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Stoff.

 

I.

Beim Stoffbegriff wird uns die Einsicht in das Wesen der Lehnübersetzungen nicht weit führen, trotzdem auch hier wieder ganz klar ist, daß materia (materies) als philosophischer Terminus den griechischen Terminus ὑλη übersetzte, und daß Stoff nach langem Schwanken, das immer noch nicht ganz zur Ruhe gekommen ist, an Stelle von materia trat. Aber der Stoffbegriff selbst ist so naiv, so plump, vom Standpunkte unserer Erkenntnistheorie so ordinär, daß ich wirklich keinen Unterschied finden kann zwischen der Vorstellung, die irgend ein Wilder sich vom Stoffe machen mag, und dem Stoffbegriff, wie er seit zweieinhalb Jahrtausenden sich in der Philosophie herausdestilliert hat. Ich will die Wortgeschichte darum ganz kurz abtun.

Griech. ὑλη hieß bekanntlich ursprünglich (was man so ursprünglich nennt) ein Gehölz, dann das gefällte Holz, das Nutzholz, insbesondere das Holz, woraus gebaut wird; in weiter und weiter schweifender Metapher anderer Baustoff, wie Stein und Metall, endlich im Gegensatze zur Form jeder Inhalt, auch der geistige Inhalt, z. B. ὑλη τραγικη.

In allen diesen Bedeutungen gebrauchten die Lateiner ihr Wort materies oder materia: Nutzholz, Bauholz, weiter: Nahrungsstoff, Grundstoff, Baumaterial, Mauerkalk, sogar Eiter materie ( materia peccans, in meiner Jugend noch von Ärzten gesagt), Brennstoff, Zündstoff, d. h. Anregung, Ursache, schließlich auch die geistige Anlage, das Naturell und der Stoff einer geistigen oder künstlerischen Tätigkeit.

Das deutsche Stoff ist etymologisch nicht ganz sicher erklärt. Nach Diez das lateinische stuppa (Werg), das, womit ausgestopft wird; stuppa wäre in germanischen Sprachen zu Stoff geworden und dann erst zu den Romanen als étoffe zurückgekehrt. Die Sippe ist in den romanischen Sprachen recht ausgebreitet (z. B. franz. éteuf, ausgestopfter Ball, étouffer, ersticken, ital. tuffo, Dampf, stoffa, Zeug, span. estofar, Kleider füttern usw.); doch machen neuere Forscher zu diesen Beziehungen ihre Fragezeichen. Jedenfalls geht das Wort viel weiter zurück, da schon griech. στυππη Werg heißt, von στυφειν, dicht machen, vielleicht ein Schifferausdruck, wer weiß von welchem Volke entlehnt. Materie wurde aber erst im 17. Jahrhundert, ganz erfolgreich erst im 18., mit Stoff übersetzt. Ganz genaue Lehnübersetzung durch Holz hatte Eckhart versucht; ebenso vorher schon Notker, der Materie mit Zimber wiedergibt; das heutige Zimmer entsprach im Ahd. ganz genau dem griechischen ὑλη, es war, wie heute noch das englische timber: Nutzholz, Zimmerholz, dann überhaupt Material, Stoff, auch figürlich. Auf ein anderes Blatt gehört es, daß timber ebenso wie materia und materials weitaus verdrängt wurde durch die eigentümliche englische Bildung matter.

Was ist nun das, was die Philosophen der Griechen, der Römer und des neuen Abendlandes wie die schlichteren Denker des Feuerlandes das Material, den Stoff eines Kunst- oder Naturprodukts nennen? Ich will nämlich wirklich darauf ausgehen, nicht mehr und nicht weniger als die Sprachlichkeit, Menschlichkeit, Unfaßbarkeit dieses Begriffes nachzuweisen und damit wieder einmal die Unfaßbarkeit der Begriffspaare oder Begriffsgegensätze: Stoff und Form, Stoff und Kraft, Materie und Geist. Und als kleines Beispiel dafür, wie solche Untersuchungen nicht ganz wertlos zu sein brauchen, weil sie sogar auf das Gebiet der Jurisprudenz oder des Geldwerts hinüberstreifen, erinnere ich daran, daß nach römischem Recht Eigentum erwarb, wer einem Material eine neue, etwa künstlerische Form gab, und daß das neueste Recht ratlos und wortabergläubisch vor der Frage steht, ob Diebstahl an elektrischer Kraft möglich sei oder nicht.

