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Ganz gewiß haben die Menschen seit Urzeiten die Beobachtung gemacht, daß die jungen Tiere den Eltern gleich d. h. ähnlich sind, daß menschliche Kinder dem Vater oder der Mutter, oder auch einem von den Ahnen gleichen d. h. ähneln. Die Volksetymologie knüpft ähneln, auch in der Orthographie, an Ahne. Mir scheint die Vermutung, daß ähnlich (oft: einlich) sich zu ein verhalte wie similis zu semel, sehr wahrscheinlich; an eine uralte Lehnübersetzung möchte ich in diesem Falle doch nicht glauben.
Ohne Sprache besitzen auch die Tiere eine Vorstellung, ein Bewußtsein, oder wie man es nennen mag, von der zuverlässig zu erwartenden Ähnlichkeit zwischen Jungen und Alten ihrer eigenen Art. In meinem Hühnerhofe hatte ich die Glucke Plymouth-Rock-Eier ausbrüten lassen; als der Hahn die seiner Familie nicht ganz ähnlichen Küken erblickte, versuchte er – nach seinem Betragen zu schließen – die Glucke zu töten. Doch wohl als eine Ehebrecherin. Er zog also aus der Unähnlichkeit der Jungen den Schluß auf einen fremden Vater.
Was Urmenschen und Tiere da wahrnahmen, das war eine Tatsache, die Tatsache einer regelmäßigen Beziehung. Der menschlichen Sprache, die sich Wissenschaft nennt, war es vorbehalten, die regelmäßig beobachtete Beziehung durch ein Wort zusammenzufassen und dieses Wort je nachdem für die Ursache oder für das Gesetz der Tatsache zu halten. Dieses neue Wort, das nur in seiner biologischen Bedeutung neu und im D. W. übersehen worden ist (wohl gewiß eine Lehnübersetzung oder ein entlehnter Bedeutungswandel aus dem engl. heredity), heißt: Vererbung. Manche Krankheiten werden allerdings schon viel früher erblich genannt, auch im Deutschen; heute noch heißen mundartlich alle ansteckenden Krankheiten erblich. Taubheit kommt nach dem französischen Chirurgen Paré (16. Jh.) de première conformation, et héréditairement. Bonnet (18. Jh.) kennt schon hereditäre Keimanlagen: on conçoit facilement que les sucs vicieux doivent altérer la constitution du germe. Auch im Englischen sind Krankheiten schon im 16. Jh. hereditary. Aber als biologischer Terminus erscheint heredity (nach Murray) erst 1863, bei Spencer; sodann 1894 in einer Übersetzung des Weismann'schen Buches.
Wer immer nun das Wort zuerst in diesem biologischen Sinne gebrauchte, der wußte schwerlich, wie gut der bildliche Ausdruck gewählt war, – solange man seine Bildlichkeit nicht vergaß. Vererbung hatte es bis dahin nur im Rechtsleben gegeben. Vererbung war der Rechtsübergang, die Erbfolge vom Erblasser an den Erben. Und was die biologischen Benützer des Wortes eben gewiß nicht beachteten, das ist dieser Umstand: genau die gleichen Schwierigkeiten, welche die Vererbung der Eigenschaften heute den Naturphilosophen macht, genau die gleichen Schwierigkeiten machte der Sinn der Erbfolge seit Jahrhunderten den Rechtsphilosophen. Der äußerste Scharfsinn mußte aufgewandt werden, um bei der Erbfolge eine Kontinuität des Rechtswillens und des Rechtssubjekts zu konstruieren. Besonders die testamentarische Erbfolge war so widerborstig, daß der junge Leibniz (Methodus nova jurisprudentiae, P. II § 20) auf den verzweifelten Einfall kam, die natürliche Rechtskraft eines letzten Willens, die doch erst mit dem Tode des Testators eintritt, aus der Unsterblichkeit der Seele abzuleiten. Die Begriffe Kontinuität und Unsterblichkeit begegnen uns überall auf den Wegen der biologischen Vererbungslehre. Der gründlichste und geistvollste Bearbeiter dieses Feldes, August Weismann, nennt schon im Titel einer seiner wertvollsten Abhandlungen »die Kontinuität des Keimplasmas« die Grundlage seiner Theorie der Vererbung; später (»Aufsätze über Vererbung«, Seite 248) nennt er das Keimplasma geradezu »den unsterblichen Teil des Organismus«.
