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Am Abend machten sich zwei Männer auf dem hinteren Hof des Palastes zu schaffen. Es waren Graf Alfonzo und der Sekretär. Dieser Hof stieß mit einer seiner Seiten an den Blumengarten, in dessen Ecke eine Laube stand, der Lieblingsaufenthalt der alten Amme, die hier ihre Schlummerstunde hielt. Seit dem Tod Don Ferdinandos war sie öfters hier. Dieser Tod hatte ihr mehr als den äußeren, er hatte ihr auch den inneren Halt geraubt, den sie durch einsames Sinnen wiederzugewinnen dachte. Auch heute abend saß sie hier, ganz einsam und allein. Sie hörte, daß die beiden Männer Pferde aus dem Stall zogen und sattelten, ferner, was sie sprachen, ehe sie das Haus verließen, und erkannte sie an ihrer Stimme.
»Also wie lange wirst du wegbleiben?« fragte der erstere. – »Acht bis neun Tage.« – »In die Stadt Verakruz kommst du nicht?« – »Nicht eher, als bis ich das Paket losgeworden bin. Ich hoffe, daß ich mich auf die sechs Komantschen verlassen kann!« – »Vollständig. Sei nur vorsichtig, daß man dich nicht erwischt!«
Es waren vier Pferde, die durch das hintere Tor den Palast verließen, zwei Reitpferde und zwei Packpferde. Eins der letzteren trug Lebensmittel, und auf das andere hatte man einen wohl sechs Fuß langen Korb befestigt.
Der kleine Zug ging nach dem Gottesacker. Dort wurden die Pferde angebunden, während die Männer durch das stets offene Tor nach der Begräbnisstätte der Rodrigandas schritten. Alfonzo öffnete dasselbe. Sie stiegen hinab und öffneten im Finstern den Sarg. Kein Wort wurde dabei gesprochen. Dann hoben sie den Toten heraus, trugen ihn empor und schlossen Sarg und Mausoleum wieder fest zu. Hierauf schafften sie die Leiche aus dem Friedhof fort, legten sie mit großer Anstrengung in den Korb, dessen Deckel mit mehreren Schlössern befestigt wurde, und trabten fort.
Es war erst gegen Morgen, als Alfonzo durch das hintere Tor zurückkehrte.
Am anderen Abend, fast um dieselbe Zeit, saß Marie Hermoyes wieder im Garten und dachte an den Toten, an das Testament, an das jetzige Leben hier, und wie es doch ganz anders gewesen war, als der wackere Pedro Arbellez noch hier gewohnt hatte. Ja, wenn der noch hier wäre, so könnte sie sich bei ihm wohl Rat holen!
Da wurde sie aus ihrem Sinnen durch ein leichtes Geräusch aufgeschreckt. Sie blickte empor und erschrak. Es schwang sich jemand über die Mauer herüber. Ihr Schreck war so groß, daß sie nicht einmal um Hilfe rufen konnte. Nur einen leisen, ganz, ganz leisen Laut brachte sie hervor.
Aber dieser Laut, auf den kein anderer geachtet hätte, genügte, um sie zu verraten. Der Mann sprang nämlich sofort auf sie zu und faßte sie so bei der Gurgel, daß sie nicht schreien konnte.
»Still«, sagte er, »sonst steche ich dich nieder. Wer bist du?«
Er ließ ihre Kehle ein wenig locker, so daß sie antworten konnte.
»Ich war die Amme des jungen Herrn.« – »Ugh! Wie heißt du?« – »Marie Hermoyes.« – »Hermoyes – Hermoyes – den Namen habe ich gehört!« Der Mann sann nach und sagte dann. »Ugh! Kennst du Pedro Arbellez und Señorita Emma?« – »Ja.« – »Sie haben von dir gesprochen. Du bist ein gutes Weib. Du wirst mich nicht verraten, und ich brauche dir kein Leid zu tun.«
Hierauf nahm er die Hand von ihrer Kehle und ließ sie frei.
