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Das Wort ist in seiner Bedeutung Vaterlandsliebe so international geworden, daß man kaum schon daran gedacht hat, es historisch zu erklären. Die Herkunft aus lat. patria lag ja auf der Hand. Aber lat. patriota bezeichnete nicht den Patrioten, den Vaterlandsfreund, sondern nur den Landsmann; griech. πατριωτης wurde gar ursprünglich nur von Sklaven und Tieren gebraucht, dann etwa poetisch von einem Berge der Heimat. Auch im Französischen bedeutete patriote lange Zeit den Landsmann (selbst franz. patrie scheint erst aus Italien eingeführt worden zu sein, wohl um pays zu ersetzen, kaum vor dem 16. Jahrhundert; pays hatte von altersher die Bedeutung Heimat, Vaterland, auch wohl volkstümlich die von Landsmann, payse die von Landsmännin; A. de Musset irrte, da er pays im Sinne von Vaterland für einen Neologismus hielt), den Freund des Vaterlandes erst, nachdem dieser Bedeutungswandel sich in England vollzogen hatte. Oder in den Niederlanden, wo der politische Verfall der Republik früh schon zur Bildung politischer Parteien geführt hatte, von denen im 18. Jahrhundert die stärkste, weil sich Aristokraten, und Demokraten zu ihr zusammenschlossen, die Partei der Patrioten hieß.
Die Wortbildung Patriotismus, deren erstes Vorkommen ich nicht erforscht habe, läßt darauf schließen, daß die Bezeichnung als ein Protest gegen den erst im 18. Jahrhundert zu Einfluß gelangten Kosmopolitismus geprägt worden war. Patriotismus war also zunächst ein Schlagwort für die Stimmung oder für die politische Lehre, daß der Staatsmann und der Bürger das im Auge behalten sollte, was den Vorteil des eigenen Volkes förderte. Auf kleine Verhältnisse bezogen wurde diese Stimmung dann als Kirchturmpatriotismus, patriotisme de clocher, verhöhnt. Die Rücksicht auf die Landsleute wurde also unter dem Worte verstanden im Gegensatze zum Weltbürgertum, das (nach den Untersuchungen Feldmanns) als Begriff schon im 17. Jahrhundert aufkam, aber erst im 18. Jahrhundert die Schwärmerei propagierte: der Erdboden wäre das gemeinsame Vaterland, alle Menschen wären Brüder, die Menschenrechte wären zu proklamieren. In dem zerrissenen Deutschland war ein verstiegenes Weltbürgertum das Losungswort aller Dichter, bis der Ruhm Friedrichs etwas wie einen deutschen Patriotismus weckte.
Aus dieser Sachlage und aus ganz persönlichen Verhältnissen muß man Lessings berühmte Ketzerei erklären, Patriotismus sei höchstens eine heroische Schwachheit. Der Sachse Lessing lebte in dem Berlin des bewunderten Königs, zur Zeit des siebenjährigen Krieges. Lessing wurde der Herausgeber der Kriegslieder von Gleim; über diese Kriegslieder führten Lessing und Gleim eine tändelnde und von beiden Seiten nicht ganz aufrichtige Korrespondenz; Vater Gleim, den Erich Schmidt (Lessing I, 322) sehr gut charakterisiert hat, hatte keine Ahnung von Lessings Ernst und Größe; und Lessing spielte wohl nur mit dem eiteln Allerweltsdichter, wenn er ihn ernsthaft lobte. Nun hatte Gleim, in der Maske des Grenadiers, ein neues Kriegslied eingesandt, in welchem die gegnerischen Feldherren Mordbrenner und Henker genannt wurden. Das wollte Lessing nicht durchgehen lassen. Freund Ramler meinte zwar, der Sachse Lessing hätte an den Grobheiten des Gedichtes Anstoß genommen. Mag sein; aber Lessings Gedanken gingen weiter. Wirklich, wie Bismarck schon während des Krieges von 1866 die spätere Versöhnung Österreichs nicht aus den Augen verlor, so will Lessing nicht Beschimpfungen veröffentlicht wissen, die nach dem Friedensschluß peinlich wirken müßten. »Vielleicht zwar ist auch der Patriot« (der Landsmann Sachse also) »bei mir nicht ganz erstickt, obgleich das Lob eines eifrigen Patrioten nach meiner Denkungsart das allerletzte ist, wonach ich geizen würde; des Patrioten nämlich, der mich vergessen lehrt, daß ich ein Weltbürger sein sollte.