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Vollkommenheit.

Das Wort Vollkommenheit ist dunkel in seiner äußern Geschichte; daß es aber für uns nur noch ein Scheinbegriff ist, das braucht fast nicht mehr bewiesen zu werden.

Außerhalb des Deutschen hat man die lateinischen Worte perfectus, perfecte, perfectio herübergenommen, wohl auch als Übersetzung einiger Bedeutungen des griechischen τελειος. Im Althochdeutschen versuchte man sich an genauen Lehnübersetzungen von perfectus wie: duruthan, die nicht geblieben sind. Ein mittelhochdeutsches Verbum volkumen (das gleichfalls verloren gegangen ist) scheint ein Gegenstück zu dem noch vorhandenen vollbringen gewesen zu sein und mag dem perficere genauer entsprochen haben, als wir jetzt fühlen. Das Partizipium »vollkommen« mag in der Anwendung vollkommenes Gewand noch etwas von der alten sinnlichen Bedeutung mitenthalten: ausreichend für die Fülle.

Im alten Latein hatte perfectus noch keinen transzendenten Sinn; perfect ( parfait) war der Mensch, menschliches Tun, aber auch die Zeit, wenn ein menschliches Ziel (τελος) erreicht war: etwa tüchtig. Das Beiwort konnte gesteigert werden; Perfectissimus war einer der byzantinischen Ehrentitel zur Kaiserzeit; der Anspruch auf diesen Titel hatte sogar einen besonderen Namen: perfectissimatus.

Der Scholastik war es vorbehalten, den Begriff wie viele andre durch subtile Untersuchung ad absurdum zu führen. Perfectio, Vollkommenheit konnte in der Menschensprache von Hause aus, wie eben im Lateinischen, nur eine relative Güte eines Wesens oder eines Dinges bedeuten; wie denn das Denken und seine Begriffe sich immer in Relationen bewegen. Der Gottbegriff aber bot sehr willkommene Gelegenheit, von einer absoluten Vollkommenheit zu reden. Tat man das, so hatte man wieder einmal einen einfachen und noch dazu alltäglichen Begriff zu theologischer Würde erhoben. Gott besaß die erstrebenswerten Eigenschaften der Weisheit, der Güte, der Macht in höchster Vollkommenheit; es war für Gott wesentlich, daß er vollkommene Weisheit, Güte und Macht besaß; er war die Vollkommenheit in Person, wie er überall das Unwirkliche war. Die Geschöpfe waren nicht vollkommen, aber sie konnten den Begriff der Vollkommenheit (eben am Beispiel des Gottbegriffs) fassen und sich die Vollkommenheit als letztes Ziel, als Ideal vorstellen. Ein Fortschritt in der Welt, ein Aufsteigen zu besseren Verhältnissen wird von vielen angenommen; in der Sprache der Scholastiker wird dieser Glaube heute noch mitunter Perfektibilität genannt; die Tendenz nach absoluter Vollkommenheit wird also mitverstanden. Es ist so, als ob der Arzt, der die Temperatur von 39,7° auf 39,2° gefallen findet, zum Kranken sagen würde: Das ist die Perfektibilität; Sie nähern sich der Vollkommenheit.

Es ist für die Scholastik charakteristisch, daß sie ihr theologisches Denken immer für streng logisch hielt und es auch mit Scharfsinn den logischen Forderungen anpaßte. Die Perfektion oder Vollkommenheit, die eine Eigenschaft des wohlbekannten Gottes war und die darum in der Menschensprache nicht fehlen durfte, mußte definiert werden. Nichts leichter als das für den Wortaberglauben der ganzen langen Zeit. »Perfectio est carentia defectus«, lehrt noch Micraelius. »Vollkommenheit ist das Fehlen von Fehlern«; ich brauche nur so zu übersetzen, um die Armseligkeit des Definitionsversuchs klar zu machen. Das Fehlen ist ein rein negativer Begriff; die Fehler aber, deren Fehlen die Vollkommenheit ausmachen soll, sind als bloße Negation nicht zu verstehen. Es muß irgend etwas da sein, das anders ist (aber doch positiv ist) als es sein soll, als das Wesen des Dinges erwarten ließ, damit von Fehlern die Rede sein konnte. Darum war auch eine zweite feinere Definition viel folgenreicher: Perfectum est, cui ad essentiam nihil deest. Vollkommen oder vollendet ist, wem zu seinem Sein oder Wesen nichts fehlt. Man achte auf die Möglichkeit, essentia in unsrer Sprache durch Sein oder durch Wesen wiederzugeben.

