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Die Überspannung des Kunstbegriffs, die sich heute so sehr gesteigert hat, daß kunstbeflissene junge Leute für sich eine besondere Moral, eine besondere Nationalökonomie und besondere Lebensgewohnheiten in Anspruch nehmen, geht in Deutschland nicht weiter zurück als etwa in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts; in Italien und in Frankreich ist die gesteigerte Kunstpflege älter, aber der Kunstbegriff wurde noch lange nicht von dem des Handwerks prinzipiell losgelöst. Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich bei Lessing, dann bei Goethe und Schiller als seinen Schülern, die Überspannung des Kunstbegriffs auf einen neuerwachten Künstlerstolz zurückführe. Was die Maler in Italien, die Dichter in Frankreich schon längst besaßen, weil Freude an der Kunst mit zu der ältern romanischen Kultur gehörte, das mußten sich die deutschen Dichter erst mühsam und jeder persönlich von der armen Barbarei der Fürsten erkämpfen. Mit dem wachsenden Wohlstande kam auch die Kunstfreude oder deren Heuchelei zu uns, die Künstler kamen in Mode, und heutzutage wird über wenige Gedankendinge mit so hochtrabenden Worten gelogen wie über die Kunst. Die Tragik im Leben unserer alten Künstler bestand im aufreibenden Kampfe gegen die Verachtung der Großen und gegen die eigene Not; die Tragik derjenigen unter uns, die wirkliche Künstler sind, besteht im Kampfe gegen die Mode, gegen die Verführung und die Schmeichelei der Reichen. Der Überspannung des Kunstbegriffs unterwirft sich alle Welt: die Künstler und die Kunstfabrikanten aus Klugheit, die Kunstgenießer aus Dankbarkeit, die Kunstfremdlinge aus Feigheit. Mit der Bedeutung des Kunstschaffens und der Kunstfreude hat auch das Wort Kunst seit dem 18. Jahrhundert seine Bedeutung geändert. Allgemein wird angenommen, wahrscheinlich mit Recht, daß Kunst von können abzuleiten sei. Durch Jahrhunderte verstand man unter Kunst das Wissen und das angewandte Wissen; als Kunst im ersten Sinne durch Wissenschaft verdrängt wurde, im 17. Jahrhundert, da wurde Kunst für eine vielfältige Anwendung im zweiten Sinne frei und bezeichnete bald jedes angewandte Wissen: die Fertigkeit, die Geschicklichkeit (Reitkunst, Fechtkunst usw.), das Handwerk; Lehnübersetzungen waren: die schwarze Kunst, Kunstgriff. Auf Lehnübersetzung geht es auch zurück, wenn sich das abstrakte Wort Kunst langsam aus dem Plural Künste entwickelte, ebenso wie die Abstraktionen Wissenschaft, Geschichte aus ihren Pluralen; die freien, die guten, die schönen Künste ( artes liberales, bonae, belles lettres); der Singular Kunst war anfangs ein Summenwort für die Regeln, eine künstlerische Aufgabe gut auszuführen. In einzelnen Redensarten (z. B. »es ist keine Kunst«) wirken noch alte Bedeutungen nach; im ganzen aber hat der überspannte Kunstbegriff gesiegt; Künstler, Kunstfabrikanten, Kunstgenießer und Modeaffen sprechen das Wort Kunst beinahe mit der gleichen Andacht aus, und jedermann scheut vor der undankbaren Arbeit zurück, etwas Klarheit in die ungleichen Begriffe zu bringen, die unter dem Worte verstanden werden. Ich kann nur auf einige Gesichtspunkte aufmerksam machen, nur das Wort sprachkritisch analysieren, und möchte besonders zum Streite über den sozialen Wert der Kunst Stellung nehmen.
Wenn der wahrhaft große Künstler sagen darf, er widme sein Leben der Kunst, und wenn der kunstsinnige Laie sagen darf, er verschönere sich sein Leben durch die Kunst, so gebrauchen beide das gleiche Wort und wissen nicht, daß sie es in ganz verschiedenem Sinne gebrauchen. Kunst schaffen und Kunst genießen sind nach den Regeln der Grammatik ganz analogisch gebildete Wortfolgen; aber in dem ersten Falle kommt es allein auf das Kunstwerk an, im zweiten auf die Tätigkeit des Genießens; man beachte nur, daß es uns bei einem Kunstwerke gleichgiltig ist, ob seine Hervorbringung dem Künstler schwer oder leicht gefallen ist; man beachte ferner, daß dem Genießen eines Kunstwerks die Freude an einem schönen Menschenleibe oder an der schönen Natur sehr nahe steht, trotzdem sonst Natur und Kunst, als bekannte Gegensätze, einander zu fliehen scheinen. Der Unterschied zwischen dem Schaffen und dem Genießen eines Kunstwerks, der in unserm ästhetischen Gerede so leicht verwischt wird, ist kaum geringer als der Unterschied zwischen dem Reifen und dem Genießen einer Frucht; und da wird man doch gern zugeben, daß der Verzehrer eines Apfels sich nicht auf eine Wesensgleichheit mit dem Apfelbaum zu berufen pflegt.
