aussehens und ihrer seidenweichen Reden. So war mir auch, während du vorgelesen hast, bald zum Weinen, bald zum Lachen zumute.«
»Weißt du, was das beweist?« rief Ulrich aus. »Doch nichts anderes, als daß die Kraft zum Guten, die auf irgendeine Weise wohl in uns vorhanden ist, sogleich die Wände durchfrißt, wenn man sie in eine feste Form einschließt, und durch das Loch sofort zum Bösen flieht! Das erinnert mich an die Zeit, wo ich Offizier war und mit meinen Kameraden Thron und Altar stützte: kein zweitesmal in meinem Leben habe ich so frei über diese beiden sprechen hören wie in unserem Kreis! Die Gefühle vertragen es nicht, angebunden zu werden, besonders aber gewisse Gefühle nicht. Ich bin überzeugt, daß eure braven Erzieherinnen selbst geglaubt haben, was sie euch predigten: aber Glaube darf nicht eine Stunde alt sein! Das ist es!«
Agathe begriff es selbst, obwohl sich Ulrich in Eile nicht zu seiner Zufriedenheit ausgedrückt hatte, daß der Glaube jener Nonnen, der ihr die Lust am Glauben genommen hatte, bloß etwas »Eingemachtes« gewesen sei. Zwar sozusagen in seiner eigenen Natur eingelegt und keiner Glaubenseigenschaft verlustig, aber trotzdem nicht frisch, ja in einer unnachweisbaren Art geradezu in einen anderen Zustand getreten als den ursprünglichen, der dem entlaufenen und widerspenstigen Zögling der Heiligkeit in diesem Augenblick wohl als Ahnung vorschwebte.
Es gehörte das mit allem anderen, was sie schon über Moral gesprochen hatten, zu den ergreifenden Zweifeln, die ihr Bruder in sie gesenkt hatte, und zu dem Zustand einer inneren Wiedererweckung, den sie seither fühlte, ohne sich über ihn klar geworden zu sein. Denn der Zustand der Indifferenz, den sie geflissentlich zur Schau trug und in sich begünstigte, hatte nicht immer ihr Leben beherrscht. Es hatte sich einmal etwas begeben, wobei dieses Bedürfnis nach Selbstbestrafung unmittelbar aus einer tiefen Niedergeschlagenheit hervorgegangen war, die sie als Unwürdige erscheinen ließ, weil sie es sich nicht vergönnt glaubte, hohen Empfindungen Treue zu halten, und sie verachtete sich seither wegen ihrer Herzensträgheit. Diese Begebenheit lag zwischen ihrem Leben als Mädchen im Hause ihres Vaters und der unverständlichen Heirat mit Hagauer und war so schmal begrenzt, daß es selbst der Teilnahme Ulrichs bisher entgangen war, nach ihr zu fragen. Was da geschah, ist bald erzählt: Agathe hatte mit achtzehn Jahren einen Mann geheiratet, der nur um wenig älter war als sie selbst, und auf einer Reise, die mit ihrer Hochzeit begann und mit seinem Tode endete, wurde er ihr, ehe sie auch nur ihren zukünftigen Wohnsitz gewählt hatten, binnen einigen Wochen durch eine Krankheit wieder entrissen, die ihn unterwegs angesteckt hatte. Die Ärzte nannten das Typhus, und Agathe sprach es ihnen nach und fand darin einen Schein von Ordnung, denn das war nun die zum Weltgebrauch platt geschliffene Seite des Geschehnisses; aber auf der unabgeschliffenen war dieses anders: Agathe hatte bis dahin neben ihrem Vater gelebt, den alle Welt achtete, so daß sie zweifelnd annahm, sie tue Unrecht, wenn sie ihn nicht liebe, und das ungewisse Harren im Institut auf sich selbst hatte durch das Mißtrauen, das es in ihr erweckte, ihre Beziehung zur Welt auch nicht gefestigt; später dagegen, als sie mit plötzlich erwachter Lebendigkeit und in gemeinsamer Anstrengung mit dem Jugendgespielen in wenigen Monaten alle Hindernisse überwand, die einer Heirat aus ihrer beider Jugend erwuchsen, obwohl die Familien der Liebesleute gegen einander nichts einzuwenden hatten, war sie mit einemmal nicht mehr vereinsamt gewesen und gerade dadurch sie selbst. Das ließ sich nun also wohl Liebe nennen; aber es gibt Verliebte, die in die Liebe wie in die Sonne blicken, sie werden bloß blind, und es gibt Verliebte, die das Leben zum ersten Mal staunend erblicken, wenn es von der Liebe beleuchtet wird: zu diesen gehörte Agathe und hatte noch gar nicht gewußt, ob sie ihren Gefährten oder etwas anderes liebe, als schon das kam, was in der Sprache unbeschienener Welt Infektionskrankheit hieß. Es war ein urplötzlich hereinbrechender Sturm von Grauen aus den fremden Gebieten des Lebens, ein Wehren, Flackern und Verlöschtwerden, die Heimsuchung zweier sich aneinander klammernder Menschen und der Untergang einer arglosen Welt in Erbrechen, Kot und Angst.