Die Sprache ist immer materialistisch und kann nicht einmal ordentlich sensualistisch sein. Die Sprache zählt immer noch die fünf Sinne auf, trotzdem die Vitalempfindungen ohne genaue Kenntnis des entsprechenden Nervenorgans hinzugekommen sind, weiter die Bewegungsempfindungen, trotzdem der ehemalige Tastsinn sich hat gefallen lassen müssen, in Temperatursinn und Berührungssinn, dieser wieder in Tast- und Drucksinn auseinandergelegt zu werden, und trotzdem Geschmack und Geruchssinn wiederum sehr nahe zusammengerückt sind.

Hätten wir nun eine philosophische Sprache zu schaffen und in dieser die Ursachen unserer Sinnesempfindungen mit einem gemeinsamen Worte auszudrücken, so wüßten wir, woran wir sind: Stoff, Materie, Wirklichkeit wäre, was der normale Mensch mit seinen Sinnen wahrnimmt. Das Weltbild des normalen Menschen braucht ja nicht das reichste oder das beste Weltbild zu sein; die Magnetnadel und jeder Kupferdraht haben Sinne, die den normalen Menschen fehlen.

Nun haben die historischen Sprachen aber diesen Weg nicht eingeschlagen. Sie haben die Ursachen der Sinnesempfindungen nach dem sehr brutalen Einteilungsgrunde der räumlichen Entfernung geschieden in Stoff und in etwas anderes. Stoff, Materie war zunächst ganz gewiß, was unmittelbar den Tastsinn anging. Was mit den Fingern betastet, betippt werden kann, das ist Stoff und darum ein Körper. Und darum heißt eine wesentliche Eigenschaft der Körper die Undurchdringlichkeit, die doch nur eine Eigenschaft des Raumes ist.

Zur Berührung mit Stoffen oder doch mit kleinen Stoffteilchen kommt es auch beim Geschmacksinn und beim Geruchsinn. Der Geruchsinn kann noch auf einige hundert Meter vom Stoffe affiziert werden; unter Umständen auf weitere Entfernung als das Gehör vom Schalle affiziert wird. In den meisten Fällen jedoch dringt der Schall weiter als ein Duft oder Gestank und darum heißt die Ursache des Schalls seit altersher nicht Stoff. So naiv bildete die Sprache seit jeher ihre Vorstellung vom Stoffe. Diesen Unterschied machte man ja schon zu einer Zeit, als ätherische Öle noch unbekannt, als der Nachweis des Gewichtsverlustes durch Präzisionswagen noch nicht gesichert war. Das Bibbern der Glocke erregte durch die Luft hindurch die Schallempfindung in unserm Gehör. Was war die Ursache dieser Empfindung, wenn es kein Stoff war? Beim Schall fand man ein Wort dafür bald genug. Man nahm den Weg der Fortpflanzung, also einen Raumbegriff ganz unlogisch für die Ursache, die doch zuletzt etwas Materielles sein mußte. Und für den Weg setzte man noch dazu das Bild von der Wegform, den Bildvergleich mit der Wellenbewegung, die im Teiche entsteht, wenn ein Stein hineingefallen ist. Das wissenschaftliche Gewissen fragte weiter nach dem Oberbegriff: was ist Wellenbewegung, wenn sie nicht Stoff ist? Eine Kraft. Das ging ein paar hundert Jahre, bis der Kraftbegriff analysiert und zerfasert war und nicht mehr recht passen wollte. Seitdem ist der Oberbegriff wieder anders benannt worden: Arbeit oder auch Energie. Was nicht Stoff ist, und dennoch direkt oder indirekt auf unsere Sinnesorgane wirkt, das ist Energie.

