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Kinderpsychologie.

 

I.

In einem Verein für Kinderpsychologie hat Stumpf am Eröffnungstage einen Vortrag gehalten (»Philosophische Reden und Vorträge,« S. 125 f.), der nicht nur den dilettierenden Vätern, Müttern und Tanten nützliche Winke gab über die Methode, die Sinneswahrnehmungen, das Sprechen, das Fühlen und das Wollen der Kinder objektiv zu beobachten; auch die Psychologen und Physiologen von Fach, welche sich seit einigen Jahrzehnten dem Studium der Entwicklung von Kindesseelen widmen, könnten mancherlei von Stumpf lernen. Stumpf macht besonders darauf aufmerksam, daß wir bei der Deutung der Bewegungen und des Gesichtsausdruckes noch sprachloser Kinder die Begriffe hineinlegen, die unsere Sprache für die Selbstbeobachtung der Erwachsenen geschaffen hat; wir deuten Bewegungen der Säuglinge als Ärger, als Schrecken, als Wollen, haben eigentlich aber kein Recht dazu, den Kindern schon solche Gefühle in die Seele zu schieben. Unsere Schlüsse aus den Bewegungen zu ihrer Deutung drehen sich in einem Zirkel. »Kurz, wir interpretieren die Bewegungen und – wir stützen dabei unsere Interpretation auf eben das, was wir interpretieren wollen« (S. 141). Wir hoffen, unsere eigene Psychologie auf die primitivere Kinderpsychologie gründen zu können, aber die Psychologie der Erwachsenen ist wieder die Voraussetzung dessen, was wir über die Beobachtungen an der Kindesseele in fertigen Begriffen aussagen.

Diese Warnung vor Zirkelschlüssen ließe sich auf den ganzen Gebrauch der psychologischen Sprache ausdehnen, ja auf den Gebrauch der wissenschaftlichen Sprache überhaupt; immer muß der Forscher nach der neuen Beobachtung zunächst die Begriffe gebrauchen, die er vor der Beobachtung brauchen gelernt hat. Er kann den Inhalt einzelner Begriffe wohl erweitern oder einengen; bevor er aber einen größern Teil der erlernten Sprache umzulernen imstande war, muß der arme Teufel sterben. Beim Studium der Kinderpsychologie ist das Verhältnis nur darum leichter klar zu machen, weil da schon die bildliche Anwendung der Grundbegriffe in die Augen springt. Das was wir mit dem alten Worte etwa die Seele nennen, ist doch offenbar beim neugebornen Kinde, beim Säugling und noch lange nachher nicht das gleiche wie unsere sogenannte Seele. Der Keim in einer Eichel ist noch kein Eichbaum; das schlafende Auge eines Rosenstocks ist noch keine Rose. Wie der Mensch vor der Pubertät weder äußerlich noch innerlich ein erwachsener Mensch ist. Wir haben gelernt, daß wir den Seelenbegriff metaphorisch erweitern, wenn wir von einer Tierseele, von einer Pflanzenseele reden, wenn wir gar mit dem Panpsychismus die unorganische Natur beseelen. In ganz ähnlicher Weise dehnen wir den Seelenbegriff aus, sobald wir dem Kinde eine Menschenseele zuschreiben, wenn wir Äußerungen des Kindes mit Worten aus unserm Sprachschatz benennen. Beinahe so wenig, wie wir das Seelenleben einer Pflanze, eines Schmetterlings, ja unseres Hundes kennen, so wenig wissen wir, was im Bewußtsein eines Säuglings vorgeht. Hält der Hund seinen Herrn für einen Sklavenhalter, für einen Gott, oder für einen Koch? Der Hund könnte es wahrscheinlich selbst nicht sagen, auch wenn er unsere Sprache besäße.

Der Hauptunterschied zwischen Tier und Kind besteht nun darin, daß das Tier bestenfalls nur einige wenige Bruchstücke der Menschensprache verstehen lernt, niemals die Sprache gebrauchen, daß dagegen das Menschenkind langsam die Worte der Muttersprache so vollständig wie die Eltern verstehen lernt, die Wörter zuerst aus dem Vorrate seines ganz andern Seelenlebens füllt, sie dann wieder langsam in dem gleichen Sinne wie die Erwachsenen brauchen lernt, und endlich wie die Erwachsenen glaubt, an den schwebenden, verschwimmenden Wörtern eindeutige Zeichen der Wirklichkeitswelt zu haben.

Wird also der Versuch, aus Beobachtungen der Kinderseele zu Fortschritten in der Psychologie zu gelangen, nur sehr geringe Erfolge bringen, so kann dagegen der Grundfehler dieser Beobachtungen, eben das Metaphorische an der Menschensprache, ganz gut eingesehen werden, wenn man das Metaphorische, meinetwegen das Dichterische an der Kindersprache beobachtet.

