Hermann Melville
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Hermann Melville

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Sechstes Kapitel

Kapitän Guy hatte keine Lust, noch eine Nacht in Heitihu zu verbringen, sondern ließ das Schiff bei Anbruch der Nacht unter Segel gehen. Aber am nächsten Morgen, als wir bereits alle glaubten, eine lange Kreuzerfahrt vor uns zu haben, änderten wir plötzlich den Kurs und hielten auf La Dominica oder Heivarhu zu, eine Insel, die gerade nördlich von Heitihu lag. Der Kapitän wollte ein paar englische Matrosen an Bord nehmen, die, wie der Kommandeur der Korvette ihm erzählt hatte, kürzlich dort von einem amerikanischen Walfischfänger ausgerissen waren und sich nur auf einem heimatlichen Fahrzeug verdingen wollten.

Wir sichteten das Land am Nachmittag; vor uns lag eine Bucht, die tief ins Land einschnitt, und ein schattiges Tal, das in engen, grünen, sich windenden Schluchten zuletzt dem Blick entschwand. »An die Luv-Großbrassen!« brüllte der Steuermann, auf die Verschanzung springend, und einen Augenblick später stand die »Julia«, in voller Fahrt angehalten, wie ein in die Zäume beißendes Pferd, das plötzlich zurückgenommen wird, still, während der Gischt in weißen Flocken unter ihrem Bug aufspritzte.

Hier sollten wir die neuen Matrosen bekommen, und ein Boot wurde klargemacht. Es mußte aber mit sicheren Leuten bemannt werden, das heißt mit solchen, von denen nicht zu erwarten stand, daß sie selbst durchgehen würden. Nach längerer Beratung zwischen Kapitän und Steuermann wurden vier als die vertrauenswürdigsten oder richtiger als die mindest verdächtigen ausgewählt. Auch der kranke Kapitän ließ sich über Bord schaffen; er wollte sich offenbar einmal auszeichnen. Die Eingeborenen sollten bösartig sein. Die Männer wurden mit Messern bis an die Zähne bewaffnet; der Kapitän schnallte außerdem noch einen alten Entergürtel um, in den er ein paar Pistolen steckte. Dann stießen sie ab.

Mein Freund, das lange Gespenst, hatte unter anderem Gepäck, das nicht gerade ins Vorderkastell paßte, ein großartiges Fernglas. Durch dieses Glas konnten wir das Boot, das für das bloße Auge längst unsichtbar war, am Eingang der Bucht deutlich wahrnehmen; es sah nicht größer aus als eine Eierschale, und die Leute darin wie Däumlinge. Wir sahen das winzige Ding auf einer langen Schaumflocke unter einem Funkenregen an den Strand schießen. Am Ufer war keine Seele zu erblicken. Sie ließen einen Mann als Wache beim Boot, die anderen stiegen ans Land und schritten vorsichtig auf den dichten Hain zu, der wenige Schritte vom Wasser begann. Nochmals blieben sie stehen und lauschten, die Hand am Ohr, und spähten in das grüne Dickicht. Niemand kam, und alles schien still wie das Grab. Endlich betraten sie, der eine mit seiner Pistole, die anderen ihre Pfriemen schwingend, den Wald und waren verschwunden. Sie blieben indessen nicht lange drin; offenbar fürchteten sie in einen Hinterhalt zu fallen, wenn sie tiefer in die Schlucht eindrangen.

Sie schifften sich auch sogleich wieder ein, und wir sahen sie über die Wogen gleiten, als der Kapitän plötzlich aufsprang; das Boot machte kehrt und hielt wieder auf den Strand zu. Zwanzig oder dreißig Eingeborene, mit Speeren bewaffnet, die durch das Glas wie Halme aussahen, waren aus dem Hain zum Vorschein gekommen und schienen etwas zu rufen. Unsere Leute mißtrauten ihnen offenbar, denn sie blieben etwa eine Bootslänge vom Ufer, der Kapitän stand auf und hielt eine Ansprache in Gebärden, worauf einer der Eingeborenen vortrat und erwiderte; er schien die Fremden einzuladen, ans Land zu kommen. Der Kapitän lehnte dies mit Armgebärden ab, und irgend etwas in seiner Haltung veranlaßte die Wilden, ihre Speere zu schütteln, worauf der Kapitän sogleich feuerte und alle davonliefen. Ein armer kleiner Kerl ließ seinen Speer fallen, griff mit der Hand nach rückwärts und hinkte fort; und mich juckte es, dem Kapitän dafür eins aufzubrennen.