Agathe hatte dieses Geschehnis, das ihre Gefühle vernichtete, niemals anerkannt. Verwirrt von Verzweiflung, hatte sie vor dem Bett des Sterbenden auf den Knien gelegen und sich eingeredet, daß sie die Kraft wieder heraufzubeschwören vermöchte, mit der sie als Kind ihre eigene Krankheit überwunden habe; als der Verfall trotzdem fortschritt und schon das Bewußtsein geschwunden war, hatte sie, in den Zimmern eines fremden Hotels, unfähig zu verstehen, in das verlassene Gesicht gestarrt, hatte den Sterbenden ohne Achtung der Gefahr mit den Armen umfaßt gehalten und ohne Achtung der Wirklichkeit, für die eine empörte Pflegerin sorgte, nichts getan als ihm stundenlang ins ertaubende Ohr gemurmelt: »du darfst nicht, du darfst nicht, du darfst nicht!« Als alles vorbei war, war sie aber erstaunt aufgestanden, und ohne etwas Besonderes zu glauben und zu denken, bloß aus der Traumfähigkeit und Eigenwilligkeit einer einsamen Natur behandelte sie von dem Augenblick dieses leeren Staunens an das Geschehene innerlich so, wie wenn es nicht endgültig wäre. Einen Ansatz zu Ähnlichem zeigt ja wohl jeder Mensch schon, wenn er eine Unglücksbotschaft nicht glauben will oder Unwiderrufliches tröstlich färbt; das Besondere im Verhalten Agathens war aber die Stärke und Ausdehnung dieser Rückwirkung, ja eigentlich ihre plötzlich ausbrechende Mißachtung der Welt. Neues nahm sie seitdem geflissentlich nur noch so auf, als ob es weniger das Gegenwärtige als etwas höchst Ungewisses wäre, ein Verhalten, das ihr durch das Mißtrauen, das sie der Wirklichkeit seit je entgegengebracht hatte, sehr erleichtert wurde; das Gewesene dagegen war unter dem erlittenen Stoß erstarrt und wurde viel langsamer von der Zeit abgetragen, als es sonst mit Erinnerungen geschieht. Das hatte aber nichts von dem Schwalch der Träume, den Einseitigkeiten und schiefen Verhältnissen an sich, die den Arzt herbeirufen; Agathe lebte im Gegenteil äußerlich durchaus klar, anspruchslos tugendhaft und bloß ein wenig gelangweilt weiter, in einer leichten Gehobenheit des Lebensunwillens, die nun wirklich dem Fieber ähnlich war, woran sie als Kind so merkwürdig freiwillig gelitten hatte. Und daß in ihrem Gedächtnis, das ohnehin niemals seine Eindrücke leicht in Allgemeines auflöste, nun das Gewesene und Fürchterliche Stunde um Stunde gegenwärtig blieb wie ein Leichnam, der in ein weißes Tuch gehüllt ist, das beseligte sie trotz aller Qual, die mit solcher Genauigkeit der Erinnerung verbunden war, denn es wirkte ebenso wie eine geheimnisvoll verspätete Andeutung, daß noch nicht alles vorbei sei, und bewahrte ihr im Verfall des Gemüts eine ungewisse, aber edelmütige Spannung. In Wahrheit lief freilich alles das nur darauf hinaus, daß sie wieder den Sinn ihres Daseins verloren hatte und sich mit Willen in einen Zustand versetzte, der nicht zu ihren Jahren paßte; denn nur alte Menschen leben so, daß sie bei den Erfahrungen und Erfolgen einer vergangenen Zeit verharren und vom Gegenwärtigen nicht mehr berührt werden. Zu Agathens Glück faßt man aber in dem Alter, worin sie sich damals befand, seine Vorsätze wohl für die Ewigkeit, doch wiegt ein Jahr dafür beinahe schon wie eine halbe, und so konnte es ihr auch nicht daran fehlen, daß sich nach einiger Zeit die unterdrückte Natur und die gefesselte Phantasie gewaltsam befreiten. Wie das geschah, war in seinen Einzelheiten recht gleichgültig; einem Mann, dessen Bemühungen unter anderen Umständen wohl nie vermocht hätten, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, gelang es, er wurde ihr Geliebter, und dieser Versuch einer Wiederholung endete nach einer sehr kurzen Zeit fanatischer Hoffnung in leidenschaftlicher Ernüchterung. Agathe fühlte sich nun von ihrem wirklichen wie von ihrem unwirklichen Leben ausgespien und unwürdig hoher Vorsätze. Sie gehörte zu jenen heftigen Menschen, die sich sehr lange reglos und abwartend verhalten können, bis sie an irgend einer Stelle mit einemmal in alle Verwirrungen geraten, und faßte darum in ihrer Enttäuschung bald einen neuen, unüberlegten Entschluß, der, in Kürze gesagt, darin bestand, daß sie sich in entgegengesetzter Weise bestrafte, als sie gesündigt hatte, indem sie sich dazu verurteilte, das Leben mit einem Mann zu teilen, der ihr einen leichten Widerwillen einflößte. Und dieser Mann, den sie sich zur Strafe ausgesucht hatte, war Hagauer.
»Das war nun freilich weder gerecht, noch rücksichtsvoll gegen ihn gehandelt!« gestand sich Agathe ein, und es muß zugegeben werden, daß es sogar in diesem Augenblick zum ersten Mal geschah, denn Gerechtigkeit und Rücksicht sind bei jungen Leuten keine beliebten Tugenden. Immerhin war auch ihre »Selbstbestrafung« in diesem Zusammenleben keine unbeträchtliche gewesen, und Agathe prüfte nun diese Angelegenheit weiter. Sie war fernab gekommen, und auch Ulrich suchte irgend etwas in seinen Büchern und hatte scheinbar vergessen, das Gespräch fortzuführen. »In früheren Jahrhunderten« dachte sie »wäre ein Mensch in meiner Stimmung in ein Kloster eingetreten« – und daß sie statt dessen geheiratet hatte, war nicht frei von einer unschuldigen Komik, die ihr bisher entgangen war. Diese Komik, die ihr jugendlicher Sinn nicht früher bemerkt hatte, war allerdings keine andere als die der gegenwärtigen Zeit, die das Bedürfnis nach Weltflucht schlimmstenfalls in einem Touristengasthof, gewöhnlich aber in einem Alpenhotel befriedigt und sogar das Bestreben hat, die Strafanstalten nett zu möblieren. Es spricht daraus das tiefe europäische Bedürfnis, nichts zu übertreiben. Kein Europäer geißelt sich, beschmiert sich mit Asche, schneidet sich die Zunge ab, gibt sich wirklich hin oder zieht sich auch nur von allen Menschen zurück, vergeht vor Leidenschaft, rädert oder spießt heute noch; aber jeder hat zuweilen das Bedürfnis danach, so daß es schwer zu sagen ist, worin eigentlich das Vermeidenswerte liege, ob im Wünschen oder im Nichttun. Warum sollte also gerade ein Asket hungern; das bringt ihn nur auf störende Einbildungen?! Eine vernünftige Askese besteht in der Abneigung gegen das Essen bei ständig gut unterhaltener Ernährung! Eine solche Askese verspricht Dauer und erlaubt dem Geist jene Freiheit, die er nicht hat, wenn er in leidenschaftlicher Auflehnung vom Körper abhängig ist! Solche bitter-lustige Erklärungen, die sie von ihrem Bruder gelernt hatte, taten Agathe nun kräftig wohl, denn sie zerlegten das »Tragische«, woran starr zu glauben ihrer Unerfahrenheit lange wie eine Verpflichtung vorgekommen war, in Ironie und eine Leidenschaft, die weder einen Namen, noch ein Ziel hatte und schon darum keineswegs mit dem abgeschlossen war, was sie erlebt hatte.