 

II.

»Der Mond ist ausgelöscht,« rief ein Kind, als der Vollmond hinter einer Wolke verschwunden war. »Der Mond ist kaput,« hörte ich selbst ein Mädchen von fünf Jahren sagen, da das erste Mondviertel am Himmel stand. Die erste Äußerung hat beinahe altfränkisch poetischen Klang, die zweite mutet eher naturalistisch an. In beiden Fällen war die Dichterphantasie des Kindes unbewußt tätig.

Die Ähnlichkeit der Kindersprache mit der Dichtersprache, der Kindergenialität mit der Dichtergenialität ist sicherlich bemerkt worden, seitdem es denkende Mütter und Väter unter den redenden Menschen gab. Über den Ursprung dieser Ähnlichkeit aber und über die Bedeutung der Kindersprache für die Sprachgeschichte hat man in älterer Zeit nicht nachgedacht. Es wäre unter der Würde der Wissenschaft gewesen, sich um das Treiben der Kinder zu bekümmern. Nicht viel über hundert Jahre reicht die ernsthafte Beobachtung der Kindersprache zurück. In Deutschland war auch auf diesem Felde Lessing vielleicht (neben Hamann) der erste Anreger. In einer versteckten Anmerkung, in den Zusätzen zu Jerusalems »Philosophischen Aufsätzen« sagte er: Der erste Mensch könne ebenso zur Sprache gelangt sein, wie noch jetzt alle Kinder dazu gelangen müssen.

Gegenwärtig gibt es eine reiche Literatur, die Notizen aus der Kinderstube der Sprachwissenschaft dienstbar machen möchte. Spencer und Darwin, besonders aber die deutschen Systematiker (Fritz Müller) haben den bestechenden Gedanken populär gemacht, daß die Entwicklung des Einzelwesens einen kurzen Abriß darbiete von der endlosen Entwicklung der organischen Welt. Man möchte die Entwicklung des Menschen aus der ersten lebenden Zelle mit Hilfe der embryonischen Entwicklung erklären, die Phylogenie aus der Ontogenie, wie man gelehrt sich ausdrückt. Und was für die Biologie angenommen wird, das soll auch für das Leben der Sprache gelten. Psychologen und Physiologen, Lehrer und Ärzte führen sorgsame Tagebücher über die Sprachentwicklung ihrer Kinder und bilden sich oft ein, durch dieses neueste alexandrinische Bemühen dem Geheimnisse der menschlichen Ursprache näher zu kommen. In England, Frankreich und Deutschland werden solche Beobachtungen am fleißigsten gesammelt. Es braucht außer an Darwin selbst nur an Romanes, an Taine, Egger und Perez, an Preyer und Stumpf erinnert zu werden. Je »voraussetzungsloser« der Sammler den Äußerungen des Kindes gegenübertritt, desto mächtiger schwillt die Notizensammlung an, desto kleiner wird aber leider der Nutzen für die Sprachwissenschaft. Einzelne glücklich erlauschte Kindesworte können lehrreicher sein als die pedantischen stenographischen Berichte, welche doch vergebens versuchen, die Sprachentwicklung auch nur eines einzelnen Kindes vom ersten Lallen bis zur syntaktischen Beherrschung der Sprache der Nachwelt zu überliefern.

Aus diesem Alexandrinismus können nur solche Sprachphilosophen herausführen, welche die Besonderheiten der Kindessprache unter einem bestimmten Gesichtspunkte betrachten. Zu ihnen gehört Alfred Biese, der in seiner »Philosophie des Metaphorischen« zuerst energisch auf das Metaphorische oder Dichterische in der kindlichen Phantasie hingewiesen hat. Wenn wirklich die Metapher oder das dichterische Bild der Ursprung und das Wesen aller Sprache ist (wie ich glaube und behaupte), wenn alle Sprachentwicklung von den Urzeiten bis zur Gegenwart sich in Metaphern oder Bildern vollzieht, dann ist es ja nicht wunderbar, daß beim Kinde im Beginne der sprachschöpferischen Tätigkeit die dichterische Phantasie ganz besonders vorherrscht.