Derart überflüssige Grausamkeiten sind beim Landen auf unbekannten Inseln nichts Ungewöhnliches. Sogar auf der Paumotugruppe, die nur eine Tagesfahrt von Taheiti entfernt ist, wurden Eingeborene, die an den Strand kamen, mehrmals von vorüberfahrenden Handelsschonern, die die schmalen Kanäle passierten, angeschossen; nur weil die Schufte sich belustigen wollten. Es ist unglaublich, aber viele Seeleute halten diese nackten Heiden kaum für Menschen. Je unwissender und je mehr herabgekommen der Mensch ist, desto mehr sieht er auf die herunter, die er nicht für seinesgleichen hält.

Das Boot kehrte zum Schiff zurück.

Auf der anderen Seite der Insel befand sich die große und bevölkerte Bucht von Hannamenu, wo wir die Leute vielleicht noch finden mochten, die wir suchten. Da die Sonne bereits im Sinken war, als das Boot längsseits kam, so wurden die Steuerbordbrassen eingeholt, und wir liefen in die offene See hinaus. Bei Tagesanbruch wendeten wir und liefen landwärts; als die Sonne hell schien, fuhren wir in den langen engen Kanal zwischen den Inseln La Dominica und Santa Christina ein. Auf der einen Seite lagen steile, grüne, mehrere hundert Fuß hohe Felswände; die weißen Hütten der Eingeborenen saßen wie Vogelnester in tiefen Spalten, aus denen der üppige Pflanzenwuchs quoll. Jenseits des Wassers lagen warme wogende Hügel, die im Sonnenlicht zu atmen schienen. Wir aber glitten an schroffen Felsen und Hainen, an bewaldeten Tälern und düsteren Schluchten vorüber, in denen fern wilde Wasserfälle aufblitzten. Die frische Landbrise füllte unsere Segel, die umbuchteten Wasser lagen still wie ein See, und die Wogen brachen sich wie mit leichtem Klingen an den Kupferplatten des Bugs. Am Ende des Kanals fuhren wir um eine Landspitze und waren in der Bucht von Hannamenu. Es ist der einzige Hafen von einiger Bedeutung auf der Insel, verdient aber gleichfalls kaum den Namen, so wenig sicher ist der Ankergrund.

Bei der Einfahrt ereignete sich ein Vorfall, der einen Begriff von der Stimmung der Mannschaft geben mag. Sobald wir dem Ufer so nahe waren, als man vorsichtigerweise herankommen durfte, stoppten wir die Fahrt und erwarteten die Ankunft eines Kanus, das aus der Bai herauskam. Plötzlich gerieten wir in eine starke Strömung, die uns mit großer Schnelligkeit auf ein felsiges Vorgebirge zu riß, das die eine Seite des Hafens bildete. Der Wind war völlig abgeflaut; es wurden daher sogleich zwei Boote zu Wasser gelassen, die das Vorderende des Schiffes herumschleppen sollten. Aber ehe dies noch ausgeführt werden konnte, waren wir schon mitten in der wirbelnden Brandung, und der Felsen so nah, daß es aussah, als ob man aus den Toppen auf ihn hinüberspringen könnte. Trotz dem sprachlosen Schrecken des Kapitäns und dem heiseren Schreien des unerschrockenen Jermin, gingen die Leute mit dem Tauwerk so bedächtig als möglich um; die einen kicherten bei der Aussicht, ans Ufer zu kommen, die anderen wünschten so sehr, daß das Schiff aufrennen sollte, daß sie sich kaum beherrschen konnten. Aber ganz unerwartet kam uns eine Gegenströmung zugute, und mit Hilfe der Boote waren wir bald außer Gefahr.

Welche Enttäuschung für die Mannschaft! All ihre Hoffnungen, von dem Wrack ans Ufer zu schwimmen und es sich Zeit ihres Lebens gut gehen zu lassen, waren im Keim erstickt.