Setze ich Wesen ein und behaupte: »vollkommen sei, wem nichts zu seinem Wesen fehle«, so habe ich bei Wesen mitzuverstehen, was bei Erscheinungen der Natur und der Kunst ein notwendiges Merkmal ist. Und plötzlich schiebt sich da ein Begriff aus dem Moralgebiet in das der Ontologie, der Sollbegriff: das Wesen eines Dinges ist erreicht, wenn das Ding so ist, wie es sein soll. Das Einschieben des Sollbegriffs in diese Vorstellungen ist nicht etwa ein Werk meiner Bosheit; der alte Walch, der die Weltanschauung der vorkantischen Zeit sehr gut wiedergibt, beginnt den entsprechenden Artikel seines Lexikons mit folgender Definition: »Vollkommenheit ist diejenige Eigenschaft einer Sache, da sie alles dasjenige an sich hat, was sie ihrem Wesen und ihrer Absicht nach, warum sie ist, an sich haben soll«. Niemand fragte, mit welchem Rechte der Sollbegriff, der zur Not in Beziehung auf menschliche Handlungen einen konventionellen Sinn haben konnte, auf Realitäten, auf Erscheinungen der Natur oder der Kunst, ausgedehnt wurde. Niemand merkte, daß der erschreckliche Satz Hegels »Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig« (gewöhnlich so zitiert: »Alles, was ist, ist vernünftig«) in der scholastischen Lehre, omne ens esse perfectum sive bonum, schon längst vorweggenommen war. Und so war es immerhin ein Beweis von Besinnung, als Christian Wolf, nachdem er genugsam über die Vollkommenheit geschwatzt hatte (Vernünftige Gedanken von Gott usw. II. § 254), die Unmöglichkeit, die Vollkommenheit der Welt zu begreifen, als Lehre aufstellte. »Da ohne die allgemeine Harmonie der Dinge die Vollkommenheit der Welt nicht begriffen werden mag; die allgemeine Harmonie der Dinge aber nicht allein für eine Kreatur unbegreiflich ist, sondern wir auch sogar überhaupt noch nicht sagen können, worinnen sie eigentlich bestehet«.

Setze ich in der scholastischen Definition »perfectum est cui ad essentiam nihil deest« für essentia sein ein, dann freilich verschwindet der Sollbegriff; Wirklichkeit und Vollkommenheit fallen wieder zusammen, aber so, daß Vollkommenheit überhaupt keinen andern Sinn mehr hat, als den der Existenz. Und diese äußerste Konsequenz aus der scholastischen Verlegenheitsdefinition ist schon vor 250 Jahren gezogen worden, von Spinoza. In einem seiner unschätzbaren Exkurse, wo er, wie in seinen Briefen, frei von der mathematischen Form und frei vom eigenen System ganz er selbst ist, hat er sich ausführlich über den Begriff der Vollkommenheit ausgesprochen, in der Vorrede zum 4. Teile der Ethik, in der Untersuchung über die menschliche Knechtschaft. Knechtschaft, servitus, nennt er die Impotenz des Menschen, die Ohnmacht, seine Affekte zu mäßigen oder zu bezwingen. Diese Knechtschaft verhindert, was man vulgär die menschliche Vollkommenheit nennt. Die erste Bedeutung der Worte (vocabulorum) perficere und perfectum muß eine relative gewesen sein. »Wer sich vorgenommen hat, eine Sache zu fertigen und sie dann verfertigt hat ( perfecit), hält seine Sache für vollendet und nicht er allein, sondern jeder, der den Vorsatz und das Ziel des Urhebers kennt oder zu kennen glaubt … Wer aber ein Werk erblickt, das er mit nichts Ähnlichem vergleichen kann und dessen Absicht er nicht kennt, der könnte nicht sagen, ob das Werk fertig, perfectum, sei oder nicht.« Die menschliche Sprache bot nun mit der Zeit Ideale ( ideas universales) von Menschenwerken; was diesen Idealen in der Ausführung von Häusern, Türmen u. dgl. nicht entspricht, das wird unvollkommen genannt. »Aus dem gleichen Grunde aber werden auch Naturgegenstände, welche doch nicht von Menschenhand geschaffen sind, in der Gemeinsprache ( vulgo) vollkommen und unvollkommen genannt; die Menschen pflegen nämlich auch von Naturgegenständen Ideale zu bilden und stellen sich vor, die Natur handle wie der Mensch nach Endursachen, betrachte diese Ideale als Vorbilder und arbeite darnach. Kommt nun in der Natur etwas vor, was dem eingebildeten Vorbild weniger entspricht, so reden sie, daß die Natur selbst gefehlt oder gesündigt habe, daß sie die Sache unvollkommen gelassen habe. Die Menschen sind also gewöhnt, Naturobjekte vollkommen oder unvollkommen zu nennen, nach einem Vorurteil, nicht nach wahrer Erkenntnis.« – Man achte darauf, mit wie erhabenem Hohn da Spinoza die von Menschen vorgefaßten Ideen oder Ideale, die doch Nachbilder des Denkens sind, angebliche Vorbilder ( exemplaria) der Natur nennt. Er sagt es nicht ausdrücklich, aber offenbar will er den Sollbegriff für die Natur ablehnen. Die Ideale der vorgefaßten Meinung wären ja, wenn sich die Natur nach ihnen richten wollte und könnte, ein ihr fremdes Wollen, also ein Sollen. Spinoza greift noch weiter aus, wenn er fortfährt, der Natur jeden Zweck abzusprechen. Ich mag die granitnen Sätze nicht übersetzen: »Ratio igitur, seu causa, cur Deus seu Natura agit, et cur existit, una eademque est … Causa autem, quae finalis dicitur, nihil est praeter ipsum humanum appetitum, quatenus is alicuius rei veluti principium seu causa primaria consideratur.«

