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»Trau! nicht dem heit'ren Sonnenlicht,
Das mild hernieder leuchtet,
Und trau der Tauesperle nicht,
Die hell die Flur befeuchtet!
Hast du denn nicht des Donners Hall
Von weitem schon gehöret?
Bald wird der Tau zum Wogenschwall,
Der Feld und Fluß zerstöret.
Trau nicht dem Menschenangesicht,
In dem du Treu gelesen,
Und trau auch selbst dem Freunde nicht,
Der dir stets lieb gewesen!
Es kann wohl über Nacht schon sein,
So wird der Freund zum Feinde;
Es war die Liebe ja nur Schein,
Die ihn mit dir vereinte.«
In Mexiko, der Hauptstadt des alten Aztekenreichs, stand in der Nähe des Paseo einer der reichsten Paläste, den die Stadt Montezumas aufzuweisen hatte. Und dieser Palast gehörte einem der bedeutendsten Großgrundbesitzer des Landes, nämlich dem Grafen Ferdinando de Rodriganda y Sevilla.
Dieser saß in seinem Arbeitskabinett, umgeben von allem Luxus eines exotischen Landes, und ging die Rechnungen durch, die ihm sein Sekretär vorgelegt hatte.
Wer den Advokaten Gasparino Cortejo in Manresa oder Rodriganda kannte und hier diesen Sekretär in Mexiko erblickte, der würde über die Ähnlichkeit beider erstaunt gewesen sein, und wirklich – der Sekretär hieß Pablo Cortejo und war der Bruder des Advokaten Gasparino Cortejo.
Er schien sich gegenwärtig in keiner rosigen Laune zu befinden. Seine lange, hagere Gestalt war demütig zusammengeknickt; seine bleichen, schmalen Lippen preßten sich unmutig nach innen, und aus seinen kleinen Augen funkelte zuweilen unbemerkbar, aber desto giftiger ein Blick zu dem Grafen hinüber, der mit gerunzelten Brauen auf die Papiere schaute.
»Wahrlich, das ist nicht gut«, sagte Don Ferdinando, »das kann ich nicht billigen!« – »Junges Blut hat keine Tugend, Erlaucht!« entgegnete Cortejo entschuldigend.
Der Graf sah ihn ernst an und antwortete:
»Oh, ich denke, daß junges Blut zwar rauscht und schäumt, aber doch auch Tugend besitzen muß. Und ist das Tugend, was ich hier sehe?« – »Es ist eine kleine Schwäche!« – »So, Ihr nennt es also eine kleine Schwäche, wenn mein Neffe an einem einzigen Abend zwölftausend Pesos im Spiel verliert?« – »Er hat oft ähnliche Summen gewonnen, Don Ferdinando.« – »Ah, also spielt er oft? Also ist er ein Gewohnheitsspieler?« fragte der Graf in zorniger Verwunderung. »Ich werde ihm die Zügel kürzen lassen.«
Er blätterte weiter.
