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Von den lateinischen Wörtern norma, (Winkelmaß) und regula (Richtholz, Lineal), die beide bildlich die Bedeutung einer Vorschrift, eines Grundsatzes angenommen hatten, waren schon im alten Latein die Adjektive normalis und regularis gebildet worden. Während aber regulär, regelmäßig und ähnliche Worte ihre Bedeutung in bescheidenen Grenzen hielten, machte normal und gar normativ den Anspruch darauf, dem menschlichen Handeln Gesetze vorzuschreiben. Man könnte sagen: die Gesetzeswissenschaften beschäftigen sich mit dem Geschehen, an welchem die Menschen Regelmäßigkeiten beobachtet haben; die Normenwissenschaften oder die normativen Wissenschaften beschäftigen sich mit dem Geschehen, welches erst unter Regeln gebracht werden soll. Die ersten lehren, was ist; die zweiten, predigen, was sein soll. Wenn man nur zu sagen wüßte, worin der Unterschied zwischen Regeln und Normen besteht.
Irgend ein besonderer Ausdruck für die Regeln des menschlichen Handelns wäre ja ganz berechtigt, wenn man die Mittel zu einem Zwecke darunter verstünde; und glaubte man an einen absoluten Zweck, so könnte man am Ende auch den Mitteln zu diesem Zwecke, also den Regeln oder meinetwegen den Normen einen (sit venia verbo) verhältnismäßig absoluten Wert beilegen. Immer aber wäre die Vorfrage zu erledigen, ob dieses normative Geschehen nach absoluten Zwecken in der Wirklichkeitswelt vorkomme; denn Wissenschaft hätte, worauf schon Simmel hingewiesen hat, überall nur die Aufgabe, Gesetze zu finden, nicht Gesetze zu geben. Das gilt für die Ästhetik wie für die Moral.
Aber auch das bescheidenere Wort normal hat den Anspruch erhoben, etwas Mustergiltiges zu bezeichnen. (Normalschule.) In Wahrheit sagt normal nicht mehr als durchschnittlich; und Durchschnitt in diesem figürlichen Sinne wurde auch früher allgemein durch Mittel ausgedrückt. Es weist auf einen bedenklichen Gegensatz hin, daß die Gesetzeswissenschaften oder die Ist-Wissenschaften die Regel oder die Norm beim Durchschnittlichen, beim Mittelmäßigen finden, daß die Soll-Wissenschaften die Norm beim Abnormen, beim Übermenschlichen suchen.
Solche Gedanken scheinen mir nicht gefährlich für das, was ist. Nicht einmal für die Moral, die ist. Es gibt graue Mäuse und es gibt weiße Mäuse, es gibt gute Menschen und es gibt böse Menschen; der Sollbegriff ändert nichts daran. (Vgl. Art. Sollbegriff.)