Auf diese Weise machte sie überhaupt, seit sie mit ihrem Bruder beisammen war, die Wahrnehmung, daß in die große Spaltung zwischen verantwortungslosem Leben und gespenstischer Phantasie, die sie erlitten hatte, eine erlösende und das Gelöste von neuem bindende Bewegung kam. Sie besann sich zum Beispiel jetzt während des durch Bücher und Erinnerungen vertieften Schweigens, das zwischen ihr und ihrem Bruder herrschte, auf die Beschreibung, die ihr Ulrich davon gegeben hatte, wie er ziellos gehend durch die Stadt gedrungen und dabei von der Stadt durchdrungen worden sei: es erinnerte sehr genau an die wenigen Wochen ihres Glücks; und es war auch richtig, daß sie gelacht hatte, ja sie hatte ganz unbegründet und unsinnig gelacht, als er ihr das erzählte, weil sie bemerkte, daß etwas von diesem Verkehren der Welt, diesem seligen und komischen Umstülpen, von dem er sprach, selbst in den wulstigen Lippen Hagauers war, wenn sie sich zum Kuß wölbten. Freilich als Schauer; aber ein Schauer, dachte sie, ist auch im hellen Licht des Mittags, und irgendwie hatte sie daran gefühlt, daß noch nicht alle Möglichkeiten für sie vorbei wären. Irgendein Nichts, eine Unterbrechung, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart immer gelegen hatte, war in letzter Zeit fortgeflogen. Sie sah heimlich um sich. Das Zimmer, worin sie sich befand, hatte einen Teil der Räume gebildet, in denen ihr Schicksal entstanden war; daran dachte sie jetzt, solange sie hier war, zum ersten Mal. Denn hier war sie, wenn sie den Vater aus dem Haus wußte, mit ihrem Jugendgespielen zusammengekommen, als sie den großen Beschluß faßten einander zu lieben, hier hatte sie manchmal auch den »Unwürdigen« empfangen, war mit verstohlenen Tränen der Wut oder der Verzweiflung an den Fenstern gestanden, und hier hatte sich schließlich, väterlich gefördert, auch die Bewerbung Hagauers abgespielt. So lange bloß unbeachtete Rückseite der Geschehnisse, wurden die Möbel, Wände, das eigentümlich eingeschlossene Licht nun im Augenblick des Wiedererkennens wunderlich handfest, und das abenteuerlich darin Vergangene bildete eine so körperliche, gar nicht mehr zweideutige Vergangenheit, als wäre es Asche oder verkohltes Holz. Nur noch das komisch-schattenhafte Gefühl des Gewesenen, dieser wunderliche Kitzel, den man angesichts alter, zu Staub vertrockneter Spuren seiner selbst fühlt und im Augenblick, wo man ihn fühlt, weder verscheuchen, noch fassen kann, war zurückgeblieben und wurde fast unerträglich stark.
Agathe vergewisserte sich, daß Ulrich nicht auf sie achte, und öffnete vorsichtig ihr Kleid an der Brust, wo sie auf der Haut die Kapsel mit dem kleinen Bild verwahrte, das sie durch Jahre nicht von sich gelassen hatte. Sie ging ans Fenster und tat als sähe sie hinaus. Behutsam ließ sie den scharfen Rand der winzigen goldenen Auster aufspringen und betrachtete verstohlen ihren toten Geliebten. Er hatte volle Lippen und weiches, dichtes Haar, und der kecke Blick des Zwanzigjährigen sprang aus einem Gesicht, das noch halb in der Eischale stak. Sie wußte lange nicht, was sie dachte, aber mit einem Mal dachte sie: »Mein Gott, ein einundzwanzigjähriger Mensch!«
Was sprechen so junge Leute miteinander? Welche Bedeutung geben sie ihren Angelegenheiten? Wie komisch und anmaßend sind sie oft! Wie täuscht sie die Lebhaftigkeit ihrer Einfälle über deren Wert! Agathe wickelte neugierig alte Aussprüche aus Seidenpapier der Erinnerung, die sie als wunder wie klug darin aufbewahrt hatte: Mein Gott, das war ja beinahe bedeutend, dachte sie; aber eigentlich ließ sich selbst das nicht mit Sicherheit behaupten, wenn man sich nicht den Garten vorstellte, worin es gesprochen worden war, mit den sonderbaren Blumen, deren Bezeichnung sie nicht wußten, den Schmetterlingen, die sich wie müde Trunkenbolde auf jene setzten, und dem Licht, das über ihre Gesichter floß, als ob Himmel und Erde darin aufgelöst wären. Wenn sie sich daran maß, so war sie heute eine alte und erfahrene Frau, obwohl die Zahl der vergangenen Jahre nicht gar groß war, und sie bemerkte ein wenig verwirrt das Mißverhältnis, daß sie, die Siebenundzwanzigjährige, bis jetzt noch den Zwanzigjährigen geliebt hatte: er war viel zu jung für sie geworden! Sie fragte sich: »Welche Gefühle müßte ich eigentlich haben, wenn mir, in meinem Alter, dieser knabenhafte Mann wirklich das Wichtigste sein sollte?!« Es wären wohl recht sonderbare Gefühle gewesen; sie bedeuteten ihr nichts, sie vermochte sich nicht einmal eine deutliche Vorstellung von ihnen zu bilden. Eigentlich löste sich alles in nichts auf.
Agathe anerkannte in einer großen, schwellenden Empfindung, daß sie in der einzigen stolzen Leidenschaft ihres Lebens einem Irrtum erlegen war, und der Kern dieses Irrtums bestand aus einem feurigen Nebel, der sich nicht berühren und fassen ließ, mochte man nun sagen, daß Glauben nicht eine Stunde alt werden dürfe, oder es anders nennen; und immer war es das, wovon ihr Bruder sprach, seit sie beisammen waren, und immer war es sie selbst, von der er sprach, auch wenn er allerhand begriffliche Umstände machte und seine Vorsicht für ihre Ungeduld oft viel zu langsam war. Sie kamen immer wieder auf das gleiche Gespräch zurück, und Agathe brannte selbst vor Verlangen, daß sich seine Flamme nicht verkleinere.