»Was ist das?« fragte er. »Ist diese Angelegenheit nicht geordnet worden?« – »Don Alfonzo hat die Summe, die Sie ihm dazu gewährten, anderweit verwenden müssen.« – »Wozu?« – »Er hat mir das nicht mitgeteilt; er ist mir ja keine Rechenschaft schuldig.« – »Rechenschaft allerdings nicht«, sagte der Graf, »aber ich glaubte, er könnte es Euch so im Vertrauen mitgeteilt haben. Es will mir überhaupt scheinen, als ob mein Neffe Euch mehr Vertrauen schenkte als mir.« – »Oh, Don Ferdinando, das scheint nur so! Ich erfreue mich allerdings einigen Vertrauens von seiten Don Alfonzos, aber ...« – »Und als ob Ihr«, fuhr der Graf mit scharfer Stimme fort, »von diesem Vertrauen nicht den rechten Gebrauch machtet!« – »Erlaucht!« – »Schon gut. Wenn mein Neffe in so vielen Stücken nicht mein Wohlgefallen besitzt, so seid Ihr allein es, auf den ich die Schuld zu schieben habe. Wollt Ihr etwa nach so langjähriger Dienstzeit entlassen werden?«
Die Brauen des Sekretärs zogen sich wie drohend zusammen, nahmen aber im nächsten Augenblick wieder ihren gewöhnlichen Ausdruck ein. Und auch die Antwort erklang im untertänigsten Ton:
»Darf ich mir vielleicht die Ansicht erlauben, daß Durchlaucht sich irren?« – »Ich irre mich nicht«, sagte der Graf streng. »Warum liegt mein Neffe während des ganzen Tages bei Euch? Warum seid Ihr bei ihm, sobald ich Eurer bedarf? Ihr wißt, daß ich nicht gern und nicht viel spreche, wenn ich aber einmal rede, so weiß ich auch, was ich sage. Warum entschuldigt Ihr seine Leidenschaft für das Spiel?« – »Andere junge Herren tun auch so.« – »Das ist für ihn kein Grund, mein Geld zu vergeuden. Und warum gibt er Wechsel mit meiner Unterschrift?« – »Ein kleiner Zufall, Erlaucht!« – »Was?« brauste der Graf auf. »Das nennt Ihr einen Zufall? Ist der Kredit meines Neffen so gefallen, daß man seine Wechsel nicht mehr honoriert, sondern meinen Namen verlangt? Wer hat meinen Namen auf das Papier gesetzt, er oder Ihr?« – »Er.« – »Er soll es zum letzten Mal getan haben. Und auch Ihr werdet niemals wieder ein Blankett von mir in die Hand bekommen. Hier die letztere Angelegenheit« – der Graf deutete auf einen der Briefe – »war meinerseits mit fünftausend Piaster beigelegt. Wem habe ich diese Summe gegeben?« – »Mir«, antwortete der Sekretär in kleinlautem Ton, aber mit kochendem Blut. – »Wozu?« – »Ich sollte sie dem Mädchen auszahlen.« – »Jetzt sagt Ihr, daß mein Neffe sie anderweit verwenden mußte, so habt Ihr also ihm das Geld gegeben?« – »Er bat mich darum.« – »Ach so! Der Wunsch des leichtsinnigen Neffen gilt mehr als der Befehl des Oheims, in dessen Dienst Ihr steht! Ich werde meine Maßregeln ergreifen müssen, um mir Gehorsam zu verschaffen. Verstanden?«
Der Graf nahm die anderen Skripturen eine nach der andern auf, um sie durchzulesen. Da plötzlich schoß ihm ein dunkler Blutstrom in das aristokratisch bleiche Angesicht; es war die Röte der Scham und der Entrüstung. Er sprang empor und trat dem Sekretär mit blitzendem Auge entgegen.
»Wißt Ihr, wo Alfonzo sich jetzt befindet?« fragte er. – »Auf der Hacienda del Erina.« – »Weshalb?« – »Das entzieht sich meiner Kenntnis.« – »Oh, ich wußte es auch nicht, weshalb er auf einmal eine so plötzliche Sehnsucht nach der fernen Hazienda verspürte und warum Ihr die Erfüllung dieser Sehnsucht befürwortetet; jetzt aber sehe ich klar!«
Der Sekretär war doch bleich geworden. Der Graf aber schritt in höchster Erregung im Zimmer auf und ab, dann wandte er sich plötzlich um und fragte:
»Was ist es mit dem Duell?« – »Mit welchem Duell?« fragte der Sekretär mit der unschuldigsten Miene. – »Cortejo!« donnerte ihn der Graf an. – »Ich weiß wirklich nichts!« – »Gut! Aber Ihr täuscht mich nicht. Wenn Ihr nicht redet, seid Ihr augenblicklich entlassen. Entschließt Euch kurz!«
Cortejo sah sich in die Enge getrieben. Er konnte nicht weichen und entgegnete also in bittendem Ton:
»Verzeihung, Don Ferdinando! Don Alfonzo hat mir das strengste Schweigen anbefohlen.« – »Wer hat Euch zu befehlen, ich oder mein Neffe? Heraus mit der Sprache!« – »Don Alfonzo ging nach der Hazienda, um einem Streit auszuweichen.« – »Erklärt Euch deutlicher. Graf Embarez schreibt mir hier folgendes:
Don Ferdinando!