Die Menschen sehen in ihren Absichten Ursachen ihrer Handlungen ( causas finales), weil sie sich ihrer Absichten oder Zwecke bewußt sind, nicht aber bewußt sind der wirklich treibenden Ursachen, die sie zu ihren Absichten zwingen. Es sind also nicht einmal im Menschen Zweckursachen vorhanden, geschweige denn in der Natur. »Die Rederei, daß die Natur manchmal fehle oder sündige oder Unvollkommenes hervorbringe, rechne ich also zu den Erfindungen, von denen ich im Anhang zum ersten Teile gehandelt habe (wo von den Vorurteilen Gut und Böse, Verdienst und Sünde, Lob und Tadel, Ordnung und Verwirrung, Schönheit und Häßlichkeit die Rede ist). Vollkommenheit und Unvollkommenheit sind also wirklich nur modi cogitandi, d. h. Begriffe, die wir aus der Vergleichung von Individuen derselben Art zu bilden pflegen (fingere); und darum habe ich gelehrt, daß ich unter Realität und Vollkommenheit dasselbe verstehe.« Schon zu Spinozas Zeit hatte man in dem Begriffe der Vollkommenheit etwas wie eine moralische Notwendigkeit gesehen. Spinoza weiß, durch Jahrhunderte als der Einzige, daß alles was geschieht notwendig ist und daß alles Notwendige da ist. Realität und Vollkommenheit ist darum dasselbe. Die Welt ist nicht zweimal da; es gibt neben der Welt, die ist, nicht eine zweite Welt, die sein soll. Spinoza lehrt weiter, daß auch gut und böse nur modi cogitandi sind. Musik ist für den Tauben weder gut noch schlecht. Trotzdem will er solche Worte beibehalten. Es scheint ja oft nützlich zu sein, sich vom Menschen und sogar von andern Naturgegenständen ein Ideal zu machen.

Ein Menschenideal natürlich. In Menschenworten. Ideale sind immer nur Worte oder Götter.

Zum menschensprachlichen Ideal eines Hundes gehört z. B. Treue und Kraft. Ein Windspiel ist darum kein vollkommener Hund. Ist es aber ein rechtes Windspiel, so ist es in seiner Art vollkommen. Jede Art und Unterart hat ihre eigene Vollkommenheit. Selbst ein Individuum hat seine eigene Vollkommenheit, die man beim Menschen Persönlichkeit nennt. Eine Mißgeburt kann in ihrer Art vollkommen sein, kann dem Ideal z. B. des Zweiköpfigen entsprechen. Realität und Vollkommenheit fällt zusammen. Ebenso gibt es bei Pflanzen Varietäten, die man unvollkommen oder so ähnlich nennt, solange man sie nicht menschensprachlich, d. h. nach menschlichem Interesse, als ein Ideal ihrer Art aufgefaßt hat. Dann heißen sie echte Arten und man findet Definitionen dazu. Es gibt auch – theoretisch – vollkommene Gase; doch da hat sich der Sollbegriff schon in die Physik eingeschlichen.

