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Die berühmte Stelle, an welcher Lessing sich die Dichtergabe abspricht, sich nur die Befähigung zum Kritiker zuerkennt, ist so voll von Bitterkeit, daß sie schon darum nicht ganz gerecht sein kann. Sie steht im letzten Stücke der Hamburgischen Dramaturgie, ist Lessings dramaturgischer Epilog, ist von ebenso erschütternder Tragik wie Ibsens dramatischer Epilog. »Ich bin weder Schauspieler noch Dichter. Man erweist mir zwar manchmal die Ehre, mich für den letztern zu erkennen. Aber nur, weil man mich verkennt … Was in den neuern (Versuchen) Erträgliches ist, davon bin ich mir sehr bewußt, daß ich es einzig und allein der Kritik zu verdanken habe. Ich fühle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft sich emporarbeitet, durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschießt; ich muß alles durch Druckwerk und Röhren aus mir heraufpressen … Ich bin daher immer beschämt und verdrießlich geworden, wenn ich zum Nachteil der Kritik etwas las oder hörte. Sie soll das Genie ersticken; und ich schmeichelte mir etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe kömmt … Seines Fleißes darf sich jedermann rühmen; ich glaube die dramatische Dichtkunst studiert zu haben, sie mehr studiert zu haben als zwanzig, die sie ausüben (die Poetik des Aristoteles halte er für ein ebenso unfehlbares Werk, als die Elemente des Euklides nur immer sind). Nach dieser Überzeugung nahm ich mir vor, einige der berühmtesten Muster der französischen Bühne ausführlich zu beurteilen … (Die Franzosen hätten die Regeln des Aristoteles mißverstanden.) Aber mit diesen Regeln fing man an, alle Regeln zu vermengen, und es überhaupt für Pedanterei zu erklären, dem Genie vorzuschreiben, was es tun und was es nicht tun müsse. Kurz, wir waren auf dem Punkte, uns alle Erfahrungen der vergangenen Zeit mutwillig zu verscherzen und von den Dichtern lieber zu verlangen, daß jeder die Kunst aufs neue für sich erfinden solle.«
Man halte daneben, wie hart Lessing im 96. Stücke schon über das Gebaren der eben emporkommenden Geniezeit spricht. »Wir haben, dem Himmel sei Dank, jetzt ein Geschlecht selbst von Kritikern, deren beste Kritik darin besteht, – alle Kritik verdächtig zu machen. Genie! Genie! schreien sie. Das Genie setzt sich über alle Regeln hinweg! Was das Genie macht, ist Regel! – So schmeicheln sie dem Genie; ich glaube, damit wir sie auch für Genies halten sollen … Nicht jeder Kunstrichter ist Genie; aber jedes Genie ist ein geborener Kunstrichter.«
Wir gebrauchen das Wort Kritik heute fast ebenso, wie es Lessing vor bald 150 Jahren gebrauchte; wir sehen in dem Worte Genie nicht mehr einen Gegensatz zur Kritik; wir nennen heute Lessing ein kritisches Genie, denken bei Genie an Produktion, und meinen, wenn wir Lessing so nennen, er habe produktive Kritik geübt. Ich habe auf diese sprachlichen Dinge schon hingewiesen (vgl. Art. Genie) und werde auf die Entlehnung aus dem Französischen, Entlehnung bis auf den Tonfall, noch einmal hinweisen. Vor allem möchte ich aber über den Bedeutungswandel hinaus die Spezialität geistiger Arbeit betrachten, die unter dem Namen Kritik einen so breiten Raum in unseren Zeitungen, also in dem geistigen Leben der Jetztzeit, beansprucht. Möchte ruhig und sachlich untersuchen, ob die Kritik den bösen Schimpf verdient, der vielleicht schon manchem ehrlichen Kritiker die Schamröte ins Gesicht getrieben hat. Ich meine natürlich Goethes Peitschenhieb: »Schlagt ihn tot, den Hund! Er ist ein Rezensent.«
Bei Kritiker denkt man mehr an die Äußerung einer besondern Geistesrichtung oder Begabung; bei Rezensent mehr an die Tätigkeit in einem literarischen Gewerbe. Und die Gefahr scheint mir darin zu liegen, daß in der Seele des kritischen Spezialisten eine scharfe Grenzlinie nicht besteht zwischen der Betätigung der kritischen Neigung und dem gewerbsmäßigen Rezensieren. Wie sehr auch die kritische Betrachtung eines Kunstwerks noch Kunst sei, das erhellt am klarsten daraus, daß wir die fabriksmäßige Verwertung der kritischen Begabung genau so als Prostitution empfinden wie Kitschmalerei oder Bratenbardenpoesie. Doch wer, der das kritische Handwerk noch so gewissenhaft übte, darf sich rühmen, sich niemals prostituiert zu haben? Und hätte er auch nur, vom Setzerjungen gedrängt, sein Urteil über ein Theaterstück vorschnell, ohne Sammlung, in einer Nachtkritik abgegeben, worüber denn auch Maximilian Harden, der als sein eigener Verleger sich von der Ungeduld der Leser nicht hetzen ließ, berechtigten Hohn nicht gespart hat.