Ich ersuche Euch, Euren Neffen zu veranlassen, heute über acht Tage auf dem Rendezvous zu erscheinen. Die Zeit ist bereits seit drei Wochen um. Eine solche Angelegenheit erlaubt keine Minute Aufschub. Ist Don Alfonzo nicht zur angegebenen Zeit zur Stelle, so werde ich den Fall ohne alle weitere Rücksicht im ›Diario oficial‹ und in ›La Sociedad‹ veröffentlichen. Ich hoffe, daß Euch mehr an der Ehre Eures Hauses, als an einem Fetzen der Haut Eures Neffen gelegen ist.
Almanzo, Graf Embarez.
Nun sagt, wie es steht! Liegt etwa eine Forderung zum Duell vor, wie ich nach dem Wortlaut dieser ehrenrührigen Epistel schließen muß?« – »Der Graf hat Don Alfonzo beleidigt.« – »Ah, und mein Neffe hat ihn gefordert?« – »Nein. Der Graf hat Don Alfonzo gefordert.« – »So ist es umgekehrt, mein Neffe hat ihn beleidigt. Gebt Euch um Gottes willen keine Mühe, auch diese Sache zu bemänteln. Hat meine Neffe die Forderung angenommen?« – »Er mußte.« – »Ah! Er mußte! Das heißt, eigentlich wäre er feig genug gewesen, sie nicht anzunehmen! Welch eine Schande! Wo ist das Rendezvous?« – »Am Ufer des Sees von Tescuco.« – »Und Alfonzo ist nicht erschienen?« – »Graf Embarez ist als der gewandteste Fechter und Schütze bekannt und gefürchtet«, entgegnete der Sekretär mit sichtbarer Verlegenheit.
Da fuhr der Graf mit der Hand nach dem Herzen, es war ihm, als ob er einen Stich in dasselbe bekommen hätte.
»Barmherziger Gott!« stöhnte er. »Mein Neffe ein solcher Feigling! Meine Ehre ist vernichtet. Er hat eine Forderung akzeptiert und ist aus Angst entflohen! Der Name Rodriganda ist befleckt und geschändet für ewige Zeiten, wenn nichts geschieht, um ihn zu retten.«
Er wanderte abermals im Zimmer auf und ab, dann blieb er stehen und sagte:
»Hört, was ich Euch befehle! Es gehen sofort zwei Kuriere nach der Hazienda ab.« – »Zwei?« – »Ja, damit die Botschaft sicherer läuft. Sie haben meinem Neffen zu sagen, daß er sogleich nach Mexiko komme. Hört Dir? Sogleich!« – »Erlaucht wollen bemerken, daß er binnen drei Tagen unmöglich hier sein kann!« – »Ich weiß das. Ich werde nachher zu dem Grafen fahren und ihm mitteilen, daß ich die Angelegenheit in Namen meines Sohnes ausfechten werde. Nach dem Wortlaut des Briefes hat Alfonzo sich für Säbel entschieden?«
Über das Gesicht des Sekretärs zuckte ein freudiger Blitz.
»Ja«, antwortete er. – »So feig und doch so unvorsichtig. Hätte er Pistolen auf weite Distanz genommen, so brauchte er nicht auszureißen. Geht jetzt und sendet mir die alte Maria Hermoyes.«
Der Sekretär ging, es war ihm, als sei er aus der Hölle erlöst worden.
Nach einiger Zeit trat eine alte Frau von sehr ehrwürdigem Äußeren bei dem Grafen ein. Sie verneigte sich ehrerbietig und blieb an der Tür stehen.