« Gleim antwortet jämmerlich; der Dichter der Kriegslieder verwahrt sich dagegen, kein Weltbürger zu sein. Und nun schreibt Lessing (am 14. Februar 1759) in wachsender Erregung den Brief, in welchem er seinem Herzen Luft macht. »Der Grenadier« (Gleim also; das Versteckspiel wird in den Briefen bis zu Ende getrieben) »soll und muß auf die Nachwelt denken; oder wenn er es nicht tun will, so werden es seine Freunde für ihn tun … Was ich aber von dem übertriebenen Patriotismus einfließen lassen, war weiter nichts als eine allgemeine Betrachtung, die nicht sowohl der Grenadier als tausend ausschweifende Reden, die ich hier alle Tage hören muß, bei mir rege gemacht hatten. Ich habe überhaupt von der Liebe des Vaterlandes (es tut mir leid, daß ich Ihnen vielleicht meine Schande gestehen muß) keinen Begriff, und sie scheinet mir aufs höchste eine heroische Schwachheit, die ich recht gern entbehre.«
So Lessing, der doch – in dieser Beziehung dem großen Könige recht ähnlich – zum Aufkommen der heroischen Schwachheit eines deutschen Patriotismus viel beigetragen hat. Erst einige Jahre später (1764) schrieb Voltaire unter dem Schlagworte »Patrie« seine höhnischen Worte über die Vaterlandsliebe nieder. Der Bürger des zerrissenen Deutschland hatte zunächst an den von ihm verlangten sächsischen Patriotismus gedacht; Voltaire, der französische Verbesserer einer schlechten Welt, verlangte gute Einrichtungen und gute Regenten für die verschiedenen Vaterländer: nur dann wäre Vaterlandsliebe möglich. »Man hat ein Vaterland unter einem guten König; man hat keins unter einem schlechten. In einem größeren Staate gibt es oft mehrere Millionen Menschen, die kein Vaterland haben. Die Mörder, welche ihre Dienste vermieten und ihr Blut dem ersten, dem besten zahlungsfähigen Könige verkaufen, haben noch weniger ein Vaterland als ein Raubvogel, der allabendlich zu dem Felsenloch zurückkehrt, wo die Mutter das Nest gebaut hat. Im Vertrauen, liebt wohl ein Bankier sein Vaterland von Herzen? Hat der Offizier, hat der Soldat, die ihr Winterquartier ruinieren würden, wenn man sie gewähren ließe, eine recht zärtliche Liebe für die paysans (das Wort bezeichnet jetzt nur die Landleute, früher aber auch die Landsleute), die sie zugrunde richten? Die Leute, die vor Ehrgeiz brennen, eine politische Rolle zu spielen, schreien ihre Vaterlandsliebe aus und lieben nur sich selbst.«
Voltaire gelangt von seinem Hohne aus zu einem ganz freien Standpunkt. Die Frage, ob Monarchie oder Republik, findet schon er unerheblich. Auch mit dem Weltbürgertum sei es nichts; oft müsse man der Feind aller übrigen Menschen sein, wenn man ein guter Patriot heißen wolle. Er erinnert an Cato's patriotischen Refrain: Ceterum censeo, Carthaginem esse delendam. »Telle est donc la condition humaine, que souhaiter la grandeur de son pays, c'est souhaiter du mal à ses voisins. Celui qui voudrait que sa patrie ne fût jamais ni plus grande, ni plus petite, ni plus riche, ni plus pauvre serait le citoyen de l'univers.«
Der Faden Voltaires wurde schon in der Encyclopédie gesponnen; der Patriotismus sei ausschließlich eine Tugend der antiken Republiken gewesen; von Cäsar ab sei das Wort patria von Ehrgeizigen mißbraucht worden. Il n'est point de patrie sous le joug du despotisme. Darin aber hatten die Enzyklopädisten nicht den freien Standpunkt Voltaires, daß sie am liebsten bei den rebellischen Parteien die wahren Patrioten suchten. Während der großen Revolution nannten sich die Anhänger des Konvents gern patriotisch, im Gegensatze zu den vaterlandsfeindlichen Royalisten, welche ja gleich das Ausland zu Hilfe riefen; Mercier erfindet noch 1801 das Wort patriophobie (nach hydrophobie). »Ne pourrait-on pas appeler Patriophobie l'horreur qu'ont pour la patrie ceux que le mot seul de patriotisme fait tomber en convulsion?« schlechte Teller mit Bildern Mirabeaus, des Bastillensturmes usw. hießen fayences patriotiques.