In meiner Sprache möchte ich das so ausdrücken: die Kunst des schaffenden Künstlers gehört der substantivischen Welt an, der unwirklichen; und zwar gehören die Kunstwerke, die ja gleichfalls unter dem Summenworte Kunst zusammengefaßt werden, mehr der konkreten substantivischen Welt an, der sogenannten Körperwelt; die erhabene Kunst, die Göttin, der sich der Künstler gewidmet hat, mehr der substantivischen Gedankenwelt, der mythologischen Welt. Ganz deutlich ist diese Trennung beim Künstler nicht, weil er beim Schaffen immer nur die gegenwärtige Arbeit an einem bestimmten Kunstwerke im Sinne hat, die erhabene Göttin aber nur dann, wenn er über die Kunst schwätzt, klug oder unklug, wie andere redende Menschen auch.
Die Kunst, durch welche ein kunstsinniger Laie sein Leben verschönt, gehört der verbalen Welt an, der Welt der menschlichen Zwecke. Das Wesentliche am Genießen ist beileibe nicht ein Körper, nicht das Kunstwerk, sondern ein Gefühl, das Gefühl der Freude, einer ganz besondern und feinen Freude. Ob der Künstler, der ein Kunstwerk schafft, dabei Freude oder Schmerz empfindet, ist uns gleichgültig, wie gesagt; beim Genießen, einem Zweckbegriff, ist Freude der einzige Zweck; die Tätigkeit des Künstlers schafft, objektiv sogar, d. h. gegen seine eigentliche Absicht, für andere, die Tätigkeit des Genießers schafft überhaupt nicht, ist nur Freude.
Darum ist es eine sinnlose Phrase, wenn man unterschiedslos an die Kunst in beiden weit auseinander gehenden Bedeutungen die sozialen Forderungen gestellt hat. Die Frage ist überaus komplizierter Art. Der Künstler kann seiner Natur nach gar nicht anders sein als egoistisch, antisozial, aristokratisch, ein Adelsmensch; daß es ihm lieb ist, wenn seine Werke nachher vielen Menschen Freude machen, das hat wohl mit dem Sozialismus nichts zu tun; wenn er einmal, unbewußt oder bewußt, der Zeit gehorchend, sozialistische Tendenzen in seinem Werke ausdrückt, so ist er ebenso unfrei wie ein Hofmaler oder ein Hofdichter Ludwig des XIV.
Sozial, im Sinne unserer wissenschaftlichen und praktischen Staatsreformatoren, kann allein die Forderung sein, den Kunstgenuß oder die Freude an Kunstwerken allen denen zugänglich zu machen, die von Natur einen Sinn für Kunstwerke haben. Auch in dieser Beziehung wird sehr viel gelogen und geheuchelt. Der Hunger nach Kunst ist bei armen Arbeitern oft ebenso stark wie der Hunger nach Brot; aber der Sinn für Nahrung ist denn doch allgemeiner verbreitet als der Sinn für Kunstwerke. Schon aus diesem Grunde ließe sich die soziale Kunstfrage leichter lösen als die soziale Magenfrage. Es gibt viel weniger Künstler auf der Welt als es Millionäre gibt; und es gibt viel weniger kunstsinnige Menschen, als es hungernde Menschen gibt. Dazu kommt, daß der Kunstsinn nicht durch materiellen Besitz des Kunstwerks befriedigt wird, sondern durch seine geistige Besitzergreifung; das Kunstwerk wird dadurch, daß es den Kunstsinn vieler Tausende befriedigt hat, nicht geringer an Wert. Noch leichter könnte den kunstsinnigen Armen ein Anteil am Kunstgenusse gewährt werden, als allen Armen ein Anteil an Licht und Luft. Nur daß diese soziale Pflicht von der gegenwärtigen Gesellschaft beinahe schon erfüllt worden ist, freilich mehr zufällig als absichtlich. Die Erfindung der Buchdruckerkunst, die Leistungsfähigkeit der modernen Pressen und die Wohlfeilheit des Papiers machen es heute jedem Arbeiter möglich, sich die Meisterwerke der Poesie anzuschaffen; der Staat hätte nur gesetzlich dafür zu sorgen, daß allzu kleine Lettern nicht das Gesichtsorgan