»Tritt näher, Maria, und setz dich!« empfing sie Don Ferdinando im leutseligen Ton, denn die alte Maria Hermoyes war als die treueste Dienerin des Hauses bekannt und wurde als solche vom Grafen behandelt.
Er schritt noch immer im Zimmer auf und ab, es kostete ihm Mühe, seinen Zorn zu besiegen oder zu verbergen. Endlich sagte er:
»Maria, du bist mir treu. Nicht wahr?« – »Don Ferdinando«, beteuerte sie, »Sie wissen, daß mein Leben Ihnen gehört.« – »Ich weiß es. Wirst du mir die Wahrheit sagen?« – »Ich habe Sie noch nie belogen.« – »Ich glaube es, aber es gibt Dinge, bei denen selbst der treueste Diener meint, daß es für seinen Herrn das beste sei, das Richtige und Wahre nicht zu erfahren. Du jedoch wirst mir die Wahrheit sagen?« – »So, als ob ich vor dem Beichtvater oder vor Gott stände.« – »Nun gut! Du hast mir damals meinen Neffen von Spanien herübergebracht. Sage mir aufrichtig, ist er wirklich mein Neffe?«
Die Dienerin erschrak sichtlich.
»Mein Gott, welche Frage!« stammelte sie. – »Antworte!« – »Warum sollte er es nicht sein, Don Ferdinando?« – »Du sollst mir nur mit einem einzigen Wort antworten«, gebot er. »Ja oder nein!« – »Das kann ich nicht!« – »Warum?« – »Gnädiger Herr, darf ich wirklich reden?« – »Ja, ich habe es dir sogar befohlen.« – »Das ist ein Punkt, der mir erst wenig Sorge machte, mit der Zeit sich mir aber immer mehr auf das Herz gelegt hat!« – »Ah! Hast du bereits darüber gesprochen?« – »Zu keinem Menschen«, erwiderte die ehrliche Alte. – »Nun, so rede.« – »Es fiel mir auf, daß Don Alfonzo dem Señor Pablo Cortejo so ähnlich sieht ...« – »Bei Gott, das ist mir auch aufgefallen, das eben hat mich auf Gedanken gebracht, die ich nicht wieder loswerden kann.« – »Sodann fiel es mir auf, daß er und Cortejo stets beisammen sind und immer Heimlichkeiten haben.« – »Das weiß ich. Es wird aber anders werden.« – »Und sodann ...«
Sie stockte, trotz ihres Alters errötend.
»Nun?« fragte der Graf. – »Sodann fiel mir noch ein Drittes auf,« fuhr sie fort. »Ich muß nämlich sagen, daß der Bruder des Señor Pablo ...« Wieder stockte sie.
»Sprich nur weiter. Was du sagst, ist nur für mich. Du meinst den Advokaten Gasparino Cortejo in Manresa?« – »Ja. Er ging mir in früheren Jahren ein wenig nach, obgleich ich älter war als er, und da schenkte er mir sein Bild, das ich noch besitze.« – »Und dieses Bild?« – »Es ist das leibhaftige Konterfei des Grafen Alfonzo.« – »Ah, darf ich es einmal sehen?« – »Ja, Erlaucht.« – »So bring es mir.«
Die Dienerin eilte fort und brachte darauf ein Porträt in Kreidemanier. Kaum hatte der Graf einen Blick auf dasselbe geworfen, so rief er erschüttert:
»Mein Gott, es stimmt! Das ist Alfonzo, wie er leibt und lebt!« – »Ja, das sah ich auch, Don Ferdinando, und das drückt mir fast das Herz ab!« – »Ist jener Gasparino Cortejo verheiratet?« – »Nein.« – »Hat er nie ein ernstes Verhältnis gehabt?« – »Hm! Man spricht nicht davon.« – »Du sollst aber davon sprechen!« gebot er. – »Sie werden mir zürnen!« – »Warum?« – »Weil – weil ...« antwortete sie stockend, »weil es eine Verwandte von Ihnen betrifft!« – »Ah! Wer ist es?« – »Señorita Clarissa, die später Schwester Clarissa genannt wurde.«
Der Graf fuhr mit dem Bild wieder empor zu den Augen und warf einen langen, scharf prüfenden Blick auf dasselbe.