Professor Meumann hat in seiner Abhandlung »Die Sprache des Kindes« mit viel Belesenheit und Systematik den Versuch gemacht, eine wohldurchdachte strenge Methode in die Kinderstube zu bringen. Die Bedeutung des Metaphorischen für die Kindersprache und für die Sprache überhaupt hat er dabei gründlich mißverstanden. Er meint (S. 63), ein Kind von drei Jahren könne keine Bilder schaffen, weil noch der Schulknabe von sechs Jahren die Schulmetaphern seiner Lehrer nicht leicht verstehe. Er sieht den Unterschied nicht zwischen der unbewußten Bildersprache des Kindes und dem künstlichen, methodischen Metaphernbau der Schulrhetorik. Ebenso gut könnte er einem dreijährigen Kinde die offenkundige dichterische Phantasie absprechen, weil es ja Vischers »Ästhetik« noch nicht lesen und verstehen könne. Wir müssen uns hüten, die Begriffe der Erwachsenen ohne leise Abtönungen auf das Seelenleben des Kindes anzuwenden.

Der dichterischen Phantasie ist z. B. die Lüge, ist das Spiel verwandt. Wir werden aber dem Kinde nicht das Unrecht tun, jedesmal ein bewußtes Lügen, ein bewußtes Spielen anzunehmen. Ein Kind, wenn es aufgewickelt sein wollte, nur um der größern Freiheit willen, gab die bestimmten Grunzlaute von sich, durch die es sonst mit vollem Rechte das Aufwickeln und Trockenlegen verlangen durfte. Viele Kinder wiederum kennen gegen das Ende des zweiten Lebensjahres schon das Spiel, eine leere Tasse zum Munde zu führen oder aus einer leeren Kanne scheinbar eine leere Tasse zu füllen. Nur pedantischer Wortaberglaube wird das dem bewußten Lügen oder dem bewußten Spielen der Erwachsenen gleichsetzen. Wohl aber könnte man das Spielen mit der leeren Tasse entfernt mit der Tätigkeit eines Dramatikers vergleichen; die Kinder führen sich damit selbst ein Theaterstück auf, und wahrscheinlich fehlen dabei nicht einmal die Gefühle der Illusion und der Spannung.

Jede Mutter, jeder Vater, jeder Kinderfreund kennt lustige und hübsche Äußerungen von Kindern wie: »Der Mond ist ausgelöscht«. Es sind Kinder von drei bis fünf Jahren, die so sprechen. Solche Sätze sind mitunter schon fertige Dichtungen. Viel tiefer in die Psychologie der Kindesseele müßte es führen, könnte man das Erwachen der kindlichen Seele von Anfang an verfolgen und dann das Metaphorische oder das Dichterische schon im ersten gesprochenen Worte nachweisen. Ganz vorsichtig und mit jedem Vorbehalt möchte ich ein Beispiel geben.

Das Verfolgen »von Anfang an« ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen. Das Kind entsteht nicht mit der Geburt; es erwacht in dieser Stunde nur, es erwacht aus einem bald traumlosen, bald von unvorstellbaren Träumen belebten Schlafe. Das Kind im Mutterleib ist nach neueren Untersuchungen nicht ganz ohne Sinneseindrücke. Gehör und Gesicht können freilich noch nicht ganz geweckt sein; auch stehen dem Gebrauche dieser beiden Organe, selbst wenn sie in ihren Nervenbahnen schon völlig bereit wären, allerlei Hemmungen entgegen. Dagegen hat das Kind im Mutterleibe vielleicht schon ein Analogon zu den späteren Geschmacksempfindungen, höchstwahrscheinlich schon Tast- und Wärmeempfindungen. Die Seele, um das weite Wort zu gebrauchen, ist bei der Geburt ein völlig unbeschriebenes Blatt nicht mehr.

Nicht nur für die Mutter, sicherlich auch für das Kind ist die Geburt mit Schmerzen verbunden. Die zarte Haut hat gelitten, die kalte Umgebung berührt unangenehm, das neu zu lernende Atmen beängstigt und strengt an. Und einige Stunden später meldet sich auch der Hunger zum erstenmal. Die Sprachwerkzeuge des Kindes lassen sich vernehmen, sofort, früher noch als der Hunger sich meldet. Das Neugeborene schreit oder wimmert. Der Schrei oder das Wimmern ist ein Reflexlaut der Sprachwerkzeuge, ist noch nicht Sprache.

Zwei Monate später weiß das Kind aus Erfahrung, daß es durch sein Schreien oder Wimmern die Brust oder die Flasche herbeirufen oder herbeizaubern kann. Die hervorgebrachten Laute haben einen Zweck, einerlei, ob den der Mitteilung oder den der Zauberei. Das Schreien ist so zur Sprache geworden. Es ist Sprachlaut, wenn auch nicht Sprachwort. Bis dahin hat es noch gute Weile.