Künstlerische Produktionskraft und ästhetische Kritik, Selbstkritik, ist bei jedem bedeutenden Maler oder Dichter von jeher wie durch Personalunion vereinigt gewesen. Gelegentlich oder vorübergehend sind unsere großen Dichter alle unter die Rezensenten gegangen, auch Goethe. An seiner eigenen Schöpfung übt der Dichter nicht nur nachträglich Kritik, sondern insbesondere während der Arbeit; unaufhörlich spricht ja die entscheidende Wahl bewußt oder unbewußt mit: bei der Komposition, beim Wählen eines Motivs, eines Ausdrucks; nur wo der erste Einfall übermächtig die Seele des Dichters ergriffen hat, ist vielleicht von der Mitarbeit der Kritik keine Rede. Unausweichlich urteilt der Dichter auch über die Werke seiner Vorgänger, seiner Genossen, seiner Rivalen; es hängt von Zufälligkeiten ab, ob er diese Urteile niederzuschreiben Zeit genug, sie zu veröffentlichen Anlaß genug hat. Außer dieser Kritik, welche, seitdem es eine Zeitschriftenliteratur gibt, fast von jedem gebildeten Dichter gelegentlich geübt wurde, gibt es – namentlich in Kampfzeiten – Kritiker von Neigung, oft Halbdichter oder Dreiviertelsdichter, die im Streite der Parteien das Wort ergreifen müssen, weil ihnen die Stellungnahme eine Herzenssache ist. Deren Tätigkeit also erst dann Tadel zu verdienen anfängt, wenn das angeborene Talent zum Gewerbe eines Spezialisten mißbraucht wird. Die Grenze ist schwer zu ziehen und das Moralische muß einem jeden ins Gewissen geschoben werden.