»Wahrhaftig, es stimmt«, sagte er endlich. »Ich kannte diese Cousine sehr genau. Und jetzt bemerke ich, daß dieser Alfonzo ihr ebenso ähnlich sieht!« – »Das ist auch mir aufgefallen, gnädiger Herr!« – »So? Gut, so laß uns einmal prüfen. Woher weißt du, daß jener Cortejo ein Verhältnis mit dieser frommen Cousine Clarissa hatte?« – »Ich habe sie im Park von Rodriganda überrascht, wo sie miteinander spazierengingen.« – »Weiter weißt du nichts?« – »Oh«, entgegnete die Alte verschämt, »ich war damals eifersüchtig und ging ihnen nach. Ich überraschte sie, als sie sich küßten.« – »Das könnte genügen.« – »Es traf sich stets, daß sie miteinander auf Rodriganda waren. Sie kam aus ihrem Stift und er aus Manresa.« – »Gut. Das wäre also erwiesen. Wie aber nun weiter? Du warst die Amme des kleinen Alfonzo?« – »Ja, sechs Monate, dann entwöhnte ich ihn. Ich sollte auf dem Schloß bleiben, aber es gab da einen Tischler, der mich heiraten wollte, und so wurde ich seine Frau und zog zu ihm.« – »Weiter.« – »Mein Mann war kränklich und starb. Nun stand ich wieder allein. Das war zu der Zeit, in der Sie um den kleinen Alfonzo gebeten hatten. Dir Wunsch wurde erfüllt, da damals noch ein älterer Knabe lebte, und man fragte mich, ob ich nicht Lust habe, das Kind nach Mexiko zu begleiten. Ich sagte zu, denn ich hatte niemand, der mir lieb war.« – »Wer stellte diese Frage an dich?« – »Gasparino Cortejo.« – »Ah, er wollte eine Zeugin seiner Liebschaft entfernen.« – »Jedenfalls, obgleich ich daran erst später gedacht habe.« – »Du kamst also von da an bis zur Abreise nicht wieder auf das Schloß?« – »Nein, denn viel Zeit gab es nicht, da das Schiff segelfertig war. Ich wurde erst am Morgen der Abreise auf das Schloß verlangt und saß dann mit dem Grafen, der Gräfin und Alfonzo im Wagen, der uns nach Barcelona brachte. Dort fanden wir Señor Pedro Arbellez, der jetzt Haziendero ist, damals aber noch Ihr Inspektor war. Ihm wurde ich mit dem Kind übergeben.« – »Wurdet ihr von dem Grafen und der Gräfin auf das Schiff begleitet?« – »Nein. Beide fuhren gegen Abend wieder ab, da der Abschied die liebe, gnädige Frau so sehr anzugreifen schien. Dann bin ich von dem Kind nicht wieder fortgekommen. Aber am Morgen schien es mir, als ob der Kleine ein anderes Gesicht habe.« – »Ah! Weiter nichts?« – »Oh, doch noch etwas, aber nur eine Kleinigkeit. Wenn man arm ist, so ist man neugierig auf die Sachen, die reiche Leute besitzen. Als ich den Knaben zur Ruhe legte und entkleidete, sah ich mir alles, was er trug, genau an. Und am anderen Morgen war es mir, als ob das Hemdchen eine andere Nummer habe, als am Abend vorher.«
Der Graf horchte auf.