Man achte nun darauf, welche Ähnlichkeit den Äußerungen der so ungleichen Männer zugrunde liegt, und was ihre Skepsis von der heutigen Anschauung trennt. Lessing, der Deutsche, wurde von der deutschen Kleinstaaterei daran gehindert, seinen Enthusiasmus für Friedrich als deutschen Patriotismus zu empfinden; und Voltaire haßte die Einrichtungen seines Staates und aller andern Staaten zu tief, um von jedem Staatsbürger Patriotismus als eine sittliche Pflicht verlangen zu können. Die Staaten, die sie kannten, waren weder für Lessing noch für Voltaire liebenswert; und die Nationalitätsidee war noch nicht mächtig, selbst das Wort Heimweh trat eben erst schüchtern auf und wurde für eine schweizerische Nationalkrankheit gehalten. Erst von dem großen Napoleon und dann noch viel heuchlerischer von dem kleinen Napoleon III. wurde das Prinzip aufgestellt, daß ein Staat nur eine Nation und die ganze Nation umfassen sollte. Nirgends wurde dieses Prinzip Wirklichkeit; weder Frankreich noch das neue Deutschland noch auch das geeinigte Italien sind im strengen Sinne Nationalstaaten. Man denke gar an das englische Imperium oder an Österreich, um zu sehen wie wenig sich die Geschichte um den Unterschied zwischen Staat und Volk (Sprache) gekümmert habe. Aber das Wort Nationalitätsidee hatte Glück gemacht, und heute verlangt die politische Phrase, daß jedermann seinen Staat lieben solle, seinen Staat mit allem, was drum und dran hängt. Der uralte, schon von Aristophanes geformte, allzumenschliche Protest gegen die Forderung »dulce et decorum est pro patria mori« gilt heute für äußerst unschicklich; das Lied mit dem Kehrreim »ubi bene, ibi patria« darf kaum mehr gesungen werden; »für seinen König muß das Volk sich opfern, das ist das Schicksal und Gesetz der Welt. Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre«, so hat Schiller das vermeintliche Gesetz in Worte gefaßt und rhetorisch den Staat, dessen Repräsentant der König ist, und die Nation einander gleich gesetzt.
In dem Buche, das A. Menger mit berechtigtem Selbstbewußtsein »Neue Staatslehre« betitelt hat, wendet er sich sehr scharf gegen die Forderung des Staatspatriotismus; er sieht allerdings kaum den jedem Patriotismus zugrunde liegenden Instinkt der Heimatliebe, kritisiert aber sehr gut die Volkserziehung, welche überall darauf hinausgeht: der Staatsbürger habe mit Gut und Blut die Stellung der Machthaber aufrecht zu erhalten (S. 24). Der Patriotismus sei am stärksten entwickelt beim Adel, der Geistlichkeit, dem Heere und dem Beamtentum; denn hier sei eine Interessengemeinschaft mit den Herrschenden vorhanden. Der Patriotismus des gebildeteren Mittelstandes gelte weniger den Herrschenden, bestehe mehr in der Liebe zu Land und Volk. Bei den ärmeren Volksklassen »fehle im großen und ganzen der persönliche Zusammenhang mit den Herrschenden als auch die Kulturgemeinschaft mit Land und Volk. Der Staat selbst habe seit Jahrtausenden von ihnen nur gefordert, (bis vor kurzem) nichts gegeben.« (S. 46 f.) So konnte die Organisation der Arbeiterpartei bewußt und demonstrativ international werden, und den von allen Machthabern schon den Kindern eingeprügelten Patriotismus höhnisch bekämpfen; die Internationale hat über der Berechtigung ihrer Staatskritik freilich oft übersehen, daß die Zertrümmerung oder Ohnmacht eines Staates doch auch für seine Arbeiter schlimme ökonomische Folgen haben müßte, wenigstens für das gerade lebende Geschlecht, hat ferner übersehen wollen, daß auch bei der ärmsten Bevölkerung eine Liebe zu der eigenen Mundart, zu der eigenen Heimat vorhanden ist, wenn auch nicht ebenso natürlich und ebenso stark eine Schwärmerei für die Person des Herrschenden und seine Familie.