Als sie nun Ulrich ansprach, hatte er die lange Dauer der Unterbrechung gar nicht bemerkt. Aber wer das, was zwischen diesen Geschwistern vorging, nicht schon an Spuren erkannt hat, lege den Bericht fort, denn es wird darin ein Abenteuer beschrieben, das er niemals wird billigen können: eine Reise an den Rand des Möglichen, die an den Gefahren des Unmöglichen und Unnatürlichen, ja des Abstoßenden vorbei, und vielleicht nicht immer vorbei führte; ein »Grenzfall«, wie das Ulrich später nannte, von eingeschränkter und besonderer Gültigkeit, an die Freiheit erinnernd, mit der sich die Mathematik zuweilen des Absurden bedient, um zur Wahrheit zu gelangen. Er und Agathe gerieten auf einen Weg, der mit dem Geschäfte der Gottergriffenen manches zu tun hatte, aber sie gingen ihn, ohne fromm zu sein, ohne an Gott oder Seele, ja ohne auch nur an ein Jenseits und Nocheinmal zu glauben; sie waren als Menschen dieser Welt auf ihn geraten und gingen ihn als solche: und gerade das war das Beachtenswerte. Ulrich, der in dem Augenblick, wo ihn Agathe wieder anredete, noch von seinen Büchern und den Fragen, die sie ihm aufgaben, in Anspruch genommen war, hatte trotzdem das Gespräch, das beim Widerstand seiner Schwester gegen die Frömmigkeit ihrer Lehrerinnen und seiner eigenen Forderung »exakter Gesichte« abgebrochen war, nicht für die kürzeste Zeit aus dem Gedächtnis verloren und erwiderte sogleich: »Man braucht durchaus kein Heiliger zu sein, um etwas davon zu erleben! Man kann auch auf einem umgestürzten Baum oder einer Bank im Gebirge sitzen und einer weidenden Rinderherde zusehn und schon dabei nichts Geringeres mitmachen, als wäre man mit einemmal in ein anderes Leben versetzt! Man verliert sich und kommt mit einemmal zu sich: du hast ja selbst schon davon gesprochen!«
»Aber was geht da vor sich?« fragte Agathe.
»Dazu mußt du dir vorerst klar machen, was das Gewöhnliche ist, Schwester Mensch!« erklärte Ulrich mit einem Versuch, den allzu rasch mitreißenden Gedanken durch einen Scherz zu bremsen. »Das Gewöhnliche ist, daß uns eine Herde nichts bedeutet als weidendes Rindfleisch. Oder sie ist ein malerischer Gegenstand mit Hintergrund. Oder man nimmt überhaupt kaum Kenntnis von ihr. Rinderherden an Gebirgswegen gehören zu den Gebirgswegen, und was man in ihrem Anblick erlebt, würde man erst merken, wenn an ihrer Stelle eine elektrische Normaluhr oder ein Zinshaus dastünde. Ansonsten überlegt man, ob man aufstehn oder sitzenbleiben soll; man findet die Fliegen lästig, von denen die Herde umschwärmt wird; man sieht nach, ob ein Stier unter ihr ist; man überlegt, wo der Weg weiterführt: das sind unzählige kleine Absichten, Sorgen, Berechnungen und Erkenntnisse, und sie bilden gleichsam das Papier, auf dem das Bild der Herde steht. Man weiß nichts von dem Papier, man weiß nur von der Herde darauf –«
»Und plötzlich zerreißt das Papier!« fiel Agathe ein.
»Ja. Das heißt: irgendeine gewohnheitsmäßige Verwebung in uns zerreißt. Nichts Eßbares grast dann mehr; nichts Malbares; nichts versperrt dir den Weg. Du kannst nicht einmal mehr die Worte grasen oder weiden bilden, weil dazu eine Menge zweckvoller, nützlicher Vorstellungen gehört, die du auf einmal verloren hast. Was auf der Bildfläche bleibt, könnte man am ehesten ein Gewoge von Empfindungen nennen, das sich hebt und senkt oder atmet und gleißt, als ob es ohne Umrisse das ganze Gesichtsfeld ausfüllte. Natürlich sind darin auch noch unzählige einzelne Wahrnehmungen enthalten, Farben, Hörner, Bewegungen, Gerüche und alles, was zur Wirklichkeit gehört: aber das wird bereits nicht mehr anerkannt, wenn es auch noch erkannt werden sollte. Ich möchte sagen: die Einzelheiten besitzen nicht mehr ihren Egoismus, durch den sie unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, sondern sie sind geschwisterlich und im wörtlichen Sinn ›innig‹ untereinander verbunden. Und natürlich ist auch keine ›Bildfläche‹ mehr da, sondern irgendwie geht alles grenzenlos in dich über.«
Nun übernahm wieder Agathe lebhaft die Beschreibung: »Jetzt brauchst du bloß statt Egoismus der Einzelheiten Egoismus der Menschen zu sagen,« rief sie aus »so ist es das, was man so schwer ausdrücken kann: ›Liebe deinen Nächsten!‹ heißt nicht, liebe ihn so, wie ihr seid, sondern es bezeichnet eine Art Traumzustand!«
»Alle Sätze der Moral« bestätigte Ulrich »bezeichnen eine Art Traumzustand, der aus den Regeln, in die man ihn faßt, bereits entflohen ist!«
»Eigentlich gibt es dann gar kein Gut und Bös, sondern nur Glaube – oder Zweifel!« rief Agathe aus, der jetzt der sich selbst tragende ursprüngliche Zustand des Glaubens so nahe zu sein schien und ebenso sein Verlust in der Moral, von dem ihr Bruder gesprochen hatte, als er sagte, Glaube könne nicht eine Stunde alt werden.