Das Kind ist etwa anderthalb Jahre alt, bevor es für Milch »Mimi« sagen gelernt hat. Mimi ist durch unbewußten Lautwandel aus Milch entstanden; weniger fachmännisch ausgedrückt: das Kind hat das gehörte Wort falsch nachgesprochen. Aber auch die Bedeutung von »Mimi« entspricht nicht dem, was die Erwachsenen bei Milch denken. Das Kind stellt sich bei Mimi gewiß oft die süße Flüssigkeit vor oder auch die süße, warme, weiße Flüssigkeit. Dann stellt es sich wieder die Mutter oder die Amme vor, die ihm einst im weichsten Nest die Nahrung hat ins Mäulchen fließen lassen und die ihm jetzt noch die Milch an den Mund setzt. Oder es stellt sich seinen eigenen Mund oder sein Mäulchen vor; hat doch der Mund bei »Mimi« die beste Arbeit zu leisten.

Eine kleine Welt liegt also in dem ersten Sprachworte Mimi: ein sinnlicher Gegenstand, seine Eigenschaften, eine Tätigkeit; dazu noch nacheinander Kummer, Sehnsucht und Freude. Das Kind unterscheidet nicht deutlich zwischen den Vorstellungen Mama, Amme, Mund, meinetwegen auch mollig und mummeln. Alle diese Vorstellungen gehen ineinander über wie alle diese Laute, die vielleicht »verwandt« sind, einander ähneln. Das erste Sprachwort »Mimi« drückt also gar keinen fest definierbaren Begriff aus, sondern eine Stimmung, die Stimmung der Lust am Milchtrinken. Und da träfe es sich sehr gut, wenn von mir schon nachgewiesen worden wäre: daß die menschliche Sprache zwar ein elendes Werkzeug für die Erkenntnis, aber ein vorzügliches Werkzeug für die Poesie sei, daß die Worte der menschlichen Sprache gerade durch das Vorschweben und Verschwimmen ihrer Bedeutungen besser als jedes andere Kunstmittel zur Darstellung von Stimmungen taugen. Und es ist beinahe gleichgültig, ob das erste Sprachwort des Kindes »Mimi« war und ein Idyll auslösen half, ob es »Mama« war und schon mehr mit der bildenden Kunst, mit der Porträtvorstellung zu tun hatte, ob es »mumm« war und mehr eine Handlung in den Mittelpunkt stellte.

Wer nicht gern glauben möchte, daß dergestalt metaphorische, dichterische Anschauung schon mit dem ersten Worte des Kindes untrennbar verbunden sei, der denke doch daran, wie das Kind nach Stillung seines Hungers sein Wort wiederholt, um die ganze schöne Geschichte zusammenzufassen, zu berichten, spielerisch, behaglich. Was eben ein höchst wichtiger Vorgang war, wird zum spielerischen Drama oder Epos, je nachdem; was eben erlebt worden ist, wird dichterisch nacherlebt, mit dem gleichen Worte. Ich habe anderswo gezeigt, wie lange vor dem ersten Sprachworte auch das Hungerweinen des Kindes sich zur Sprache umwandeln kann, zu einer Erzählung, zum ersten Zwiegespräch zwischen Mutter und Kind.

So kann das scharfe Aufhorchen auf die geringste Sprachäußerung des Kindes Beiträge liefern für die Grundwahrheit: daß der Ursprung und das Wesen der Sprache metaphorisch oder bildlich ist. Es schadet also nicht, wenn darüber hinaus Fachleute an ihren eigenen Kindern Versuche anstellen, wenn ganze Bibliotheken entstehen, die die Entwicklung von individuellen Kindersprachen massenhaft aufzeichnen; es schadet nicht einmal, wenn die Sache ein bißchen sportmäßig getrieben wird. Wir gewinnen doch unzählige Beispiele, die das Dichterische in der einfältigen Kindersprache immer von neuen Seiten aufzeigen.

Nur bilde man sich nicht ein, daß der Nutzen für die Sprachgeschichte (und Sprachwissenschaft wird seit Hermann Paul nicht viel mehr sein wollen als Sprachgeschichte) eine irgend ähnliche Bedeutung haben könne. Die Kinder sind »Schaffende«, insofern sie kleine Dichter sind; Sprachschöpfer sind sie nicht. Was sie etwa an neuen Worten dadurch erfinden, daß sie die Worte der Muttersprache falsch deuten und falsch nachsprechen, das geben sie selbst bald wieder auf, trotzdem es die Eltern liebevoll zu erhalten suchen. Die Mutter möchte noch jahrelang in der Kinderstube »Mimi« sagen. Aber bereits das vierjährige Kind schämt sich seiner Kindersprache und freut sich, wenn es »Milch« sagen gelernt hat, wie sich der Knabe der ersten Hosen freut. Wo Ansätze zu neuer Sprachschöpfung vorhanden sind, da läßt sich freilich eine Anwendung auf die Ursprache der Menschheit machen, aber nicht in dem Sinne, daß aus den Zufallslauten der Kinder etwas über die legendäre Ursprache auszumachen wäre. Diesen Versuch hat schon der ägyptische König umsonst angestellt, der (nach Herodotos) zwei Kinder so aufziehen ließ, daß kein menschlicher Laut von ihnen vernommen werden konnte. Das erste Wort, das sie nach zwei Jahren sprachen, sollte darüber entscheiden, wo die älteste Sprache, wo das älteste Volk der Erde wäre. Nur ein Beispiel für die Entstehung der Sprache boten die armen ägyptischen Kinder. Nur Beispiele für die Anfänge der Sprachgeschichte können auch die vermeintlichen oder wirklichen Neuschöpfungen geben, die seit dreißig Jahren in unsern Kinderstuben gesammelt werden. Was Pharao Psammetich nicht wußte, als er jenen Kinderversuch vornahm, das wissen auch heute noch wenige Menschen: daß Sprachgeschichte eine Zufallsgeschichte ist, ein Ausschnitt aus der allgemeinen Zufallsgeschichte der Menschheit.