Jetzt erst getraute die Alte sich, den Mann genauer zu betrachten. Er war hoch und stark gebaut und ganz in festes, unverwüstliches Büffelleder gekleidet. Er trug eine schwere Doppelbüchse in der Hand und mehrere Waffen, die sie aber bei der Dunkelheit nicht zu unterscheiden vermochte, im Gürtel. Nun setzte er sich auf die Bank neben sie und sagte:
»Fürchte dich nicht, ich bin dein Freund!« – »Wer seid Ihr?« fragte sie. – »Ich bin Büffelstirn, der Häuptling der Mixtekas.« – »So seid Ihr ein Indianer?« – »Ja.«
Er hatte von ihrem Freund Arbellez und von dessen Tochter gesprochen, seine Stimme klang jetzt mild und weich, sie fürchtete sich nicht mehr.
»Was wollt Ihr hier?« fragte sie. – »Gib mir erst Antwort auf meine Fragen!« sagte er. »Wem gehört dieses Haus?« – »Dem Grafen de Rodriganda.« – »Welcher Ferdinando heißt?« – »Nein. Dieser ist vor einigen Tagen gestorben.« – »Wie heißt der jetzige Graf?« – »Alfonzo, der auf der Hazienda war.« – »Ist er ein guter Mann?«
Die Alte schwieg.
»Sage mir die Wahrheit. Ich bin dein Freund. Emma Arbellez sendet mich.« – »Warum fragt Ihr so?« erkundigte sie sich. – »Weil er auf der Hazienda viel Schlimmes verübt hat. Er ist ein Lügner, ein Betrüger, ein Mörder, ein Feigling.« – »Ja, er ist nicht gut«, entgegnete sie. – »Du liebst ihn nicht?« – »Nein. Niemand liebt ihn.« – »Wer ist noch in diesem großen Haus?« – »Die ganzen Beamten und Diener. Der oberste ist Señor Pablo Cortejo.« – »Cortejo – Cortejo – den Namen habe ich auch gehört. Ich habe mich bei Señor Arbellez nach allen erkundigt. Cortejo ist ein Spanier?« – »Ja, derselbe ist verreist, und zwar nach Verakruz.« – »Allein?« – »Nein, mit sechs Komantschen.« – »Ugh!« stieß der Indianer zwischen den Zähnen hervor. »Hast du die Komantschen gesehen?« – »Nein.« – »Wird auch dieser Graf Alfonzo verreisen?« – »Nein.« – »So ist er mir sicher. Wann ist Cortejo mit den Komantschen fort von hier?« – »Gestern abend um diese Zeit. Oh, Señor, habt Ihr etwas Böses im Schilde?« – »Nein. Ich liebe die Guten und hasse die Bösen.« – »Wie geht es Señor Arbellez?« – »Er ist reich und gut. Er ist gesund und stark und hat ein Kind, das ihn sehr liebt.« – »Ja, er ist glücklich. Ach, könnte ich doch bei ihm sein! Könnte ich hier fort!« – »Es gefällt dir hier nicht?« – »Nein. Sie alle sind bös. Nur Don Ferdinando war gut.« – »Würdest du dich freuen, wenn sie ihre Strafe erhielten?« – »Ja, oh, wie wollte ich es ihnen gönnen.« – »Hat dieser Alfonzo auch hier Böses getan?« – »Genug.«
Jetzt endlich war Büffelstirn seiner Sache sicher, und nun sagte er aufrichtig zu ihr:
»Ich bin als Rächer gekommen.« – »An dem Grafen?« – »Ja.« – »Straft ihn, Señor, straft ihn! Er hat die schlimmsten Strafen verdient!«
Die gute Frau war mit den Indianergebräuchen zu wenig bekannt. Sie dachte nicht an den Tod und das Skalpieren, sie dachte nur im allgemeinen an Strafe.