»Ja, es steht in dem Augenblick, wo man dem unwesentlichen Leben entschlüpft, alles in einer neuen Beziehung zu einander« stimmte Ulrich bei. »Fast möchte ich sagen, in gar keiner Beziehung. Denn sie ist eine gänzlich unbekannte, über die wir keinerlei Erfahrung haben, und alle anderen Beziehungen sind verlöscht; aber diese eine ist trotz ihrer Dunkelheit so deutlich, daß man sie nicht leugnen kann. Sie ist stark, aber sie ist unfaßbar stark. Man möchte auch sagen: Gewöhnlich blickt man etwas an, und der Blick ist wie ein Stäbchen oder ein gespannter Faden, woran sich Auge und Anblick gegenseitig stützen, und irgendein großes Gewirk von solcher Art stützt jede Sekunde; wogegen jetzt in dieser einen eher etwas Schmerzlich-Süßes die Augenstrahlen auseinanderzieht.«
»Man besitzt nichts auf der Welt, man hält nichts mehr fest, man wird von nichts festgehalten« sagte Agathe. »Es ist alles wie ein hoher Baum, an dem sich kein Blatt regt. Und man kann nichts Niedriges tun in diesem Zustand.«
»Man sagt, es könne in diesem Zustand nichts geschehn, was nicht mit ihm übereinstimmte« ergänzte Ulrich. »Ein Verlangen ›ihm anzugehören‹ ist der einzige Grund, die liebevolle Bestimmung und die einzige Form alles Tun und Denkens, die in ihm statthaben. Er ist etwas unendliches Ruhendes und Umfassendes, und alles, was in ihm geschieht, mehrt seine ruhig steigende Bedeutung; oder es mehrt sie nicht, dann ist es das Schlechte, aber das Schlechte kann nicht geschehn, weil im gleichen Augenblick die Stille und Klarheit zerreißt und der wunderbare Zustand aufhört.« Ulrich sah seine Schwester prüfend an, ohne daß sie es merken sollte; er hatte doch immer das Gefühl, man müßte jetzt bald aufhören. Aber Agathes Gesicht war verschlossen; sie dachte an lang Vergangenes. Sie antwortete: »Ich wundere mich über mich selbst, aber es hat wirklich eine kurze Zeit gegeben, wo ich Neid, Bosheit, Eitelkeit, Habsucht und ähnliches nicht kannte; es ist kaum noch zu glauben, aber mir kommt vor, sie wären damals mit einem Schlag nicht nur aus dem Herzen, sondern auch aus der Welt verschwunden gewesen! Man kann sich dann nicht bloß selbst nicht niedrig verhalten, sondern auch die anderen können es nicht. Ein guter Mensch macht alles gut, was mit ihm in Berührung kommt, die anderen mögen gegen ihn unternehmen, was sie wollen: in dem Augenblick, wo es in seinen Bereich eintritt, wird es von ihm verändert!«
»Nein,« fiel Ulrich ein »ganz so ist es nicht; im Gegenteil wäre es so eins der ältesten Mißverständnisse! Denn ein guter Mensch macht die Welt nicht im geringsten gut, er bewirkt überhaupt nichts an ihr, er sondert sich nur von ihr ab!«
»Er bleibt doch mitten in ihr!?«
»Er bleibt mitten in ihr, doch ist ihm so, als ob der Raum aus den Dingen gezogen würde oder irgend etwas Imaginäres geschähe: es ist das schwer zu sagen!«
»Ich habe trotzdem die Vorstellung, daß einem ›hochgemuten‹ Menschen – das Wort fällt mir nur so ein! – niemals etwas Niedriges in den Weg tritt; das mag ein Unsinn sein, aber es ist eine Erfahrung.«
»Es mag eine Erfahrung sein,« entgegnete Ulrich »aber es gibt auch die entgegengesetzte Erfahrung! Oder glaubst du, daß die Soldaten, die Jesus gekreuzigt haben, nicht niedrig fühlten? Und dabei waren sie Werkzeuge Gottes! Überdies gibt es selbst nach den Zeugnissen der Ekstatiker schlechte Gefühle: sie klagen, daß sie aus dem Stand der Gnade fallen und dann eine unsägliche Unlust empfinden, sie kennen Angst, Pein und Scham und vielleicht sogar Haß. Nur wenn das stille Brennen wieder beginnt, werden Reue, Zorn, Angst und Pein selig. Über all das ist so schwer zu urteilen!«
»Wann warst du so verliebt?« fragte Agathe unvermittelt.
»Ich? Oh! Ich habe dir das doch schon erzählt: ich war tausend Kilometer von der Geliebten fort geflohen, und als ich mich sicher jeder Möglichkeit ihrer wirklichen Umarmung fühlte, heulte ich sie an wie der Hund den Mond!«
Nun gestand ihm Agathe die Geschichte ihrer Liebe ein. Sie war erregt. Schon ihre letzte Frage hatte sie losgeschnellt wie eine übermäßig gespannte Saite, und das übrige folgte in der gleichen Weise. Ihr Inneres zitterte, als sie das jahrelang Verhohlene freigab.
Ihr Bruder war aber nicht sonderlich erschüttert davon. »Gewöhnlich altern die Erinnerungen zugleich mit den Menschen,« erklärte er ihr »und die leidenschaftlichsten Vorgänge werden mit der Zeit perspektivisch-komisch, als ob man sie am Ende von neunundneunzig hintereinander geöffneten Türen sähe. Aber manchmal, wenn sie mit sehr starken Gefühlen verknüpft waren, altern einzelne Erinnerungen nicht und halten ganze Schichten des Wesens bei sich fest. Das war dein Fall. Beinahe in jedem Menschen gibt es solche Punkte, die das psychische Ebenmaß ein wenig entstellen; sein Verhalten strömt so über sie hin wie ein Fluß über einen unsichtbaren Felsblock, und bei dir ist das bloß sehr stark gewesen, so daß es fast einem Stillstand gleichkam. Aber schließlich hast du dich dann doch befreit, du bist wieder in Bewegung!«
Er erklärte das mit der Ruhe eines fast beruflichen Denkens; er war leicht abzubringen! Agathe war unglücklich. Sie sagte eigensinnig: »Natürlich bin ich in Bewegung, aber davon spreche ich doch nicht! Ich will wissen, wohin ich damals beinahe gelangt wäre!« Sie war auch ärgerlich, ohne es zu wollen, bloß weil sich ihre Erregung irgendwie ausdrücken mußte; aber sie sprach trotzdem in der ursprünglichen Richtung ihrer Bewegung weiter, und es war ihr ganz schwindlig zu Mute zwischen der Zärtlichkeit ihrer Worte und dem Ärger im Hintergrund. So erzählte sie von dem eigentümlichen Zustand einer gesteigerten Empfänglichkeit und Empfindlichkeit, der ein Überquellen und Zurückquellen der Eindrücke bewirkt, woraus das Gefühl entsteht, wie in dem weichen Spiegel einer Wasserfläche mit allen Dingen verbunden zu sein und ohne Willen zu geben und zu empfangen; dieses wunderbare Gefühl der Entgrenzung und Grenzenlosigkeit des Äußeren wie des Inneren, das der Liebe und der Mystik gemeinsam ist! Agathe tat es natürlich nicht in solchen Worten, die schon eine Erklärung einschließen, sondern sie reihte bloß leidenschaftliche Bruchstücke ihrer Erinnerung aneinander; aber auch Ulrich, obwohl er schon oft darüber nachgedacht hatte, war keiner Erklärung dieser Erlebnisse mächtig, ja er wußte vor allem nicht, ob er eine solche in deren eigener Weise oder nach dem gewöhnlichen Verfahren der Vernunft versuchen solle, was ihm beides gleich nahe lag, nicht aber der fühlbaren Leidenschaft seiner Schwester. Was er in der Erwiderung ausdrückte, war darum bloß eine Vermittlung, eine Art Prüfung der Möglichkeiten. Er wies auf die merkwürdige Verwandtschaft hin, die in dem gehobenen Zustand, von dem sie sprächen, zwischen Denken und Moral bestehe, so daß jeder Gedanke als Glück, Ereignis und Geschenk empfunden werde und weder in die Vorratskammern wandere, noch sich überhaupt mit den Gefühlen des Aneignens und Bewältigens, des Festhaltens und Beobachtens verbinde, wodurch im Kopf nicht minder als im Herz der Genuß am Besitz seiner selbst durch ein grenzenloses sich Verschenken und Verschränken ersetzt werde. »Einmal im Leben« antwortete Agathe darauf schwärmerisch entschieden »geschieht alles, was man tut, für einen anderen. Man sieht für ihn die Sonne scheinen. Er ist überall, und selbst ist man nirgends. Und doch ist das kein ›Egoismus zu zweien‹, denn dem anderen muß es genau so gehn. Zuletzt sind beide kaum noch für einander da, und was übrig bleibt, ist eine Welt für lauter zwei Menschen, die aus Anerkennung, Hingabe, Freundschaft und Selbstlosigkeit besteht!«
Im Dunkel des Zimmers glühte ihre Wange vor Eifer wie eine Rose, die im Schatten steht. Und Ulrich bat: »Laß uns jetzt wieder nüchterner reden; in diesen Fragen wird viel zu viel Schwindel getrieben!« Da kam ihr auch das nicht unrichtig vor. Vielleicht machte es der Ärger, der noch immer nicht ganz verflogen war, daß ihre Entzückung von der hinzugerufenen Wirklichkeit etwas zurückgedrängt wurde; aber es war keine unangenehme Empfindung, dieses unsichere Zittern der Grenze.