Nun ist aber die Sprache des Kindes die Grundlage der Sprache, welche der erwachsene Mensch redet. Aus der Sprache des Erwachsenen ist gewöhnlich die Phantasie verschwunden, wenn dieser nicht etwa ein Dichter ist, und wenn wir ferner von den unzähligen Fällen absehen, wo uralte Phantasie zu einer bloßen Redensart versteinert und verstaubt ist. Was ist da geschehen? Dasselbe, was in der organischen Welt geschieht, wenn die Formen sich in der Hauptsache wiederholen, in Nebensachen sich verändern. Die Ursachen der Wiederholung und der Änderung nennt man jetzt Vererbung und Anpassung. Weil Sprache aber nur aus flüchtigen Bewegungen besteht, die leichter auszuführen sind als organische Formen, vollziehen sich die Wiederholungen und die Änderungen der Sprache viel schneller als die sog. Entwicklung der Organismen. Und ein zweiter Unterschied kommt hinzu: nicht nur die Wiederholungen, sondern auch die Änderungen, die Anpassungen an den neuen Lernstoff sind, lassen sich auf Nachahmung zurückführen. Unabhängig von der Nachahmung sind nach Form und Inhalt nur die Wörter der Kindersprache, die von der Phantasie des Kindes gebildet oder umgedeutet worden sind; und gerade diese eigenen Schöpfungen haben die Neigung, sich der Gemeinsprache und dem Gemeindenken anzupassen, d. h. zu verschwinden. Das Kind hört auf mit der Sprache zu spielen. Auch hier gibt es eine merkwürdige Analogie mit der ältern Sprache der Naturwissenschaft. Man nannte früher die unerklärlichen Schöpfungen der Naturphantasie, die Änderungen oder Varietäten von Tieren und Pflanzen, Spiele der Natur oder Spielarten; auch diese Spielprodukte waren unfruchtbar, hatten die Neigung, wieder zu verschwinden.

Die Unfruchtbarkeit der sogenannten schlechten Arten ist bis heute nicht erklärt; aber die Unfruchtbarkeit oder die Unhaltbarkeit der eigenen, phantastischen, spielerischen Kinderwörter ist im Wesen der Sprache selbst begründet. Eine Sprache, die nicht zwischen den Menschen ist, ist für den Zweck der Sprache unbrauchbar. Das Kind muß auf sein Eigentum in der Sprache verzichten, wenn es die Muttersprache gebrauchen will. Das alltäglichste Beispiel ist vielleicht das beste. Das Kind von anderthalb Jahren sagt tul und meint: ich will auf den Stuhl hinaufgehoben werden. Mancher Satz der griechischen Weisen und der neuern Philosophen ist so ein phantastisches Kinderwort, gefüllt mit einer Sehnsucht, verstanden allein vom Erfinder; nachher kommt die Geschichte der Philosophie und übersetzt das phantastische Wort in die Gemeinsprache der Philosophie, so daß die eigene Schönheit des alten Satzes zum Teufel geht, mit dem Spiritus, und nur das Phlegma bleibt.

 

III.

Wir wissen nicht, was die Begriffe oder Worte der Menschenmoral eigentlich bedeuten; wir wissen ganz bestimmt, daß diese Begriffe der Menschenmoral nur ganz sinnlos auf Tiere angewandt werden. An sich ist ein Tiger, weil er gern Menschen frißt, nicht böser als ein Lamm. Die Menschen halten aber ihre Sprache für sehr wertvoll, halten die unverständlichen Moralwörter für noch wertvoller als die andern Wörter und begehen darum den doppelten Fehler: ganz kleine Kinder die unverständlichen Moralwörter nachplappern zu lassen und dieselben Wörter auf diese Kinder anzuwenden. Das Nachplappern der Wörter hat die gleichen üblen Folgen wie das allzu frühe Eintrichtern anderer Dogmen, der eigentlich religiösen. Man pflegt doch auch solche Sätze, die sich später besser verifizieren lassen, wie z. B. den pytagoräischen Lehrsatz, das Kind nicht nachsprechen zu lassen, bevor es sie verstehen kann.