Das aber ist die Schwäche in der gegenwärtigen Bedeutung des Begriffs Patriotismus. Staat und Volk sind nicht dasselbe. Beide sind historisch geworden, und ich kann nicht leugnen, daß Zufallskräfte auch bei der Entstehung der Völker mitgewirkt haben. Trotzdem ist ein Volk eine viel organischere Bildung als ein Staat; vor allem aber ist die Liebe des Individuums zu seinem Volke allgemein und natürlich, die Liebe des Bürgers zu seinem Staate durchaus nicht allgemein verbreitet und in sehr vielen Fällen nur eine Folge von oder eine Verwechslung mit der Liebe zum eigenen Volk. Woher dann das Tragische in dem Herzen der Männer, die ihre Heimat lieben und ihre politische Nation bekämpfen müssen. Der landläufige Patriotismus, der unmittelbar nach den Siegen von 1870 aufkam, ohne Kritik, jetzt aber nicht viel länger als etwa seit 10 Jahren Hurrapatriotismus heißt und mit diesem ironischen Worte schon abgelehnt wird (der französische Chauvinismus ist seit 1830 die spöttische Bezeichnung für einen miles gloriosus, wie dieses Wort von einer Theaterfigur genommen), will und darf nichts davon wissen, daß edle und reine Menschen ihre Heimat und ihr Volk über alles lieben, aber ihren eigenen Staat, ja den Racker von Staat überhaupt, die Staatsmaschine hassen können. Das Bild vom Staate als einer Maschine geht auf Hobbes zurück, auf eine Zeit also, in welcher die wieder neugewordene mechanistische Weltanschauung die Organismen, wenigstens die Tiere als Maschinen auffaßte, als Uhrwerke, und dieses Bild nun um so lieber auf die große Bestie Staat, den Leviathan, anwandte. Es ist nicht zu übersehen, daß die Entdecker oder Erfinder der Volksseele, bei uns also Herder, zu den Verächtern der Staatsmaschine gehörten.
Der Gegensatz von Volk und Staat büßt aber seine vermeintliche Einfachheit ein, wenn wir das Gefühl des Patriotismus psychologisch zu analysieren versuchen. Denn, wie wir uns auch zu dieser Frage stellen wollen, wir stoßen da auf die Schwierigkeit, daß es in der Wirklichkeit immer nur eine Individual-Psychologie gibt, daß das Gefühl des Patriotismus der sozialen oder der Völker-Psychologie angehört, daß wir also das Organ des Patriotismus eigentlich nicht kennen. Wobei nicht zu vergessen ist, daß – vom geheuchelten Patriotismus, dem patriotisme de l'antichambre, den großen Worten der großen und der kleinen Volksschmeichler ganz abgesehen – in der ganz ehrlichen Heimatliebe sehr häufig egoistische Motive verborgen sein können: die allbekannten Motive des Hungers, der Geschlechtsliebe oder des Familiensinns, der Eitelkeit. Aber es gibt im Patriotismus einen reinlichen Rest, der wirklich nicht Egoismus ist. Ich habe schon einmal (»Die Sprache« S. 78 f.) behauptet: Patriotismus ist die Liebe zur eigenen Muttersprache; aller Besitz unseres Innenlebens, was wir als Egoisten und was wir als soziale Wesen unsern Besitz nennen, ist in unserer Muttersprache gesammelt; ich habe durch den Hinweis auf die Macht der Entlehnung und der Nachahmung den Glauben an die Eigenheit, an die Persönlichkeit der Muttersprache zu zerstören gesucht, habe aber dennoch die Liebe zur Muttersprache als eines unserer stärksten und schönsten Gefühle gepriesen. Hier möchte ich auf diese Antinomie nicht noch einmal eingehn. Hier möchte ich nur den Begriff Instinkt zu Hilfe nehmen, um zu erklären, wie der egoistische Mensch zu Opfern aus Liebe zu seiner Sprache, zu seiner Heimat, zu seinem Volke gebracht werden kann. Der Instinkt dieser Liebe ist so natürlich wie die Liebe des Vogels zu seiner Brut, wie der Patriotismus einer Ameise.
Wie wir uns nun aber gewöhnt haben, den Stamm oder das Volk eines Ameisenhaufens einen Staat zu nennen, so haben wir uns auch daran gewöhnt, Patriotismus vom Staatsbürger zu verlangen, anstatt vom Volksgenossen. Ich habe schon erwähnt, daß der Staat ein noch künstlicheres Gebilde ist als das Volk; die Liebe zum Staate ist kein natürliches Gefühl, ist ein künstlich gezüchteter Instinkt, der freilich in unsern Zeiten der Nationalitätsidee von den republikanischen und monarchischen Regierungen mit gleichem Erfolge gezüchtet worden ist. Als ob eine Fahne, als ob eine Farbe eine natürliche Bildung wäre gleich der Sprache, so wird vom Staatsbürger opfermutige Liebe für eine Fahne und deren Farbe verlangt. Es betrübt mich mehr, als ich es sagen möchte, daß aber am letzten Ende auch Fahnen und Farben zu den Sprachen der Völker gehören, daß die Macht der Nachahmung auch beim Heiligwerden von Fahnen und Farben wirksam war, daß also der Staats-Patriotismus zuletzt auf dem gleichen Grunde steht wie der natürliche Patriotismus oder die Liebe zur eigenen Muttersprache.