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Der alte Herr bekommt endlich Ruhe
Die kurze Zeit, die noch bis zum Begräbnis zur Verfügung stand, war von unzähligen ungewohnten kleinen Aufgaben ausgefüllt worden und hatte sich rasch entwickelt, und schließlich war aus den Besuchern, deren Kommen wie ein schwarzer Faden durch alle Stunden lief, in der letzten halben Stunde vor der Abfahrt des Toten ein schwarzes Fest geworden. Die Begräbnisgeschäftsleute hatten noch mehr als vorher gehämmert und gescharrt – mit dem gleichen Ernst wie ein Chirurg, dem man sein Leben anvertraut hat und fortab nichts mehr dreinreden darf – und hatten durch die unberührte Alltäglichkeit der übrigen Hausteile einen Steg der feierlichen Gefühle gelegt, der vom Tor über die Treppe in das Aufbahrungszimmer führte. Die Blumen und Blattpflanzen, schwarzen Tuch- und Kreppbehänge, silbernen Leuchter und zitternden kleinen Goldzungen der Flammen, welche die Besucher empfingen, kannten ihre Aufgabe besser als Ulrich und Agathe, die im Namen des Hauses jeden begrüßen mußten, der dem Toten die letzte Ehre zu erweisen kam, und die von den wenigsten wußten, wer sie seien, wenn sie nicht der alte Diener ihres Vaters in unauffälliger Weise auf besonders hochstehende Gäste aufmerksam machte. Und alle, die erschienen, glitten an sie heran, glitten ab und warfen irgendwo im Raum einzeln oder in kleinen Gruppen Anker, regungslos die Geschwister beobachtend. Steif wuchs diesen die Miene ernsten Ansichhaltens über das Gesicht, bis endlich der Schirrmeister oder Inhaber der Leichenbeförderungsunternehmung – jener Mann, der Ulrich mit seinen Vordrucken aufgewartet hatte und in dieser letzten halben Stunde wenigstens zwanzigmal die Treppe hinab- und hinangelaufen war – seitlich an Ulrich heransprengte und ihm mit behutsam zur Schau getragener Wichtigkeit wie ein Adjutant bei der Parade seinem General die Meldung überbrachte, daß alles bereit sei.
Weil der Zug feierlich durch die Stadt geführt werden sollte, wurden erst später die Wagen bestiegen, und Ulrich mußte als Erster den übrigen voranschreiten, zur Seite des kaiserlich und königlichen Statthalters, der zu Ehren des letzten Schlafes eines Herrenhausmitgliedes persönlich erschienen war, und auf der anderen Seite Ulrichs ging ein ebenso hoher Herr, Ältester einer dreigliedrigen Abordnung des Herrenhauses; dahinter kamen die zwei anderen Standesherrn, dann Rektor und Senat der Universität, und erst hinter diesen, aber vor dem unabsehbaren Strom der Zylinder mannigfaltiger, an Würde langsam von vorn nach hinten verlierender öffentlicher Personen, schritt Agathe, von schwarzen Frauen eingesäumt und den Punkt bezeichnend, wo zwischen den Spitzen der Behörden das zugemessene private Leid seinen Platz hatte; denn die regellose Teilnahme der »nichts als mit-Fühlenden« begann erst hinter den in amtlicher Eigenschaft Erschienenen, und es war sogar möglich, daß sie aus nichts als dem alten Dienerehepaar bestand, das einsam hinter dem Zuge dahinschritt. So war dieser vornehmlich ein Zug von Männern, und zu Seiten Agathes schritt nicht Ulrich, sondern ihr Ehemann Professor Hagauer, dessen rotapfeliges Gesicht mit der borstigen Raupe über dem Mund ihr inzwischen fremd geworden war und vor dem dichten, schwarzen Schleier, der ihr gestattete, ihn verborgen zu beobachten, dunkelblau aussah. Ulrich selbst, der in den vielen vorangegangenen Stunden immer mit seiner Schwester beisammen gewesen war, hatte mit einemmal das Gefühl, daß die uralte Begräbnisordnung, die noch aus der Gründungszeit der Universität stammte, sie ihm entrissen habe, und entbehrte sie, ohne daß er sich auch nur nach ihr umwenden durfte; er dachte sich einen Scherz aus, mit dem er sie begrüßen werde, wenn sie sich wiedersähen, aber seine Gedanken wurden durch den Statthalter ihrer Freiheit beraubt, der schweigend und herrscherhaft an seiner Seite schritt, aber doch zeitweilig ein leises Wort an ihn richtete, das er auffangen mußte, wie ihm denn überhaupt von allen diesen Exzellenzen bis zu den Magnifizenzen und Spektabilitäten Aufmerksamkeit erwiesen worden war, denn er galt als der Schatten des Grafen Leinsdorf und das Mißtrauen, das man dessen vaterländischer Aktion allmählich überall entgegenbrachte, verlieh ihm Ansehen.