Bald darauf kam das Kanu längsseits. Es brachte acht oder zehn Eingeborene, hübsche lebhafte junge Leute, die unendliche Gebärden und viel Geschrei machten; die roten Federn in ihrem Kopfschmuck nickten beständig. Mit ihnen kam ein Fremder, ein Renegat – ein weißer Mann mit dem Südseelendentuch und tätowiertem Antlitz. Ein breiter blauer Streifen zog sich quer über sein Gesicht von einem Ohr zum anderen, und auf seiner Stirn war ein blauer Haifisch eingezeichnet, nichts als Schuppen vom Kopf bis zur Schwanzspitze. Manche von uns betrachteten den Mann mit Abscheu, um so mehr, als wir erfuhren, daß er sich dieser Verschönerung freiwillig unterzogen hatte. Es war schlimmer als ein Kainszeichen. Er war ein Engländer, Lem Hardy hieß er, und war von einer Brigg desertiert, die vor etwa zehn Jahren nach der Insel gekommen war, um Holz und Wasser einzunehmen. Mit einer Muskete und einem Sack Munition war er als souveräne kriegführende Macht ans Land gestiegen. In breiten Tälern herrschten die Könige feindlicher Stämme. Mit einem davon, der sich zuerst an ihn wandte, hatte er ein Bündnis geschlossen und wurde der militärische Führer des Stammes und Kriegsherr der ganzen Insel. In einem einzigen nächtlichen Angriff hatte er mit seiner unbesiegbaren Muskete, auf die leichte Infanterie mit ihren Speeren und Wurfspeeren gestützt, zwei Stämme besiegt, und schon am nächsten Morgen auch die beiden übrigen zu Füßen seines königlichen Verbündeten gezwungen.

Auch der Aufstieg seines persönlichen Vermögens war nicht weniger napoleonisch: drei Tage nach seiner Landung wurde ihm die fein tätowierte Hand einer Prinzessin zuteil, und zugleich mit der jungen Dame erhielt er als Mitgift tausend Faden feinen Tappas, fünfzig doppeltgeflochtene Matten aus geschlitztem Gras, vierhundert Schweine, zehn Häuser in verschiedenen Teilen des Tals und den Schutz eines besonderen Tabus, das seine Person für immer unverletzbar machte. Damit hatte er seine Lebensstellung, war vollkommen zufrieden und fühlte nicht den geringsten Wunsch, nach seiner Heimat zurückzukehren. Freunde hatte er nicht. Er erzählte mir seine Geschichte: er war ein Findelkind, ohne eine Ahnung, wer sein Vater gewesen; eines Tages war er noch als Junge aus dem Gemeindearbeitshause entlaufen und zur See gegangen. Mehrere Jahre hatte er das Hundeleben eines Vordergasten geführt, das er dann für immer aufgab.

Das sind die Leute, deren man viele unter den Seeleuten findet; sie kennen keine Seele, die nach ihnen fragen würde, und gleichgültig und ohne Bande, wie sie sind, finden sie gelegentlich unter den Wilden der Südsee eine neue Heimat. Und wenn man ihr hartes Los im eigenen Vaterland bedenkt, kann man sich über ihre Wahl wundern?

Nach der Versicherung des Renegaten befand sich kein anderer weißer Mann auf der Insel; und da kein Grund vorlag anzunehmen, daß er uns betrügen wollte, so schloß der Kapitän, daß die Franzosen sich geirrt hatten. Als indessen die anderen Eingeborenen erfuhren, weswegen wir gekommen waren, erbot sich einer von ihnen, ein schöner kräftiger Bursche, mit großen Augen und ausdrucksvollem Gesicht, eine Fahrt mitzumachen. Die ganze Heuer, die er verlangte, bestand aus einem Hut, einem roten Hemd und einem Paar Hosen, die er sogleich anlegen wollte, in einer Schnitte Tabak und einer Pfeife. Der Handel wurde auf der Stelle geschlossen; aber Weimontu kam mit einem nachträglichen Zusatz: ein Freund von ihm, der mit ihm gekommen war, sollte zehn Stück Schiffszwieback, ohne Bruch oder sonstige Fehler, zwanzig neue und vollkommen gerade Nägel und ein großes Bordmesser bekommen. Auch das wurde bewilligt, die Sachen wurden sofort übergeben; der Eingeborene nahm sie mit großer Gier, und da er sie sonst nirgends hinstecken konnte, steckte er die Nägel in den Mund. Nur zwei davon benützte er sogleich als Ohrschmuck, an Stelle merkwürdig geschnitzter Gehänge aus weißem Holz, die er herausnahm.

Der Seewind kam jetzt kräftig herein, und wir hatten keine Zeit zu verlieren, wenn wir vom Land abkommen wollten. Unser neuer Schiffsgenoß und seine Landsleute nahmen daher mit liebevollem Nasenreiben Abschied, und wir segelten mit ihm ab. Zu unserem Erstaunen hörte er die Abschiedsrufe aus dem Kanu, während wir unter vollen Oberbramsegeln dahinschossen, vollkommen unbewegt an. Aber das dauerte nicht lange. Noch am selben Abend, als das dunkle Blau seiner heimischen Berge am Horizont versank, lehnte der arme Wilde über der Reling, ließ den Kopf auf die Brust sinken und seinen Gefühlen freien Lauf. Das Schiff stampfte tüchtig, und Weimontu war zu seinen seelischen Leiden noch schwer seekrank.

 


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