Eines der ersten Gebote, dessen Erfüllung sogar man vom kleinen Kinde verlangt und mit brutalen Strafen durchzusetzen sucht, lautet: du sollst nicht lügen. Alle Kindertränen, die um dieses Dogmas willen geflossen sind, seitdem es dumme Eltern auf Erden gibt, sollten zusammen vielleicht nicht weniger Mitleid erregen als die Opfer der Ketzerverbrennungen. Die Ketzerverbrennungen aber haben aufgehört; nur die Kinder werden nach wie vor geprügelt, weil sie lügen.

Ich glaube, es ist den Eltern, die sich das Richteramt anmaßen, nur sehr bequem, von ihren armen Kindern wahre Aussagen zu erzwingen. Wie die amtlich angestellten Richter die wahre Aussage unter den Eid gestellt haben, um die unwahre Aussage mit furchtbar hohen Strafen belegen zu können. Um des Prozesses willen, der doch um der Menschen willen da sein sollte; nicht die Menschen um des Prozesses willen. (Vgl. Art.  Eid.) So sollten die Kinder doch höchstens geprügelt werden, wenn es den Kindern Vorteil bringt, nicht um der Bequemlichkeit der Eltern willen. Die Eltern glauben aber an das Dogma von der Entsetzlichkeit der Lüge. Kein Mensch spricht immer die Wahrheit; nur die armen Kinder sollen immer die Wahrheit sprechen.

Seit den dankenswerten Untersuchungen über die Zuverlässigkeit der Erinnerung, die von Binet und William Stern angestellt worden sind, könnten Eltern und andere Richter wissen, wie es um die Psychologie der Aussage steht. Die Wahrnehmungen auch des erwachsenen und besonnenen Menschen sind, wenn sie nicht von der Aufmerksamkeit besonders kontrolliert werden, so vielen Täuschungen unterworfen, daß ein Gewissenhafter jede Zeugenaussage verweigern sollte, die für einen andern schmerzliche Folgen haben könnte. Die Aussagen der Kinder sind noch um soviel unrichtiger, als die Rolle der Phantasie im Kindesalter größer ist. Die Kinder sind darum der Suggestion weit mehr unterworfen. Selbst bei den Experimenten, die von wohlmeinenden Pädagogen für die Kinderpsychologie an Tausenden von Schulkindern angestellt worden sind, muß der Experimentator damit rechnen, daß die Kinder die Unwahrheit sagen. Bei Suggestivfragen antwortet oft die Mehrzahl der Kinder mit einer Unwahrheit. Auch für solche objektive Unwahrheiten, die doch ganz gewiß noch nicht Lügen sind, werden die Kinder von pedantischen Vätern oft gestraft.

Zur Lüge wird die Unwahrheit, wenn sie im Bewußtsein das Mittel zu einem Zwecke ist. Gewiß haben die Kinder eine Neigung, um eines kleinen Vorteils willen zu lügen, besonders leicht, um ihre Eitelkeit zu befriedigen. Und weil sie weniger erfahren sind als die Erwachsenen, so lügen sie beinahe noch häufiger und sind noch leichter zu ertappen als die Erwachsenen.

Wenn man ein Kind um einer Lüge willen, meinetwegen nur um einer bewußten Lüge willen (was wissen wir vom Bewußtsein des Kindes?) brutal abstraft wie für ein Verbrechen, so begeht man da außer andern Ungerechtigkeiten auch noch einen schweren Fehler gegen die Erkenntnistheorie. Weil das schlecht definierte Wort Lüge in besonders qualifizierten Fällen mit dem Gefühlstone der Verachtung belegt worden ist, darum soll jede Lüge eine unverzeihliche Sünde sein. Weil das Wort Lüge existiert, darum werden Kinder gemartert, trotzdem eine endlose Reihe höchst ungleichwertiger Handlungen mit dem gleichen Worte bezeichnet werden. Es gibt eine Lüge, die in Wahrheit unverzeihlich ist, eine Niederträchtigkeit, die eigentliche Sünde gegen den hl. Geist: die Verleugnung der entscheidenden eigenen Überzeugung; aber diese Sünde können Kinder gar nicht begehen. Es gibt auf der untersten Stufe der Lügenleiter die Lügen der Phantasie, die im Grunde nur Übungen der Phantasie sind; es ist läppisch und wortabergläubisch, auf diese Lügen, und wenn sie Münchhausiaden wären, das moralische Wertmaß überhaupt anzuwenden; den Erwachsenen können sie lächerlich machen, das Kind übt sich an ihnen vielleicht zum Künstler hinan. Zwischen der liebenswürdigen Lüge der Phantasie und der niederträchtigen Verleugnung einer Überzeugung gibt es eine Menge Fälle, in denen die Lüge den Motiven des Hungers, der Liebe oder der Eitelkeit gehorcht, eine Waffe ist im Kampfe ums Dasein, die wohlfeilste und schwächste Waffe. Einzig und allein von den Umständen hängt es ab, ob man diese Art der Lüge (man könnte sie immer Notlüge nennen), beim Erwachsenen billigt oder entschuldigt, ob man sie bedenklich oder häßlich findet; nur das arme Kind soll in seinem kleinen Kampfe ums Dasein nie und unter keinen Umständen lügen dürfen; so verlangt es die Bequemlichkeit der Eltern und der Lehrer, und auch diese Bequemlichkeit nennt sich Moral.