»Es schien dir nur so?« fragte er gespannt. »Oder war es dir gewiß?« – »Gewiß nicht. Ich hatte die Nummer zwar ganz genau gesehen, aber nicht die Absicht gehabt, sie mir zu merken; dennoch aber möchte ich jetzt behaupten, daß sie eine andere geworden war.« – »Das wäre nun freilich von der allerhöchsten Wichtigkeit. War deine Tür verschlossen?« – »Nein.« – »In welchem Gasthof war es? Ich habe den Namen wieder vergessen.« – »Im Gasthaus ›L'Hombre grand‹ in Barcelona.« – »Weißt du nicht, wer an diesem Abend noch dort logierte?« – »Ich erkundigte mich am Morgen, aber ganz zufällig und nicht etwa, weil ich an eine Verwechselung des Kindes gedacht hätte. Aber was ich erfuhr, erschien mir in späterer Zeit doch auffällig.« – »Wieso?« – »Es hatte nicht weit von uns ein Mann logiert, zu dem später zwei andere Männer kamen; sie alle drei waren unbekannt und hatten bereits am frühesten Morgen das Haus wieder verlassen. Der eine hatte dabei ein Bündel unter dem Arm getragen.« – »Wer hat dies gesehen?« – »Eine Magd, die Zahnschmerzen hatte und nicht schlafen konnte.« – »Danach könnte also der Knabe samt der Wäsche, wenigstens samt dem Hemd verwechselt worden sein. Hätte Cortejo auf Rodriganda zu der Kinderwäsche gekonnt?« – »Er nicht, aber die Schwester Clarissa.« – »Das ist ganz dasselbe. Gibt es noch etwas, was du über diese Angelegenheit zu sagen hättest?« – »Sicheres nicht, aber Kleinigkeiten, die man erst nicht beachtet, die später aber dennoch auffällig erscheinen.« – »Nenne sie mir getrost. In solchen Fällen sind Kleinigkeiten oft von hohem Wert.« – »Nun, der kleine Knabe sprach nie von seinen Eltern, während er doch der Trennung wegen gerade nach ihnen hätte weinen sollen.« – »Ah!« – »Ja, es war, als sei er gar nicht bei Eltern gewesen.« – »Das ist ein wichtiger Punkt« – »Und wenn ich einmal von dem Grafen und der Gräfin begann, so sagte er selten Papa und Mama, sondern meist nur Vater und Mutter.« – »Auch das ist wertvoll!« – »Er redete überhaupt nicht gern von der Heimat. Es war, als sei es ihm verboten, von ihr zu sprechen. Ferner hörte er sehr oft nicht auf den Namen Alfonzo, und es war, als sei er bisher mit einem anderen gerufen worden.« – »Mein Gott, das alles sagst du mir erst jetzt?« – »Oh, das fiel mir alles zuerst gar nicht auf. Ich war ein einfaches, dummes Ding und hatte gar keinen Verdacht. Hier in Ihrem Haus wurde ich ein klein wenig klüger, und als ich dann später die wunderbare Ähnlichkeit bemerkte, von der wir vorhin gesprochen haben, dann erst stellte sich der Verdacht ein, und ich begann nachzudenken, aber zu spät!« – »Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Gottes Wege sind sehr oft wunderbar und unerforschlich.« – »Ferner fiel mir auf, daß der Knabe während der Reise mehr nach Señor Pablo Cortejo als nach Ihnen fragte, und endlich habe ich hier bemerkt, daß beide sich du nennen, wenn sie denken, daß sie allein sind.« – »Wirklich?« fragte der Graf hastig. – »Ja. Ich habe sogar einmal gehört, daß der junge Graf den Sekretär Onkel nannte.« – »Sagst du die Wahrheit?« – »Ja. Es war im Garten, und die beiden hatten keine Ahnung davon, daß ich sie beobachtete.« – »Weiter!« – »Das ist alles, Don Ferdinando. Ich weiß nichts weiter.« – »Oh, es ist genug. Ich habe jetzt die Überzeugung, daß hier ein Schurkenstreich begangen ist. Aber wehe ihnen!« – »Ich soll doch schweigen über das, was wir soeben gesprochen haben, nicht wahr, gnädiger Herr?« – »Natürlich! Sie dürfen nicht erfahren, daß wir eine Ahnung haben, sonst würden sie den Faden zerreißen, der uns durch das Geheimnis leiten soll. Aber, wenn es so ist, wie wir denken, wo ist dann der richtige Knabe Alfonzo?« – »Den haben jene drei Männer mit fortgenommen.« – »Und wohl gar getötet?« – »O mein Gott!« – »Ich werde es erfahren, ich muß es erfahren!« sagte der Graf zornig. »Also darum ist dieser Alfonzo so aus der Art geschlagen, und darum konnte in mir kein verwandtschaftliches Gefühl für ihn aufkommen. Aber er ist mein Neffe vor den Augen der Welt, ja, ich habe ihn stets meinen Sohn genannt und nennen lassen; ich muß also auch heute wieder für ihn eintreten. Gehe, meine gute Maria, und sage dem Kutscher, daß er anspannen soll. Wenn ich dich in dieser Angelegenheit wieder brauche, werde ich dich rufen lassen.«
Die Alte entfernte sich.