»Du möchtest gern bei Señor Arbellez sein?« fragte Büffelstirn. – »Oh, wie gern! Ich sehne mich nach ihm und Señorita Emma von ganzem Herzen«, antwortete sie. – »Willst du mit uns zu ihm gehen?« – »Mit Euch? Seid Ihr mehrere?« – »Wir sind zwei.« – »Wer ist der andere?« – »Es ist Bärenherz, der Häuptling der Apachen.« – »Ihr geht nach der Hazienda?« – »In einer Woche.« – »Oh, ich ginge so gern mit, aber ich kenne Euch nicht. Ihr seid wilde Indianer.«
Die gute Alte war naiv genug, sich zu fürchten, und doch den Ausdruck »wild« zu gebrauchen, der ihn beleidigen mußte, wenn er wirklich »wild« war. Er schien es aber gar nicht gehört zu haben, sondern ergriff ihre Hand und sagte im herzlichsten Ton:
»Du bist eine gute Squaw. Darf ich dir erzählen, was Graf Alfonzo getan hat?« – »Erzählt es, Señor.«
Büffelstirn setzte sich nun neben die alte Dienerin hin und berichtete ihr das auf der Hazienda Geschehene soweit, daß er ihr ein Urteil ermöglichte, wie schlecht der Graf gewesen war und wie sie im Gegensatz hierzu ihm, dem Sprecher, vertrauen könne. Er erreichte diesen Zweck, denn als er geendet hatte, sagte sie zu ihm:
»Señor, Ihr seid ein Roter, aber Ihr seid ein guter Mensch. Ich gehe mit Euch.« – »Uff! Du bist alt; du sollst eine Sänfte haben.« – »Wo ist Euer Gefährte?« – »Draußen vor der Stadt. Er wartet auf mich.« – »Warum kam er nicht mit?« – »Einer ist genug, um auf Kundschaft zu gehen. Er redet die Sprache der Weißen nicht so wie ich. Aber du wirst ihn sehen, wenn wir wiederkommen.« – »Wohin wollt Ihr gehen?« – »An das Meer.« – »Und Ihr kommt wirklich wieder?« – »Ja, wenn du schweigen kannst.« – »Oh, Señor, von mir wird kein Mensch etwas erfahren.« – »Auch nicht, daß Büffelstirn hiergewesen ist?« – »Nein.« – »Halte dein Wort, so werde ich auch das meinige halten. Gute Nacht, du gutes Weib der Bleichgesichter!«
Der Indianer gab der Alten die Hand und war im nächsten Augenblick wieder über die Mauer hinüber.
Sie blieb sitzen, als hätte sie nur geträumt, daß der erst so feindselig auftretende Mann gekommen sei, sie aus diesem Haus zu erlösen. Er aber schritt durch die stille, dunkle Stadt, bis er dieselbe im Rücken hatte.
Dann stieß er einen Pfiff aus, ein zweiter antwortete, und bald tauchte die Gestalt des Apachen vor ihm in der Finsternis auf. »Wo hat mein Bruder die Pferde?« fragte er. – »Sie grasen nicht weit von hier«, antwortete Bärenherz. »Hat mein Bruder etwas entdeckt?« – »Ich habe das Haus gefunden.« – »Ist es groß?« – »Es gehört zu den größten Häusern der Stadt.« – »Werden wir darin gleich den antreffen, den wir suchen?« – »Wir werden es, denn ich habe eine Führerin, die seine Feindin ist, sie haßt ihn. Sie ist die Freundin von Señor Arbellez und von Señorita Emma. Ich habe ihr versprochen, sie mit nach der Hazienda zu nehmen.« – »Ugh!« sagte der Apache unmutig. »Ein Weib ist wie der Bach, der stets murmelt!« – »Diese weiße Squaw plaudert nicht«, entgegnete der wackere Cibolero. »Señorita Emma hat mir ihren Namen genannt, als ich ging. Ich kenne sie.« – »So hat mein Bruder weiter nichts erforscht als dieses Weib?« – »Noch viel mehr. Sie hat mir gesagt, wo die Komantschen sind.« – »Ugh! Wo sind sie?« – »Fort, nach Verakruz.« – »Und wo ist der weiße Graf?« – »In seinem Haus, wo er bleiben wird.« – »So ist er uns sicher, diese Hunde von Komantschen aber können uns entgehen. Mein Bruder Büffelstirn beeile sich daher, ihnen mit mir nachzufolgen! Wann sind sie fort?« – Gestern abend. Den Weg, den sie kommen, kenne ich.« – »So wollen wir jetzt, in diesem Augenblick, aufbrechen.« – »Ugh! Ich bin einverstanden.«
Eine Minute später saßen die beiden Helden bereits zu Pferde und ritten dem Osten zu.
Die Komantschen ahnten nicht, daß sie zwei so unversöhnliche Verfolger hinter sich hatten. Sie erreichten die Gegend von Verakruz und wandten sich dann nordwärts von der Stadt der Küste zu, wo sie endlich nach längerem Suchen eine kleine, versteckte Bucht fanden, in der ein Boot bequem landen konnte.
Cortejo begab sich dann nach dem Hafen, um zu Landola an Bord zu gehen. Er fand ihn auf dem Schiff anwesend.