Aus unendlich weiterer Entfernung als der Schall affiziert das Licht sein spezifisches Organ, auf ungezählte Millionen von Meilen weit. Was ist die Ursache dieser Lichtempfindungen? Ein Stoff oder eine Energie? Vor zweihundert Jahren wurde darüber gestritten wie über die Personen der Dreieinigkeit. Newton sah im Lichte bekanntlich einen Stoff. Aber sogleich wurde gegen diese »Kanonade von Lichtteilchen« durch Huygens die Lehre von den Wellenschwingungen des Lichts aufgestellt. Nicht sobald einigten sich die Forscher. Noch Euler verteidigte Huygens mit einem Gedankengange, der dem hier eingeschlagenen ein wenig ähnelt. Wir riechen die Teilchen, die sich von einem flüchtigen Körper lösen. Beim Hören löse sich nichts vom klingenden Körper ab und beim Fühlen müsse man den Körper selbst berühren. Die Entfernung sei beim Tasten null, beim Riechen klein, beim Hören bedeutender, beim Sehen am allergrößten. Es sei deshalb wahrscheinlicher, daß dieselbe Art der Fortpflanzung für Schall und Licht bestehe, als daß Geruch und Licht in derselben Weise fortgepflanzt werden sollten (Die Wärme, von John Tyndall, 4. Aufl., 331). Ich scherze nicht bloß, wenn ich sage, Euler hätte seinen Wahrscheinlichkeitsbeweis damit unterstützen können, daß die Sprache Gehör und Gesicht, als die höheren Sinne gegenüber den niederen, zusammenfaßt. Denn wir werden gleich sehen, daß physikalische Theorien, sowie man über die Beschreibung hinauskommen will (was doch erst Theorien gibt), ja sogar schon in statu nascendi der Beschreibung, von der Sprache, von der Gemeinsprache abhängig sind.

Die Ursache unserer Licht- wie unserer Schallempfindungen ist also eine Energie. Es ist etwas in unserm Sprachgefühl, was diese Worte nicht recht mag. Jawohl, die Ursache der einzelnen Erscheinungen von Schall und Licht, besonders von Schall mögen Energien sein. Aber das Licht, das Sonnenlicht, die Sonne, ja, das ist doch mehr. Sagen wir: eine Energiequelle. Eine Quelle, ein Vorrat, wobei noch das Herunterströmen der Quelle von oben sehr gut mit dem höhern Niveau anderer Energien sich verträgt. Die dann wieder besondere Energiequellen haben? Wenn aber Licht und z. B. Elektrizität eine und dieselbe Bewegung ist, wie dann? Brot und Mehl aus der gleichen Vorratskammer?

Und seit einigen Jahren wird die elektrische Energie, die doch ganz gewiß eine und dieselbe ist mit der Lichtenergie, wieder als Stoff aufgefaßt. Wir halten wieder bei der Kanonade von elektrisch geladenen oder elektrischen Atomen oder Molekülen, bei der Kanonade von Elektronen und Ionen. Die Geschwindigkeit von 300 000 km in der Sekunde, d. h. von 300 000 x 1000 x 1000 mm in der Sekunde, schreckt die Physiker nicht mehr. Die Unterscheidung, welche von der Gemeinsprache zwischen nähern und entferntern Ursachen gemacht wurde, wird augenblicklich von den besten Fachleuten nicht mehr beachtet; die entfernteste Ursache unserer Sinnesempfindungen ist wieder zu Stoff geworden. Und zwischen der stofflichen Ursache der niedern Sinne einerseits und des Gesichts anderseits steht einsam und traurig der Gehörsinn, dem kein Stoff sich mitteilt. Weil nämlich das Medium des Gehörs die Luft ist, das Medium des Gesichts aber der Äther. Wir haben also die stoffliche Ursache des Schalls nach ihrer Wegform benannt. Wir haben die stoffliche Ursache des Lichts, welches aus unbekannten Weltgegenden auf unsere Erde gelangt, auf den gleichen Weg und eine ähnliche Wegform gewiesen. Wir kennen die Weltgegend nicht, auch den Weg nicht. Aber er ist mit Äther gepflastert.