 

IV.

Wenn nur einige wichtige Ergebnisse der neuern Kinderpsychologie Gemeinbesitz des Volkes geworden wären, so hätte es um der armen Kinderseelen willen ernsthaftere Kämpfe geben müssen, blutigere Revolutionen als um die beste Regierungsform, um Standesvorrechte, um Gleichheit bei den politischen Wahlen und um die Biersteuer. Trotz aller Agitationen unserer besten Pädagogen ist aber die Massenschule des modernen Staates, dazu die angebliche Selekta, die als Mittel- und Hochschule die Söhne der regierenden Klassen zum Versehen von Regierungsstellen abrichtet, wesentlich dort stehen geblieben, wo die scholastische Schule des weltfeindlichen Mittelalters stand. Ich werde zu zeigen haben (vergl. Art.  Schule), daß heute noch wie in den alten Rhetorenschulen Worte ohne Sachen gelehrt werden. Daß das Sprechenlernen, welches wirklich die Hauptaufgabe einer zehn- bis zwanzigjährigen Schulzeit ist, wenn man nur eine gewisse Identität von Denken und Sprechen erkannt hat, durch das Wesen der Schule ausgeartet ist zu einem Schwatzenlernen; im Fortschritte der Kultur zu einem Schwatzenlernen nach der Schriftsprache.

Man wird mir einwenden wollen, daß seit Jahrhunderten, besonders seit Comenius, von allen ernsthaften Schulmännern und Kinderfreunden die Forderung gestellt wird: Sachen, nicht Worte. Die Forderung wird von den Reformatoren gestellt, von den Organisatoren der Massenschule wird sie reglementiert, von der Praxis wird sie verhöhnt. Die Menge des toten Lernstoffs ist zu groß, als daß außer den Worten auch noch die Sachen im Gedächtnisse haften könnten. Unbrauchbare Sachen sind auch nur Worte. Damit bin ich bei der Bedeutung des Gedächtnisses angelangt und bei der Behandlung oder Mißhandlung, welche das Gedächtnis durch die Schablone der Schule erfährt.

Oft genug und ausführlich genug habe ich darauf hingewiesen, daß alle Rätsel des Seelenlebens zurückgeschoben werden können auf das Rätsel des Gedächtnisses. (Vergl. besonders  Kr. d. Sp. I 2 S. 448 ff.) Es hätte der neuern Experimentaluntersuchungen gar nicht bedurft, um aus wenigen guten Beobachtungen die Schlüsse zu ziehen, auf die es der Kinderpsychologie ankommt: die eigentliche Lernfähigkeit des Gedächtnisses, die Memorierkraft, wächst langsam bis zu der Zeit der Pubertät, um dann nach einigen Jahren des Stillstandes nachzulassen; die Kapazität des Gedächtnisses, oder wie man die Kraft des Festhaltens nennen will, wächst dann weiter, bis gegen das dreißigste Jahr etwa; die Kraft, das Gelernte und Festgehaltene zu verarbeiten, bleibt bei gut veranlagten Menschen bis in ein hohes Alter stabil. Da es sich nun für jede Tätigkeit nur um die Verarbeitung des gesammelten Lernstoffs handelt, da das Festhalten natürlich in einem umgekehrten Verhältnisse zu der Menge des memorierten Lernstoffs steht, da die eigentlichen Memorierjahre in die Schulzeit fallen, so wäre es die erste Pflicht der Schulorganisatoren: aus dem unendlich großen möglichen Lernstoff den für das Leben brauchbaren auszuwählen. Und hier wird das schwerste Verbrechen an der Seele des Kindes begangen. Nicht nur beim Religionsunterricht, wo tote Bibelsprüche und tote jüdische Könige auswendig gelernt werden müssen; auch sonst, bis in die Hochschule hinein, wird nicht für das Leben memoriert, sondern für die Schule, für die Prüfung, für das Vergessen. Zahlen und Wörter, welche nur dann mit irgend einem Nutzen behalten werden können, wenn sie durch die Einübung beim Verarbeiten von selbst behalten werden, sollen memoriert werden: in der Volksschule, im Gymnasium, auf der Hochschule. Es ist wie ein Racheakt: womit die Lehrer gemartert worden sind, damit martern sie den Schüler.