Auf Weismanns langjährigen Streit um die Frage, ob erworbene Eigenschaften erblich sind, oder ob – eben nach Weismanns Meinung – nur Keimesvariationen vererbt werden, nur Keimesvariationen durch Selektion zur Veränderung der Arten führen – auf diese Frage gehe ich nicht ein, weil ich kein Fachmann bin auf den Gebieten der Zoologie und Botanik und weil ich trotzdem nicht umhin kann, den Streit für einen Wortstreit zu halten. Weismann scheint siegreich nachgewiesen zu haben, daß Vererbung äußerer Verletzungen nicht festzustellen ist; selbst die Jahrtausende lange Sitte der Beschneidung bei Juden und andern Völkern mit strenger Inzucht hat bis heute die Knaben nicht ohne praeputium zur Welt kommen lassen. Weismann ist wenigstens logisch siegreich gegen Lamarck mit der Behauptung, daß auch die durch Übung erworbenen Eigenschaften nicht vererbt werden; nur logisch, sage ich, weil da im Keimplasma Anlagen vererbt werden können, ohne daß eine stärkere Muskulatur der Klavierfinger oder gar Verfeinerung des Nervenapparats nachweisbar wäre. Hat doch Weismann für die weitaus wichtigste Gruppe von erworbenen Eigenschaften, die vererbt werden könnten, für »die Abänderungen, welche als direkte Folge von veränderten äußeren Bedingungen auftreten«, sein Urteil in suspenso gelassen (Aufs. üb. Vererb. S. 112). Ich gehe auf den Streit auch darum nicht ein, weil es sich mir, hier wie immer, nur um eine Kritik der Begriffe handelt und alle diese Versuche, die Tatsache der Vererbung auch noch erklären zu wollen, mir über die Macht der menschlichen Sprache, also der menschlichen Wissenschaft hinauszugehen scheinen. Es ist nicht anders. Alle Erklärung ist nur getreue Beschreibung. Die ist selbst in der Physik nur bei von Menschen erfundenen Maschinen möglich, nicht bei physikalischen Kräften. Die Lokomotive, die Dynamomaschine kann ich erklären, d. h. gut beschreiben, demjenigen nämlich, der fragen würde: ob in der Lokomotive ein Pferd verborgen ist, in der Dynamomaschine eine kleine Lokomotive. Das kann der Ingenieur aufklären, weil sein Kopf in der Maschine steckt, weil seine Kopfarbeit sie erst gebaut hat. Schon die Frage nach dem Wesen der Dampfkraft oder der Elektrizität kann er nicht mehr beantworten, wenn er nicht beobachtete Leistungsziffern wortabergläubisch für Naturgesetze ausgeben will. Werner Siemens erklärte mir einmal – vor 30 Jahren – das Wesen seiner Dynamo mit den Worten: »Ich peitsche die Kraft so lange, bis sie einen Wagen zieht.« Auf meine Frage, was er da peitsche, antwortete er lachend: »Ist mir ganz egal, was das Ding ist! Wenn es nur unter der Peitsche sein Letztes hergibt.« Und vollends in der Biologie oder gar in der mit Psychologie verquickten Biologie des Menschen sind am Ende auch die besten Erklärungen nur Worthypothesen.
So in unserem Falle. Die beobachtete Tatsache der Vererbung besagt doch nur, daß das Kind dem Vater ähnlich sei: bis auf die graue Haarsträhne im schwarzen Haar an der bestimmten Schädelstelle, bis auf farbige Schuppenflecken an der genau umschriebenen Stelle des Schmetterlingsflügels. Das nennt man nun Vererbung von Eigenschaften, einerlei, ob erworbener oder selbst schon ererbter. Nie aber, seitdem die Erde Organismen trägt, kann doch ein Abstraktum vererbt worden sein, nie die Gräue der Haarsträhne, sondern immer nur die graue Haarsträhne, nie die Farbigkeit der Schuppen, sondern die farbigen Schuppen. Wer das für Haarspalterei hält, dem habe ich wirklich nichts zu sagen. Ich meine nur: die Kritik der Begriffe allein sagt uns, daß es sich bei der Vererbung um positive, mechanische, mikroskopisch umschreibbare Teile des Organismus handeln muß. Was allein als Tatsache der Vererbung vorliegt, das ist: kleine oder meinetwegen kleinste Teile, die man seit fünfzig Jahren Zellen nennt, unter Umständen auch Moleküle, besitzen die Fähigkeit, die wirklich nur die alte qualitas