An den Straßenrändern und hinter den Fenstern hatten sich überdies Neugierige gestaut, und obgleich er wußte, daß in einer Stunde, einfach wie bei einer Theateraufführung, alles vorbei sein werde, fühlte er doch an diesem Tag die Vorgänge besonders lebhaft mit, und die allgemeine Teilnahme an seinem Schicksal lag ihm wie ein schwer verbrämter Mantel auf den Schultern. Zum erstenmal empfand er die gerade Haltung der Überlieferung. Die dem Zug wie eine Welle voranlaufende Ergriffenheit der Menschenmasse an den Rändern, welche plauderte, verstummte und wieder aufatmete, der Zauber der Geistlichkeit, das dumpfe aufs Holz Poltern der Erdschollen, dessen Nahen man ahnte, das gestaute Schweigen des Zugs, das griff an die Wirbel des Leibs wie in ein urhaftes Musikinstrument, und Ulrich empfand mit Staunen ein unbeschreibliches Wiedertönen in sich, in dessen Schwingung sich sein Körper aufrichtete, als würde er von der Getragenheit, die ihn umgab, ganz wirklich getragen. Und wie er nun einmal an diesem Tag den anderen näher war, stellte er sich gleich dazu vor, wie anders das noch wäre, wenn er in diesem Augenblick, dem ursprünglichen Sinn des halbvergessen von der Gegenwart übernommenen Gepränges gemäß, wirklich als der Erbe einer großen Macht einherschritte. Das Traurige verschwand bei diesem Gedanken, und der Tod wurde aus einer schrecklichen Privatangelegenheit zu einem Übergang, der sich in öffentlicher Feier vollzog; nicht mehr klaffte jenes grauenvoll angestarrte Loch, das jeder Mensch, an dessen Dasein man gewöhnt ist, in den ersten Tagen nach seinem Verschwinden hinterläßt, sondern schon schritt der Nachfolger an Stelle des Verstorbenen, die Menge atmete ihm zu, das Totenfest war zugleich eine Mannbarkeitsfeier für den, der nun das Schwert übernahm und zum erstenmal ohne Vordermann und allein seinem eigenen Ende zuschritt. »Ich hätte« dachte Ulrich unwillkürlich »meinem Vater die Augen schließen müssen! Nicht seinet- oder meinetwegen, sondern –« er wußte diesen Gedanken nicht zu Ende zu führen; aber daß weder er seinen Vater gemocht hatte, noch dieser ihn, kam ihm angesichts dieser Ordnung als eine kleinliche Überschätzung der persönlichen Wichtigkeit vor, und überhaupt schmeckte vor dem Tode das persönliche Denken schal nach Nichtssagendheit, während alles, was an dem Augenblick bedeutend war, von dem Riesenleib auszugehen schien, den der langsam durch die Menschengasse dahinwandernde Zug bildete, mochte er auch von Müßiggang, Neugierde und gedankenlosem Mittun durchsetzt sein.