Ganz anders liegt die Frage nach dem Werte der ästhetischen Kritik. Diese hat sich wie von selbst aus der rein philologischen Kritik entwickelt. Noch vor 200 Jahren verstand man in der deutschen Gelehrtenwelt unter Kritik fast ausschließlich die Tätigkeit, die den überlieferten Text eines Schriftstellers zu verbessern suchte. Häufig genug sind Satiren gegen die Bedeutung dieser Tätigkeit geschrieben worden. Diese Art von Satire ist sehr wohlfeil geworden, seitdem das Aufkommen der Neuphilologie die Methode der alten philologischen Kritik auf die Textrevision von Dichtern anwendet, deren Werke von ihnen selbst in Druck gegeben worden sind, deren Originalmanuskripte vorliegen, bei denen es sich also zumeist um die Ausmerzung von Schreib- und Druckfehlern handelt. Wir sind alle so alexandrinisch geworden, daß wir die sorgfältig durchgesehenen, die kritischen Ausgaben unserer Dichter bei der Arbeit nicht missen mögen. Fragt man aber präzis, ob der Schatz der Menschheit durch solche philologische Kritik gemehrt worden sei oder nicht, so lautet die Antwort ganz entschieden: nein. Die Werke Goethes, die Werke Lessings gehören dem Schatze der Menschheit an; durch die kritischen Ausgaben ist der Schatz der Menschheit so wenig gemehrt worden wie der Wert einer fürstlichen Schatzkammer durch die Tätigkeit des Abstäubers und der Putzfrauen. Das Verdienst der Begründer der Neuphilologie liegt auf ganz andern Gebieten; sie haben das Dogma vom alleinseligmachenden klassischen Altertum gebrochen, haben uns aus dem Schutte der Nationalliteraturen neue Schätze gehoben und haben uns durch mühsame Erforschung der ältern Sprache die gegenwärtige deutsche, französische, englische Sprache besser verstehen gelehrt. Die schon vorhandenen Werte sind nicht gesteigert worden. Der Schatz, den das deutsche Volk (nicht nur die Protestanten) an der Lutherbibel besaß, ist durch die Revision nicht um das kleinste Goldkörnchen gemehrt worden.
Die ästhetische Kritik ist nur eine Abart der philologischen. Man könnte sie unter dem mitbegreifen, was auch die Philologen höhere Kritik nennen. Sie geht gegenüber historischen Schriftstellern auf die Untersuchung ihrer historischen Zuverlässigkeit, gegenüber Berichten und Dichtungen auf die Untersuchung der Originalität, gegenüber allen Büchern darauf, die Persönlichkeit des Autors kennen zu lehren.
Die philosophische Kritik oder der Kritizismus unterscheidet sich ganz wesentlich von der philologischen und der ästhetischen Kritik. Es ist recht eigentlich ein Zufall zu nennen, daß Kant seine Lebensaufgabe mit dem gleichen Worte bezeichnete, das vorher für die Untersuchung von Wörtern und für die Untersuchung von Kunsteindrücken im Gebrauche gewesen war. Als Kant, nach seinem eigenen schönen Worte erlebt hatte, daß sein dogmatischer Schlummer durch Hume unterbrochen worden war, und dennoch nach seiner ganzen Geistesrichtung nicht imstande war, die skeptischen Wege zu gehen, fand er einen Gesichtspunkt, oder glaubte ihn zu finden, der die Gefahren des Dogmatismus und des Skeptizismus deutlich zeigen und vermeiden lehrte. Man lese Kants selbstbewußte Worte (Prolegomena, Einleitung S. 17): Hume habe sein Schiff, um es in Sicherheit zu bringen, auf den Strand des Skeptizismus gesetzt, da es denn liegen und verfaulen mag; bei Kant dagegen komme es darauf an, ihm einen Piloten zu geben, der, nach sichern Prinzipien der Steuermannskunst, die aus der Kenntnis des Globus gezogen sind, mit einer vollständigen Seekarte und einem Kompaß versehen, das Schiff sicher führen könne, wohin es ihm gut dünkt. Der Dogmatiker unterwirft sein Urteil einer fremden Entscheidung; der Skeptiker erkennt überhaupt keine Entscheidung an, fällt also überhaupt kein Urteil; der Kritiker im Sinne Kants, der Kritizist, behält sich selbst die Entscheidung vor über jedes Urteil, über die Prinzipien der Urteile, ja sogar über die Möglichkeit dieser Prinzipien. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Kritik soll wieder zu Ehren kommen: der Philosoph wird zum Richter ernannt und zum Gesetzgeber; er hat die Gesetze zu geben und anzuwenden, aber er hat vor allem das Recht auf Gesetzgebung, er hat die Grenzen der Gesetzgebung, den Sinn der Gesetzgebung zu prüfen.