Man verliere nur nicht aus den Augen, worauf es ankommt. Für die Verarbeitung des Forschers wie des Landmanns brauchbaren Lernstoff einzuprägen: das Kind im Denken zu üben. Ein alter pädagogischer Satz hat längst die richtige Regel gefunden: multum, non multa. Das viele Memorieren beeinträchtigt das Festhalten, das doch die erste Bedingung alles eigenen Bearbeitens ist.

Ja, wenn wirklich die mechanische Übung des Gedächtnisses eine Stärkung des Gedächtnisses wäre, wie die Übung der Muskeln bis zu einem gewissen Grade eine Stärkung der Muskeln ist! Dann könnte man hoffen, daß das gestärkte Gedächtnis den unbrauchbaren Memorierstoff der Schule nachträglich durch brauchbaren Lernstoff ersetzen würde. Aber die Lernkraft des Gedächtnisses ist während der Schulzeit auf ihrer Höhe, wie wir wissen, und läßt dann nach; der Mißbrauch, der mit der Lernkraft getrieben wird, läßt sich nie wieder ersetzen.

Bei den Versuchen, die Lernkraft der Schüler festzustellen, ist besonders eine Methode seelenloser Psychologen bemerkenswert. Man macht psychologische Experimente nach dem Muster der Versuche in physikalischen Laboratorien; worauf es dem Forscher nicht ankommt, das soll ausgeschaltet werden. So müssen die Versuchskinder, als ob sie chemische Elemente wären, völlig sinnlose Silben auswendig lernen, damit jede mögliche Assoziation, also das Denken, ausgeschaltet werde. Es werden psychologische Versuche gemacht durch Erzwingung einer Tätigkeit, die in der psychologischen Wirklichkeit niemals vorkommt. Bessere Beobachter haben längst bemerkt, daß solche Versuche irreführen müssen; was keinen Sinn hat, das wird schwerer gemerkt, als was einen Sinn ergibt. Niemand aber schützt die armen Kinder davor, daß die Schule auch im Ernste so mit ihnen experimentiert; die Kinder müssen außer einigem Brauchbaren sehr viel mehr Sachen memorieren, die für sie nur Worte sind, Worte, die sie nicht assoziieren können, sinnlose Silben wie die der psychologischen Versuche.

Ich möchte den Zustand, unter welchem die armen Schulkinder seufzen, durch ein Bild illustrieren. Ein Vater möchte seinem Sohne das Mittel zum Reichwerden hinterlassen. Der Vater selbst hat nicht gelernt, daß eigenes Denken und eigene Tatkraft das beste Mittel sei. Er meint, das Gedächtnis sei wie ein Geldkasten: der Schatz werde um so größer, je mehr man hineintut. Was er ererbt hat, was er hinzuerworben hat, das will der gute Mann seinem Sohne hinterlassen. Er hat ja nichts verbraucht, nichts verbrauchen können. Der Schatz ist eine Münzensammlung. Freilich, wenn der Schatz aus gemünztem Golde bestünde, dann wäre der Wert nicht klein; die Münzen hätten ihren Goldwert beim Schatzamt, beim Kenner noch einen Liebhaberwert dazu. Aber die Münzensammlung des Vaters besteht zum größten Teile aus Scheidemünzen, aus Banknoten und Assignaten, die längst außer Kurs gesetzt worden sind, und die überdies wegen ihres massenhaften Vorkommens auch vom Kenner nicht geschätzt werden. Der Sohn ist um sein Erbe betrogen worden. Beinahe so wie das Kind, welches die Kultur des vorausgegangenen Geschlechts in bloßen Worten mitgeteilt erhält.

Die Kinder sind Nachahmer par excellence. Als die Erwachsenen, die auch damals »Christen waren, wie sie Deutsche und Franzosen waren« (Montaigne), Kreuzzüge veranstalteten, um einiger Wörter willen, da ahmten das die Kinder mit einem Kinderkreuzzuge nach; heute spielen die Erwachsenen mit Revolutionen, auch von Schülerrevolten hört man mitunter; vielleicht vereinigen sich die Kinder zu einer großen Kinderrevolution gegen die Wörter der Schule.


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