Es war und ist nicht möglich, über die schlichtgroße Weltanschauung Spinozas hinauszugehen. Erst Menschenworte legen in die Natur Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten hinein. »Nichts ist von Natur gut oder böse, erst unser Denken macht es dazu.« Wir haben oberste Worte wie: Sein, Gott, Vollkommenheit. Weil wir diese Worte haben, so identifizieren wir sie. »Gott ist die Vollkommenheit.« Wir können uns wirklich nichts dabei und darunter denken oder vorstellen. Und weil Kant, bei allem Scharf- und Tiefsinn, dennoch die unchristliche oder antichristliche Freiheit Spinozas nicht besaß, weil Kant das christliche Wortideal Vollkommenheit nicht preisgeben wollte, darum schillert sein Sprachgebrauch unklar zwischen der scholastischen Form Spinozas und dessen heiterer Gleichsetzung von Realität und Vollkommenheit. Auf Kant kann man es zurückführen, wenn heutzutage für das verstiegene Adjektiv vollkommen häufig einfach ganz gesagt wird, für Vollkommenheit (seit Spencer) die Integration. (Die Scholastik kannte schon eine perfectio integralis, eine ergänzende Vollkommenheit, wie z. B. die Glieder den ganzen Leib ausmachen). Aber bei Kant macht »die höchste Vollkommenheit, in Substanz vorgestellt«, doch noch den Begriff der Gottheit aus. Und die christliche Forderung, sich dieser göttlichen Vollkommenheit nach Kräften zu nähern, spukte damals auch in den besten Köpfen. Einer der scharfsinnigsten Schüler Kants, Maimon, rang lange mit Kant und mit sich selbst, um schließlich das Ideal der Vollkommenheit, wie das nun Menschenart ist, in seiner werten Person zu finden (Philosoph. Wörterb. S. 152): »Der Mensch ist absolut vollkommen, wenn er die seinem Wesen eigenen Realitäten so untereinander verknüpft, daß ihre Wirkung die größte Summe ist. Und dieser ist der vollendete Weise. Es kann ein anderer mehrere und größere Kräfte besitzen, und dennoch weniger vollkommen sein.«

Schiller, der sonst so gelehrige Schüler Kants, war doch auch genug Schüler Goethes, um einen Hauch Spinozistischen Geistes verspüren zu können. Da im vierten Aufzuge (7. Auftritt) der »Braut von Messina« das Schicksal über die verblendeten Menschen zusammenbricht, da gibt der Chor weisen Rat: der Kultur zu entfliehen (mit Haller und Rousseau), an der Brust der Natur »fern von des Lebens verworrenen Kreisen« auszuruhen.

»Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte
Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte;
Die Welt ist vollkommen überall,
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.«

Mit seinen Gedanken, mit seinen Worten, die seine Qual machen. Die Welt wäre vollkommen, wenn der Mensch nicht das sinnlose Wort vollkommen gebildet hätte. Und ein anderer Weltverbesserer, Ibsen, läßt den Realisten Relling zum verzweifelnden Gregers Werle sagen: »O, das Leben könnte doch noch ganz schön sein, wenn wir nur Frieden hätten vor diesen famosen Gläubigern, die uns armen Leuten das Haus einlaufen mit der idealen Forderung«.

Nüchterner und logischer als jeder andere hat aber Schopenhauer in seiner Kritik der Kantischen Philosophie (W. a. W. u. V. I. S. 502 f.) den Begriff der Vollkommenheit bekämpft. Die ganze Ethik werde auf diesen Begriff gegründet, »welcher an und für sich ganz leer und inhaltslos ist.« Vollkommen sein heiße weiter nichts als einem vorausgesetzten Begriff entsprechen, »ohne welchen die Vollkommenheit eine unbenannte Zahl ist.« Man sage mit dem Moralprinzip eigentlich: »die Menschen sollen sein, wie sie sein sollen.« »Daher ist der Begriff der Vollkommenheit, wenn schlechthin und in abstracto gebraucht, ein gedankenleeres Wort, und ebenso das Gerede vom allervollkommensten Wesen und dergl. mehr. Das alles ist bloßer Wortkram.«

Vollkommenheit ist eine Wortleiche. Sie braucht nicht mehr totgeschlagen zu werden. Nur die Sinne wollte ich dafür schärfen, daß sie übel zu riechen anfängt.


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