Ulrich begann von dem Unfug zu sprechen, die Erlebnisse, denen ihr Gespräch galt, so auszulegen, als fände in ihnen nicht bloß eine eigentümliche Veränderung des Denkens statt, sondern es träte ein übermenschliches Denken an die Stelle des gewöhnlichen. Ob man es göttliche Erleuchtung nennte oder nach der Mode der Neuzeit bloß Intuition, er hielt es für das Haupthindernis wirklichen Verstehens. Nach seiner Überzeugung war nichts dadurch zu gewinnen, daß man Einbildungen nachgab, die einer überlegten Nachprüfung nicht standhielten. Das sei nur wie die Wachsflügel des Ikaros, die in der Höhe zerschmelzen, rief er aus; wolle man nicht bloß im Traum fliegen, dann müsse man es auf Metallflügeln erlernen.
Und auf die Bücher weisend, fuhr er nach einer kleinen Weile fort: »Das sind christliche, jüdische, indische und chinesische Zeugnisse; zwischen einzelnen von ihnen liegt mehr als ein Jahrtausend. Trotzdem erkennt man in allen den gleichen vom gewöhnlichen abweichenden, aber in sich einheitlichen Aufbau der inneren Bewegung. Sie unterscheiden sich von einander fast genau nur um das, was von der Verbindung mit einem Lehrgebäude der Theologie und Himmelsweisheit herrührt, unter dessen schützendes Dach sie sich begeben haben. Wir dürfen also einen bestimmten zweiten und ungewöhnlichen Zustand von großer Wichtigkeit voraussetzen, dessen der Mensch fähig ist und der ursprünglicher ist als die Religionen.
Anderseits haben die Kirchen,« schränkte er es ein »das heißt die zivilisierten Gemeinschaften religiöser Menschen, diesen Zustand stets mit einem ähnlichen Mißtrauen behandelt, wie es ein Bürokrat der privaten Unternehmungslust entgegenbringt. Sie haben dieses schwärmende Erleben niemals ohne Vorbehalt anerkannt, im Gegenteil, sie haben große und anscheinend berechtigte Anstrengungen darauf gerichtet, an seine Stelle eine geregelte und verständliche Moral zu setzen. So gleicht die Geschichte dieses Zustands einer fortschreitenden Verleugnung und Verdünnung, die an die Trockenlegung eines Sumpfes erinnert.
Und als das kirchliche Geistesregiment« schloß er »und sein Wortschatz veralteten, ist man begreiflicherweise dazu gekommen, unseren Zustand überhaupt nur noch für ein Hirngespinst zu halten. Warum hätte die bürgerliche Kultur, als sie an die Stelle der religiösen trat, religiöser sein sollen als diese?! Sie hat jenen anderen Zustand auf den Hund gebracht, der Erkenntnisse apportiert. Es gibt heute eine Menge Menschen, die sich über die Vernunft beklagen und uns einreden möchten, daß sie in ihren weisesten Augenblicken mit Hilfe einer besonderen, über dem Denken stehenden Fähigkeit dächten: das ist ein letzter, selbst schon ganz und gar rationalistischer, öffentlicher Rest; der letzte Rest der Trockenlegung ist Quatsch geworden! Also gestattet man den alten Zustand außer in Gedichten nur ungebildeten Personen in den ersten Wochen der Liebe als eine vorübergehende Verwirrung; das sind sozusagen verspätete grüne Blätter, die zuweilen am Holz der Betten und Katheder ausschlagen: wo er aber in sein ursprüngliches großes Wachstum zurückfallen möchte, wird er unnachsichtlich abgegraben und ausgerodet!«
Ulrich hatte ungefähr so lange gesprochen, wie sich ein Chirurg die Hände und Arme wäscht, um keine Keime ins Operationsfeld zu tragen; auch mit der Geduld, der Hingabe und dem Gleichmut, die in Widerspruch stehn zu der Aufregung, welche die bevorstehende Arbeit bringen wird. Nachdem er sich aber ganz sterilisiert hatte, dachte er beinahe sehnsüchtig an ein wenig Infektion und Fieber, denn er liebte die Nüchternheit ja nicht um ihrer selbst willen. Agathe saß auf einer Leiter, die dem Herabholen der Bücher diente, und gab, auch als ihr Bruder schwieg, kein Zeichen der Teilnahme; sie sah in das unendliche, meeresartige Grau des Himmels hinaus und hörte dem Schweigen ebenso zu wie zuvor den Worten. So sprach Ulrich mit einem wenigen an Trotz weiter, den er kaum unter einem scherzhaften Ton verbarg.