Jedoch, die Musik spielte weiter, es war ein leichter, klarer, herrlicher Tag, und Ulrichs Gefühle schwankten hin und her wie der Himmel, der in einer Prozession über dem Allerheiligsten getragen wird. Zuweilen sah Ulrich in die Spiegelscheiben des vor ihm fahrenden Leichenwagens und sah seinen Kopf mit Hut und Schultern darin, und von Zeit zu Zeit bemerkte er am Boden des Gefährts neben dem wappengeschmückten Sarg wieder die kleinen alten Wachsschuppen von früheren Begräbnissen, die man nicht ordentlich weggeputzt hatte, und sein Vater tat ihm dann einfach und ohne alle Gedanken leid wie ein Hund, der auf der Straße überfahren worden ist. Sein Blick wurde dann feucht, und wenn er über das viele Schwarz hinweg zu den Zuschauern an den Straßenrändern kam, sahen sie aus wie benetzte bunte Blumen, und die Vorstellung, daß er, Ulrich, alles das jetzt sehe und nicht der, der alle Tage hier gelebt hatte und noch dazu das Feierliche viel mehr liebte als er, war so sonderbar, daß es ihm schier unmöglich vorkam, daß sein Vater nicht dabei sein durfte, wie er aus einer Welt schied, die er im allgemeinen gut befunden hatte. Es rührte innig, aber es entging Ulrich darüber nicht, daß der Agent oder Unternehmer der Leichenbestattung, der den katholischen Zug zum Friedhof führte und in Ordnung hielt, ein großer, kräftiger Jude von einigen dreißig Jahren war: er wurde von einem langen blonden Schnurrbart geziert, trug Papiere in der Tasche wie ein Reisebegleiter, eilte vor und zurück und fingerte da am Riemenwerk eines Pferdes etwas zurecht oder flüsterte dort den Musikanten etwas zu. Das erinnerte Ulrich des weiteren daran, daß der Leichnam seines Vaters am letzten Tag nicht im Haus gewesen und erst kurz vor dem Begräbnis dahin zurückgebracht worden war, gemäß einer vom freien Geist der Forschung eingegebenen letztwilligen Bestimmung, die ihn der Wissenschaft zur Verfügung gestellt hatte, und es war zweifellos anzunehmen, daß man den alten Herrn nach diesem anatomischen Eingriff nur flüchtig wieder zusammengenäht haben werde; da rollte also hinter den Glasscheiben, die Ulrichs Bild zurückwarfen, ein unordentlich vernähtes Ding als Mittelpunkt der großen, schönen, feierlichen Einbildung mit. »Ohne oder mit seinen Orden?!« fragte sich Ulrich betreten; er hatte nicht mehr daran gedacht und wußte nicht, ob man seinen Vater in der Anatomie wieder angezogen habe, ehe der geschlossene Sarg ins Haus zurückkam. Auch über das Schicksal von Agathes Strumpfband bestand Unsicherheit; man konnte es gefunden haben, und er vermochte sich die Witze der Studenten auszumalen. Alles das war überaus peinlich, und so lösten die Einwände der Gegenwart sein Empfinden wieder in viele Einzelheiten auf, nachdem es sich einen Augenblick lang fast zu der glatten Schale eines lebenden Traums gerundet hatte. Er fühlte nur noch das Absurde, wirr sich Wiegende der menschlichen Ordnung und seiner selbst. »Ich bin nun ganz allein in der Welt –« dachte er »ein Ankertau ist zerrissen – ich steige auf!« In diese Erinnerung an den Eindruck, den er als ersten bei der Botschaft vom Tode seines Vaters empfangen hatte, kleidete sich jetzt wieder sein Gefühl, indes er zwischen den Menschenmauern weiterschritt.