Der Graf aber schloß die Papiere, die ihm so viel Ärger bereitet hatten, wieder in seinen Schreibtisch ein und ging hinab vor das Portal, um in die kostbare Equipage zu steigen.
»Zum Grafen Embarez!« gebot er dem Kutscher.
Die Karosse des Grafen Rodriganda hielt bald vor dem Haus des Grafen. Don Ferdinando ließ sich melden und wurde angenommen. Der Graf, ein noch junger Mann, empfing ihn mit ausgesuchter, aber dabei doch kalter Höflichkeit und bot ihm einen Sessel an, während er selbst stehen blieb.
Dies gab dem Grafen Rodriganda Veranlassung, den Sessel auszuschlagen und auch stehen zu bleiben.
»Ich erhielt heute eine Zuschrift von Ihnen«, begann er.
Embarez verbeugte sich zustimmend.
»Und hatte Veranlassung, mich über den Ton, in dem sie verfaßt ist, zu wundern.« – »Oh, dieser Ton ist sehr natürlich.« – »Ihnen vielleicht, mir aber nicht. Ich pflege höflich zu sein, gegen jedermann.« – »Ich ebenso, wenn er es wert ist.«
Rodriganda trat einen Schritt zurück.
»Sie wollen sagen, daß ich den Wert, den Sie meinen, nicht besitze?« fragte er scharf. – »Von Ihnen war keine Rede.« – »Aber der Brief war an mich gerichtet.« – »Und handelte von Ihrem Neffen.« – »Ich bitte um Aufklärung. Was haben Sie mit ihm?« – »Eine Ehrensache, denn er beleidigte meine Schwester, darauf forderte ich ihn auf Degen, und er nahm die Forderung an.« – »Wann sollte das Duell stattfinden?« – »Drei Tage später. Leider erschien er aber nicht, und ich vermute, daß es ihm scheint, als ob seine Ehre nicht einen Degenstoß wert sei. Oder vielleicht ist er auch feig. Ich muß es wenigstens glauben.«
Rodriganda war bis in die tiefste Seele getroffen, dennoch behauptete er seine Ruhe und erwiderte:
»Sie irren, Graf, und ich muß Ihnen bemerken, daß es mir nicht sehr edel erscheint, einen Unschuldigen, wie ich doch in dieser Sache bin, zu kränken. Ich teile Ihnen mit, daß mein Neffe gezwungen war, einen Ausflug in einen verrufenen Teil des Landes zu machen. Unter solchen Umständen kann man die ganz feste Absicht haben, sich zur rechten Zeit zu stellen und doch daran verhindert zu sein. Ich an Ihrem Platz hätte höflich bei dem Oheim angefragt, ehe ich gewagt hätte, einen Ehrenmann zu kränken, der Sie niemals beleidigt hat und an dessen Namen nicht der geringste Makel haftet.«
Diese Worte machten Eindruck auf den Gegner. Er erwiderte:
»Was ich schrieb, galt dem Neffen!« – »Das ist keine Ausrede. Sie halten mich für den Vertreter des Neffen. Nun wohl, wenn Sie die Worte an mich richten, die ihm gelten, so ersuche ich Sie, auch die Säbelhiebe gegen mich zu richten, die Sie ihm zugedenken.« – »Ah! Sie meinen ...?« – »Daß ich anstelle meines Neffen Ihre Forderung akzeptiere.« – »Graf, das war nicht meine Absicht«, sagte Embarez schnell. – »Aber die meinige.« – »Ich bitte Sie, zurückzutreten!« – »Und ich ersuche Sie, anzunehmen!« versetzte Rodriganda ernst, fast drohend. – »Wohl! Wenn Sie darauf beharren, so bin ich ja gezwungen.« – »Wann beliebt es Ihnen?« – »Wann Sie Zeit haben.« – »Morgen?« – »Haben Sie es so eilig, zu sterben, Don Ferdinando?« fragte Embarez sarkastisch. – »Mein Leben steht in Gottes Hand«, antwortete der Gefragte ruhig. – »Welche Waffen wählen Sie?« – »Als Stellvertreter meines Neffen muß ich an seiner Wahl festhalten, also Degen, auch den Ort bestimme ich, den mein Neffe gewählt hat.« – »Der Sekundant?« – »Welcher Herr diente meinem Neffen?« – »Vicomte de Lorrière.« – »Ich werde Ihnen diesen Herrn sofort senden.« – »Und ich werde ihn erwarten.« – »So sind wir zu Ende, und ich bitte Sie, mich zu entlassen.«
Don Ferdinando ging und fuhr nach der Wohnung des Vicomte de Lorrière. Dieser war fürchterlich darüber aufgebracht, daß Alfonzo nicht erschienen war, doch nahm er Rücksicht auf die Ehrenhaftigkeit Don Ferdinandos und erklärte sich bereit, worauf der Graf Rodriganda nach Hause zurückkehrte.
Er schrieb noch während des ganzen Nachmittags und ließ am Abend die treue Maria zu sich rufen. Sie glaubte, daß er sie wieder wegen des Kindestauschs sprechen wolle, fand sich aber enttäuscht.
»Maria«, sagte er, »ich werde dir ein Geheimnis anvertrauen, und du wirst es nicht verraten.« – »Oh, Herr, ich werde gewiß schweigen«, erwiderte sie. – »Du weißt doch, was ein Duell ist?« – »Ja.« – »Ich werde mich morgen früh schlagen.« – »Ist's wahr?« fragte sie erschrocken. »O mein lieber Don Ferdinando, das werden Sie nicht tun.« – »Ich muß«, antwortete er. »Dieser Alfonzo hat eine Forderung erhalten und ist feig entflohen. Um nun die Ehre meines Namens zu retten, muß ich für ihn eintreten.« – »Oh mein Gott, er wird der Mörder seines Oheims sein.« – »Nein. Ich verstehe den Degen gut zu führen, wenn ich auch kein Raufbold bin. Ich hoffe, daß ich unverletzt bleibe. Aus Vorsicht aber habe ich mein Testament gemacht ...« – »Ich denke, das ist bereits längst fertig?« fragte sie naiv. – »Ja, das, worin ich Alfonzo zum Universalerben einsetzte. Das wird jedoch jetzt anders. Ich habe Mißtrauen gefaßt und andere Bestimmungen getroffen. Hier ist das neue Schriftstück. Du sollst es mir aufbewahren.« – »Ich? Ach, gnädiger Herr, ich armes Weib ...!« sagte sie weinend. – »Du bist treu und die einzige, auf die ich mich verlassen kann. Kehre ich morgen zurück, so gibst du es mir wieder. Bleibe ich aber, so übergibst du es dem Gouverneur, der dann die nötigen Schritte tun wird. Gute Nacht.«
Die Alte wollte Widerspruch erheben, er aber schob sie hinaus, um nicht in eine weiche Stimmung zu geraten, die ihm ja nichts nützen konnte.