schädigten; ich glaube beinahe, daß auf diese Pflicht des Polizeistaates noch gar niemals hingewiesen worden ist. Öffentliche Sammlungen, welche freilich ursprünglich der Eitelkeit des Fürsten oder des Staates dienten, stehen mit ihren Statuen und Gemälden auch dem armen Arbeiter zur Verfügung. Sollte es dem Sozialismus gelingen, dem Arbeiter täglich einige Stunden wirklich freier Zeit zu verschaffen, so könnte er Poesie und bildende Kunst ebenso genießen wie eine müßige Dame sie in ihren freien Stunden genießt; und die Not hätte für ihn die bessere Auswahl getroffen, weil die Kunstwerke, die für ihn am leichtesten zugänglich sind, oft die besten sind. Musik muß erst von Berufsmusikern ausgeführt werden, Dramen müssen erst aufgeführt werden; darum kosten diese Kunstwerke noch immer recht viel Geld; aber auch da haben die freien Volksbühnen und Unternehmungen wie die Berliner Schillertheater sehr erfreulich gewirkt.
Der Staat hat die Sache am verkehrten Ende angefaßt, da er für den Kunstgenuß des Volkes so gut wie nichts tat, die sozialen Bestrebungen sogar hinderte, dagegen die Aufzucht der Künstler in die Hand nahm, als ob sich Künstler züchten ließen wie Fettschweine. Mit seinen Akademien und Preisen glaubte der Staat etwas für die Kunst getan zu haben; ich glaube bestimmt, daß die Verwirrung der Begriffe Kunstschöpfung und Kunst genießen für diesen Unsinn verantwortlich zu machen ist. Der egoistische Künstler geht, was schon Platon wußte, den Staat nichts an, den modernen Staat schon gar nichts; die Freude an der Kunst geht das Volk an, das den Staat bildet.
Ich habe mich bisher darauf beschränkt, den begrifflichen Unterschied zwischen der substantivischen Welt des Kunstwerks und der verbalen Welt des Kunstgenießens hervorzukehren. Man kann mir einwenden, daß der Unterschied doch überbrückt werde durch etwas, was diesen beiden Welten gemeinsam sei. Daß der Künstler doch die gleiche Schönheit in das Werk hineinlege, die der Genießer mit seinen Sinnen heraushole. Ganz gewiß; und diese gemeinsame Eigenschaft an dem dinglichen Objekte des Künstlers und an dem Gefühlsobjekte des Genießers gehört noch dazu der einzigen Wirklichkeitswelt an, der adjektivischen Welt; wir können diese Eigenschaft nach dem nomen agentis Künstler künstlerisch nennen (das heute durch alle Gassen geschleifte Wort ist nicht viel über hundert Jahre alt, darum von Adelung noch nicht gebucht; noch im 18. Jahrhundert wird das vieldeutige künstlich auch in diesem Sinne gebraucht), mit Anlehnung an die Gemeinsprache schön (vgl. Art. schön). Was also der substantivischen und der verbalen Welt der Kunst und der Kunstfreude gemeinsam ist, das ist die Sehnsucht aus der gemeinen Welt hinaus, die Sehnsucht nach aufwärts, die als Motiv wohl der Liebe verwandt sein mag. In der Kraft, diese Sehnsucht zu erfüllen, mag zwischen dem Kunstschöpfer und dem Kunstgenießer wirklich nur ein gradueller Unterschied bestehen.
Noch eins: die Wissenschaft, welche sich besonders mit solchen Fragen abgibt, die Ästhetik erhielt ihren sonderbaren Namen bekanntlich von Baumgarten (1750), der in seiner Ästhetica als einer scientia cognitionis sensitivae die allgemeine Wahrnehmungs-Wissenschaft schaffen wollte; diese Konstruktion hat dann auf Kant und so noch auf die Ästhetiker unserer Tage nachgewirkt; wenn wir aber erkannt haben, daß das Gemeinsame an der Sehnsucht des Künstlers und des Genießers ein Begriff der adjektivischen Welt ist, dann gewinnt für uns die Ästhetik als die Wahrnehmungs-Wissenschaft vom Überwirklichen vielleicht eine neue Bedeutung.