Kant hat seine drei großen Untersuchungen über die Möglichkeit einer Erkenntnis, einer moralischen Empfindung und eines Werturteils überhaupt Kritiken genannt, und nach diesen drei Büchertiteln hat man der Kantschen Philosophie allgemein den Namen Kritizismus gegeben. Das alte Wort Kritik hat dadurch einen neuen Inhalt bekommen, eigentlich die gesamte Assoziationssphäre des Eigennamens Kant. Kritizismus heißt also nicht soviel wie Erkenntnistheorie, weil Kant im gleichzeitigen Kampfe gegen Dogmatismus und Skeptizismus es für ausgemacht hielt, daß es synthetische Urteile a priori gäbe, daß die zukünftige Metaphysik nur auf einer festern Grundlage zu errichten wäre als die alte dogmatische. Kants Kritizismus, dessen negative Verdienste gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können, bot also dennoch keine voraussetzungslose Erkenntniskritik. Und die Neukantianer versteifen sich heute noch darauf, die über Kant hinausgehenden Versuche, voraussetzungslose Erkenntniskritik, Erfahrungskritik zu treiben, mit dem Scheltnamen Psychologismus abzulehnen. Wer aber die Überzeugung gewonnen hat, daß Kants Untersuchungen uns weiter geführt haben als er selbst wollte und meinte, daß Kant nicht nur die Unmöglichkeit der alten dogmatischen Metaphysik bewiesen hat, sondern die Unmöglichkeit jeder Metaphysik überhaupt, daß Kant – da er den Anteil des menschlichen Verstandes an den Elementen aller Erfahrung aufdeckte – den Anthropomorphismus jedes möglichen Weltbildes unumstößlich festgestellt hat: der wird sich bescheiden, die drei Richtungen des Kantschen Kritizismus auf Erkenntniskritik zurückzuführen, der wird sich bescheiden, in aller Philosophie nur Erkenntniskritik zu sehen, Philosophie mit der Kritik psychologischer Elemente gleichzusetzen. So ist, wie ich eben sagte, die Kritik in ihrer ausgeprägtesten Form, so ist die Erkenntniskritik zu der κριτικη τεχνη in der ursprünglichen Bedeutung zurückgekehrt.
Denn κρινειν hieß bei den Griechen zunächst nicht richten, vielmehr scheiden, sichten; erst später: sich ein Urteil bilden, ein Urteil fällen; der δικαστης war der Richter als Amtsperson, war an die Gesetze wie an Dogmen gebunden; der κριτης war der Kenner, der voraussetzungslos den Sachverhalt zu prüfen hatte; der δικαστης hatte nur die Logik der Gesetze anzuwenden, der κριτης hätte immer das Recht gehabt, die Logik der Gesetze selbst zu prüfen, de lege ferenda zu urteilen, das ungeschriebene Gesetz über das geschriebene zu stellen. Es liegt in der Natur des Menschen, daß die Bedeutungen von δικα ζειν und κρινειν ineinander übergingen; aber die Ableitungenδικαστηριον (Gerichtshof) und κριτηριον (Merkmal) zeigen, wie stark der Unterschied trotzdem empfunden wurde.
Solange die Kritik auf die Prüfung von Textworten und von Kunstempfindungen beschränkt blieb, konnte die Bedeutung des Wortes vergessen werden. Der Bücherwurm, der ein paar alte Handschriften verglich, konnte sich zum Richter aufwerfen über Authentizität des Textes; und soweit Dichtertexte in Frage kamen, konnte so ein Bücherwurm sich zum Richter aufwerfen über die Schönheit des Dichterwortes; wurde doch bei uns im 18. Jahrhundert Kritiker durch die aufdringliche Bezeichnung Kunstrichter verdrängt, nach dem ältern Spruche: können wir nicht alle tichten, so wöllen wir doch alle richten. Als aber durch Kant die Kritik auf die Erkenntnis selbst gerichtet worden war, mußten alle Regeln und Dogmen versagen, mußte man sich bei einem Sichten bescheiden. Die Erkenntniskritik wurde, wie eigentlich schon Fries erkannt hat, auch zur Elementarlehre der Psychologie; sie darf die Bezeichnung Psychologismus als einen Ehrennamen tragen.