»Endlich!« sagte der Kapitän. »Ich habe auf Euch gewartet wie der Teufel auf die Seele. Ich durfte, um von Euch sogleich getroffen zu werden, das Schiff nicht verlassen, und diese Zeit ist mir verdammt langweilig vorgekommen. Habt Ihr die Fracht?« – »Ja, in einem Korb.« – »Wo befindet sie sich?« – »Nordwärts in einer Bucht.« – »Könnt Ihr uns führen?« – »Ich denke, daß ich den Ort treffen werde.« – »So werde ich sogleich das große Boot in See gehen lassen. Was habt Ihr für Leute zur Bedeckung mit?« – »Sechs wilde Indianer.« – »Donnerwetter, Ihr seid klug! Diese Leute werden schweigen, das ist sicher und gewiß.«
Das große Boot wurde herabgelassen und bemannt. Die Matrosen waren mit Waffen versehen, denn der Kapitän war entschlossen, es mit dem Zollkutter aufzunehmen, wenn dieser ihn stören sollte. Er schlug jedoch vorsichtshalber einen weiten Bogen in die See hinaus und näherte sich erst dann dem Land, als er glaubte, nicht mehr gesehen zu werden.
Cortejo zeigte, daß er ein gutes Ortsgedächtnis besaß. Er fand die Bucht sehr leicht. Sie landeten und nahmen den Korb, von dessen Inhalt weder die Indianer noch die Matrosen eine Ahnung hatten, in das Boot herein. Dann ruderte man zurück, und Cortejo begleitete den Kapitän wieder auf das Schiff, um eine Flasche Wein mit ihm auszustechen, nachdem er den Komantschen die Weisung erteilt hatte, an der Bucht auf ihn zu warten.
An Bord angekommen, wurde der Korb zunächst in die Kajüte des Kapitäns gebracht.
»Was wollt Ihr hier mit ihm?« fragte Cortejo, als sie dort allein waren. – »Ich muß beobachten, was ein Scheintoter für ein Gesicht macht, wenn er lebendig wird.« – »Aber hier kann er von Euren Leuten entdeckt werden!« – »Tragt keine Sorge. Sobald er lebendig ist, kommt er hinunter in den Raum, wo ihn kein Mensch sehen und hören kann. Kommt und helft mir!«
Neben der Kapitänskajüte befand sich ein enger Raum, der notdürftig von einem kleinen Fensterchen erleuchtet war, das sich an der Seite des Schiffes befand. Hier herein schafften sie den Korb. Da der Raum zu kurz und schmal war, als daß der Korb hätte stehen können, so lehnten sie denselben aufrecht in die von dem Fensterchen beleuchtete Ecke und öffneten ihn.
Der Graf stand in dem schräg anliegenden Korb. Er sah wie eine Leiche aus, und doch hätte man schwören mögen, daß es nur ein Schlafender sei.
»Donnerwetter!« rief Cortejo, als er ihn erblickte. »Was ist das? Sein Haar ist ergraut!« – »Hat er das Bewußtsein?« fragte der Kapitän. – »Ja.« – »Dann ist es bei der fürchterlichen Angst, die er auszustehen hatte, kein Wunder, daß das Haar ergraute. Wenn er uns reden hört, so wird er wissen, daß sein Leben nun gerettet ist. Kommt wieder herein, Señor, unser Wein wartet.«
Sie traten in die Kajüte zurück. Während sie dort zechten, lag oder stand der Scheintote in seinem Korb in tiefster Verzweiflung. Sein Herz schlug fast nicht mehr, aber welche Gefühle mußten es trotzdem durchwühlen! Welche Fragen mußten diesen Mann beschäftigen, der nicht wußte, was man mit ihm vorgenommen hatte, und der nun, ohne sich rühren zu können, aus dem Mund des Räuberkapitäns erfuhr, daß es sich wenigstens nicht um sein Leben handle. Welcher dunklen, vielleicht fürchterlichen Zukunft führte man ihn entgegen!
Als Cortejo sich einige Zeit später von dem Kapitän verabschiedete, wurde er von zwei Matrosen an Land gerudert. Am Steuer saß ein Mann, der als zweiter Steuermann auf dem Schiff diente; es war jener Jacques Garbilot, der, wie wir bereits gesehen haben, im Gefängnis zu Barcelona starb und vor seinem Tod dem Pater Dominikaner in Gegenwart Doktor Sternaus beichtete.