occulta ist, sich fortzuzeugen, ganz gleiche oder ähnliche kleinste Teile organisch zu erzeugen. Die gleiche Gruppierung der gleichen oder ähnlichen Teile stellt dann ein gleiches oder ähnliches Ganze her. Das Kind wird dem Vater ähnlich. Alle Erklärung dieser Tatsache oder Erscheinung läuft auf eine Selbsttäuschung der Sprache hinaus. Natürlich zweifle ich nicht an der Beobachtung der Forscher, daß weibliches Ei und männliches Sperma (bei der weitverbreiteten geschlechtlichen Fortpflanzung) eine Bedingung der Vererbung sei. Zweifle auch nicht an Weismanns Beobachtung, daß zuinnerst diese Bedingung in den mikroskopischen Teilchen stecke, die er Keimplasma nennt. Nur eine Erklärung finde ich nicht darin. Plasma ist nur ein allgemeiner Name für organische Substanz; und Keim wiederholt ja doch nur tautologisch die Frage, anstatt sie zu beantworten. Die Frage nach der Ursache der ähnlich fortzeugenden Abstammung oder des Keimens wird mikroskopisch räumlich zurückgeschoben bis in das kleinste Teilchen, das für die Erscheinung eine notwendige Bedingung ist. Man weist auf diese winzigen Körnchen im an sich schon mikroskopischen Ei und Sperma hin und nennt sie den Keim. Erklärt wird das Keimen dadurch nicht.
Ich will nur zugeben, daß auch meine Worterklärung (nach Hering), daß alle Fortpflanzung durch ähnliche Individuen auf dem Gedächtnis der organisierten Materie beruhe, den Sprachfluch der Tautologie in sich berge. Und einen Widerspruch dazu, wie ich jetzt zeigen will.
Man kann das, was vom Vater auf das Kind gleich oder ähnlich übergeht, unsterblich nennen. Das Wort ist oft gebraucht worden. Weismann nennt das Keimplasma unsterblich. Was ist da unsterblich? Kein metaphorischer Bedeutungswandel kann das Epitheton unsterblich einem andern Wesen zusprechen als einem Subjekt, einer Persönlichkeit. Aber gerade die Kontinuität der Persönlichkeit geht ja beim Generationswechsel verloren. Wir erinnern uns nicht unseres unsterblichen Keimplasmas aus der Väterzeit. Vielleicht wird meine skeptische Lehre, daß das Ich-Gefühl eine Täuschung sei, durch diesen Umstand erhärtet: sehr viel von diesem Abreißen der angeblich unsterblichen Persönlichkeit gibt es auch im Individualleben. »Das Kind ist des Mannes Vater«; und der Mann ist nicht mehr dasselbe, was das Kind war. Und noch ein Widerspruch: Ich mußte einst das Gedächtnis mit dem Bewußtsein identifizieren; und das Gedächtnis als Vererbung ist doch ganz gewiß unbewußt. Die Sprache ist es, die sich widerspricht.
Es bleibt aber dabei, daß die Anknüpfung der ganzen Erscheinung, die Ähnliches von Ähnlichem abstammend zeigt, daß die Anknüpfung der Abstammung – dieses Wort scheint mir am besten das ganze Tatsachenmaterial zusammenzufassen – an den juristischen Begriff der Vererbung, ein gutes, ein bildungsreiches Bild bot, solange man die Bildlichkeit des Wortes im Gedächtnisse behielt. Und ein ganz genaues Zusehen verrät auch, daß das juristische Denken, aus dem das Bild genommen war, ebenso wortabergläubisch ist wie das biologische. So oft man nahe genug hinsieht, öffnet sich dieser Abgrund. Güter, die die ererbte Sitte zu Gütern gemacht hat, und Rechte, die der ererbte Gebrauch zu Rechten gemacht hat, erben weiter nach einem menschlichen Gesetze, welches (bis auf Lassalle und seine kommunistischen Vorgänger und Nachfolger) von aller Welt ein natürliches Gesetz genannt wurde, weil es als ein Teil der Sitte und des Brauchs vererbt worden ist; und die Teilformen des ganzen väterlichen Organismus, welche wir Eigenschaften nennen, erben ähnlich auf den Sohn nach einem Brauch oder einer Ordnung der Natur, welchen Brauch oder welche Ordnung die Menschensprache ein Gesetz zu nennen in ihre Bräuche aufgenommen hat. Das Erbrecht ist θεσει und soll (nach den Reden der Gesetzgeber) φυσει sein; die Vererbung ist φυσει und soll (nach der Sprache der Naturforscher) θεσει sein.