»Kehren wir zu unserer Bank im Gebirge mit der Rinderherde zurück« bat er. »Stell dir vor, irgendein Kanzleirat in fabrikneuen Lederhosen sitzt dort, mit grünen Hosenträgern, auf die ›Grüß Gott‹ gestickt ist: er vertritt den reellen Gehalt des Lebens, der sich auf Urlaub befindet. Dadurch ist das Bewußtsein, das er von seinem Dasein hat, natürlich für den Augenblick verändert. Wenn er die Rinderherde ansieht, so zählt er nicht, beziffert nicht, schätzt nicht das Lebendgewicht der vor ihm weidenden Tiere, verzeiht seinen Feinden und denkt milde von seiner Familie. Die Herde ist aus einem praktischen sozusagen ein moralischer Gegenstand für ihn geworden. Es kann natürlich auch sein, daß er doch ein wenig schätzt und ziffert und nicht ganz verzeiht, aber dann wird es wenigstens umspielt sein von Waldesrauschen, Bachesmurmeln und Sonnenschein. In einem Satz kann man das so sagen: Was sonst den Inhalt seines Lebens bildet, erscheint ihm ›fern‹ und ›eigentlich unwichtig‹.«
»Es ist eine Ferialstimmung« ergänzte Agathe mechanisch.
»Sehr richtig! Und wenn ihm das nichtferiale Dasein darin ›eigentlich unwichtig‹ vorkommt, so heißt das nur: auf Urlaubsdauer. Das ist also heute die Wahrheit: der Mensch hat zwei Daseins-, Bewußtseins- und Denkzustände und bewahrt sich vor einem tödlichen Gespensterschreck, den ihm das einflößen müßte, auf die Weise, daß er die einen für den Urlaub von den anderen hält, für ihre Unterbrechung, Ruhe oder irgendetwas an ihnen, das er zu kennen glaubt. Mystik dagegen wäre verbunden mit der Absicht auf Dauerferien. Der Kanzleirat sollte das ehrlos nennen und augenblicklich, so wie er es gegen Ende des Urlaubs übrigens immer tut, empfinden, daß das wirkliche Leben in seiner ordentlichen Kanzlei ruhe. Und empfinden wir anders? Ob etwas in Ordnung zu bringen ist oder nicht, wird immer zuletzt darüber entscheiden, ob man es völlig ernst nimmt oder nicht; und da haben diese Erlebnisse eben wenig Glück, denn sie sind in Tausenden von Jahren über ihre uranfängliche Unordnung und Unfertigkeit nicht hinausgekommen. Und für so etwas steht der Begriff des Wahns bereit, – religiöser Wahn oder Liebeswahn, wie du willst; du kannst überzeugt sein: heute sind selbst die meisten religiösen Menschen so von der wissenschaftlichen Denkweise angesteckt, daß sie sich nicht nachzusehen trauen, was zu innerst in ihrem Herzen brennt, und jederzeit bereit wären, diese Inbrunst medizinisch einen Wahn zu nennen, auch wenn sie offiziell anders reden!«
Agathe sah ihren Bruder mit einem Blick an, darin es knisterte wie Feuer im Regen. »Nun hast du uns doch hinausmanövriert!« warf sie ihm vor, als er nicht mehr weitersprach.
»Da hast du recht« gab er zu. »Doch ist das Sonderbare: Wir haben alles das wie einen verdächtigen Brunnen verschalt, aber irgendein übrig gebliebener Tropfen dieses unheimlichen Wunderwassers brennt trotzdem ein Loch in alle unsere Ideale. Keines stimmt ganz, keines macht uns glücklich; sie weisen alle auf etwas hin, das nicht da ist: darüber haben wir heute ja genug gesprochen. Unsere Kultur ist ein Tempel dessen, was unverwahrt Wahn genannt würde, aber gleich auch seine Verwahrungsanstalt, und wir wissen nicht: leiden wir an einem Zuviel oder einem Zuwenig.«
»Vielleicht hast du dich niemals getraut, dich ganz darauf einzulassen« sagte Agathe bedauernd und stieg von ihrer Leiter herab; denn sie waren eigentlich mit dem Ordnen des schriftlichen Nachlasses ihres Vaters beschäftigt und hatten sich bloß von dieser mit der Zeit dringlich gewordenen Arbeit zuerst durch die Bücher und dann durch ihre Unterhaltung ablenken lassen. Nun fingen sie wieder an, die Verfügungen und Aufzeichnungen durchzumustern, die sich auf die Teilung ihres Vermögens bezogen, denn der Tag, auf den Hagauer vertröstet worden war, stand nahe bevor; ehe sie aber noch ernstlich damit begonnen hatten, richtete sich Agathe von den Papieren auf und fragte von neuem: »Bis zu welchem Grad glaubst du selbst an alles, was du mir erzählt hast?«
Ulrich antwortete, ohne aufzusehen. »Stell dir vor, unter der Herde befände sich, während sich dein Herz von der Welt abgewandt hat, ein böser Stier! Versuch, wirklich zu glauben, die tödliche Krankheit, von der du erzählt hast, wäre anders verlaufen, wenn dein Gefühl keine Sekunde nachgelassen hätte!« Dann hob er den Kopf und deutete auf die Papiere unter seinen Händen. »Und Gesetz, Recht, Maß? Meinst du, das sei ganz überflüssig?«
»Also bis zu welchem Grad glaubst du?« wiederholte Agathe.
»Ja und nein« sagte Ulrich.
»Also nein« vollendete Agathe.
Da war es ein Zufall, der ins Gespräch eingriff; als Ulrich, der weder Lust hatte, die Unterredung neu aufzunehmen, noch ruhig genug war, geschäftlich zu denken, in diesem Augenblick die vor ihm ausgebreiteten Schriften zusammenraffte, fiel etwas zur Erde. Es war ein loser Packen von allerhand Dingen, der versehentlich mit dem Vermächtnis aus einer Ecke der Schreibtischlade hervorgekommen war, wo er wohl jahrzehntelang gelegen haben mochte, ohne daß es sein Besitzer wußte. Ulrich betrachtete zerstreut, was er von der Erde aufhob, und erkannte auf einzelnen Blättern die Handschrift seines Vaters; aber es war nicht die Altersschrift, sondern die der Mannesjahre, er sah genauer hin, nahm außer beschriebenen Papieren noch Spielkarten, Photographien und allerhand kleinen Kram wahr und begriff nun rasch, was er gefunden habe. Es war die »Giftlade« des Schreibtisches. Da fanden sich sorgsam aufgeschriebene, meist zotige Witze; Aktaufnahmen; unter Verschluß zu versendende Postkarten mit prallen Sennerinnen, denen man hinten die Hosen öffnen konnte; Kartenspiele, die ganz ordentlich aussahen, aber, gegen das Licht gehalten, fürchterliche Dinge zeigten; Männchen, die allerhand von sich gaben, wenn man sie auf den Bauch drückte; und dergleichen mehr. Sicher hatte der alte Herr gar nichts mehr von den Dingen gewußt, die da in der Lade lagen, denn sonst hätte er sie rechtzeitig vernichtet. Sie stammten offenbar noch aus den Mannesjahren, wo sich nicht wenige alternde Junggesellen und Witwer an solchen Schamlosigkeiten wärmen, aber Ulrich errötete vor der unverwahrt zurückgelassenen Phantasie seines Vaters, die der Tod vom Fleische gelöst hatte. Der Zusammenhang mit dem abgebrochenen Gespräch war ihm augenblicklich klar. Trotzdem war es sein erster Antrieb, diese Urkunden zu vernichten, ehe Agathe sie gesehen habe. Aber Agathe hatte schon gesehn, daß ihm etwas Ungewöhnliches in die Hand geraten sei, so daß er sich plötzlich anders besann und sie heranrief.
Er wollte abwarten, was sie sage. Mit einemmal war er wieder von dem Gedanken beherrscht, daß sie doch eine Frau sei, die Erfahrungen haben müsse, was während der tieferen Gespräche ganz aus dem Bewußtsein gewesen war. Aber ihrem Gesicht war nicht zu entnehmen, was sie denke; sie sah ernst und ruhig den illegalen Nachlaß ihres Vaters an, und zuweilen lächelte sie offen, aber doch auch wieder nicht lebhaft. So fing Ulrich trotz seines Vorsatzes selbst an. »Das ist der letzte Rest der Mystik!« sagte er ärgerlich-lustig. »In der gleichen Lade liegen da die strengen sittlichen Ermahnungen des Testaments und diese Jauche!« Er war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab. Und er hatte kaum zu sprechen begonnen, so riß ihn das Schweigen seiner Schwester zu neuen Worten hin.
»Du hast mich gefragt, was ich glaube« begann er. »Ich glaube, daß alle Vorschriften unserer Moral Zugeständnisse an eine Gesellschaft von Wilden sind.
Ich glaube, daß keine richtig sind.
Ein anderer Sinn schimmert dahinter. Ein Feuer, das sie umschmelzen sollte.
Ich glaube, daß nichts zu Ende ist.
Ich glaube, daß nichts im Gleichgewicht steht, sondern daß alles sich aneinander erst heben möchte.
Das glaube ich; das ist mit mir geboren worden oder ich mit ihm.«
Nach jedem Satz war er stehen geblieben, denn er sprach nicht laut und mußte doch durch irgend etwas seinem Bekenntnis Nachdruck geben. Sein Auge blieb jetzt an den klassischen Gipsgebilden hängen, die oben auf den Bücherborden standen; er sah eine Minerva, einen Sokrates; er erinnerte sich daran, daß Goethe einen überlebensgroßen Gipskopf der Juno in sein Zimmer gestellt hat. Beängstigend fern kam ihm diese Vorliebe vor: was einst blühende Idee gewesen, war seitdem zu einem toten Klassizismus eingegangen. War zur nachzüglerhaften Recht- und Pflichthaberei der Zeitgenossen seines Vaters geworden. War vergeblich gewesen. »Die Moral, die uns überliefert wurde, ist so, als ob man uns auf ein schwankendes Seil hinausschickte, das über einen Abgrund gespannt ist,« sagte er »und uns keinen anderen Rat mitgäbe als den: Halte dich recht steif!
Ich bin, wie es scheint, ohne mein Zutun mit einer anderen Moral geboren worden.
Du hast mich gefragt, was ich glaube! Ich glaube, man kann mir tausendmal aus den geltenden Gründen beweisen, etwas sei gut oder schön, es wird mir gleichgültig bleiben, und ich werde mich einzig und allein nach dem Zeichen richten, ob mich seine Nähe steigen oder sinken macht.
Ob ich davon zum Leben geweckt werde oder nicht.
Ob bloß meine Zunge davon redet und mein Gehirn oder der strahlende Schauder in meiner Fingerspitze.
Aber ich kann auch nichts beweisen.
Und ich bin sogar davon überzeugt, daß ein Mensch, der dem nachgibt, verloren ist. Er gerät in Dämmerung. In Nebel und Quatsch. In gliederlose Langeweile.
Wenn du das Eindeutige aus unserem Leben fortnimmst, so bleibt ein Karpfenteich ohne Hecht.
Ich glaube, daß das Hundsgemeine dann sogar unser guter Geist ist, der uns schützt!
Ich glaube also nicht!
Ich glaube aber vor allem nicht an die Bindung von Bös durch Gut, die unser Kulturgemisch darstellt: das ist mir widerwärtig!
Ich glaube also und glaube nicht!
Aber ich glaube vielleicht, daß die Menschen in einiger Zeit einesteils sehr intelligent, andernteils Mystiker sein werden. Vielleicht geschieht es, daß sich unsere Moral schon heute in diese zwei Bestandteile zerlegt. Ich könnte auch sagen: in Mathematik und Mystik. In praktische Melioration und unbekanntes Abenteuer!«
Er war seit Jahren nicht so offen aufgeregt gewesen. Die »Vielleicht« in seiner Rede empfand er nicht, die erschienen ihm nur natürlich.
Agathe hatte sich indessen vor den Ofen gekniet; sie hatte den Packen von Bildern und Schriften neben sich auf der Erde, sah jedes einzelne Stück noch einmal an und schob es dann ins Feuer. Sie war nicht ganz unempfindlich gegen die gemeine Sinnlichkeit dieser Unanständigkeiten, die sie betrachtete. Sie fühlte ihren Körper von ihnen erregt. Es kam ihr vor, daß sie das so wenig selbst sei, wie wenn man in einer starren Einöde irgendwo ein Kaninchen huschen fühlt. Sie wußte nicht, ob sie sich vor ihrem Bruder schämen müßte, wenn sie ihm das sagte; aber sie war zuinnerst müde und wollte nichts mehr reden. Sie hörte auch nicht auf das, was er sagte; ihr Herz war von diesem Auf und Ab schon zu sehr geschüttelt worden und konnte nicht mehr folgen. Immer hatten ja andere besser gewußt als sie, was recht wäre; daran dachte sie, aber es geschah, vielleicht weil sie sich schämte, mit einem geheimen Trotz. Einen unerlaubten oder geheimen Weg zu gehn: darin fühlte sie sich Ulrich überlegen. Sie hörte, wie er immer wieder vorsichtig alles zurücknahm, wozu er sich hinreißen ließ, und seine Worte schlugen wie große Tropfen von Glück und Traurigkeit an ihr Ohr.