Nun aber hat die Physik, die die entferntesten Sinnesdaten materialisiert hat, die allernächsten entmaterialisiert, fast vergeistigt. Die beiden Empfindungen des ehemaligen Tastsinns brauchen ihre Ursachen oder ihre Ursache nicht mehr als Stoffe anzusprechen. Wärmesinn und (sagen wir) Körpersinn läßt nur noch auf Energien schließen, nicht auf Stoffe. Die innere Molekularbewegung (Wessen? Der Körper? Aber die sind doch nicht zweimal auf der Welt? Einmal als Körper und einmal als Molekularbewegung von Energiezentren?) wird hier von unserm Hautsinn, dort vom Quecksilber im Thermometer als die und die Temperatur registriert, geordnet, empfunden, wie ein bestimmtes anderes Getrommle vom Ohre als Cis geordnet wird, wie wieder ein anderes Getrommle vom Auge als Grün. Wärme ist Energie. Aber auch, was der Tastsinn betippt, der harte Körper zwischen unsern Fingern, auch das ist eine Wirkung von Energien. Die alte Undurchdringlichkeit wird zu einem Phänomenon für den Tastsinn. Also: die Elektrizität, für die der normale Mensch kein Organ hat, ist ein Stoff: man erklärt sie, nach dem Muster der »überwundenen« Newtonschen Lichtstrahlentheorie, aus Ionen und Elektronen (und streitet über die Bedeutung beider Begriffe); der Stoff aber, der alte, wohlbekannte Stoff, der Körper, der ist nicht stofflicher Art. So schwankt die Bedeutung der obersten Begriffe in extremen Gegensätzen hinauf und hinab in der Geschichte der Philosophie, in der Geschichte der Wissenschaften, solange wir sie im Zusammenhange zu überblicken vermögen, seit dritthalb Jahrtausenden. Und es ist immer nur eine Geistesmode, wenn die jeweilig Modernen im Stoffe bald das Sein, bald das Nichtsein erblicken, im Sein bald den Stoff, bald den Nichtstoff. Wenn das Stundenglas der Sanduhr abgelaufen ist, dann wird sie umgedreht. Die freiesten Köpfe höchstens besinnen sich alle paar Hundert Jahre einmal darauf, daß Stoff, Materie, ὑλη ursprünglich wie bei Platon ein bildlicher Ausdruck war, vom Zimmerholz der Zimmerleute hergenommen. Die faule Vernunft, pigra ratio, ἀργος λογος, haftet an dem bildlichen Worte. Augustinus nennt hylen quandam informem materiam; Paracelsus erfindet sich eine Urmaterie aus ὑλη und astrum und nennt sie yliaster oder hyaster. Die deutschen summi philosophi Schelling und Hegel haben durchaus studiert, was die Cartesianer über Materie und Raum, was die Engländer über Materie als Gedankending gelehrt haben und kommen hilflos zu Definitionen wie: »etwas, was den Raum erfüllt« und: dauerndes Etwas. Erst in unsern Tagen setzt langsam die Sprachkritik ein und erkennt, daß Stoff und seine Gegensätze nur verschiedene Auffassungsweisen der gleichen Wirklichkeit sein können. Wundt erkennt, daß Materie nur ein Begriff sei; Mach, daß »das Ding, der Körper, die Materie nichts sei außer dem Zusammenhang der Farben, Töne usw., außer den sogenannten Merkmalen.« Ich habe die gleiche Vorstellung so zu fassen gesucht, daß es in der Wirklichkeitswelt, in unserm psychischen Erleben also, nur Adjektive gibt; aber keine Substantive oder Stoffe und auch keine Verben oder Kräfte.

Und jetzt wende ich mich hart gegen diesen eigenen Orientierungsversuch und sage: auch diese, wie ich glaube, klarste und vorläufig letzte Einsicht in das Wesen des Stoffbegriffs ist nur menschlich, ist nur sprachlich, geht nur auf die Sprache, geht die Natur nichts an.

Wie der Mond sich nicht darum kümmert, wenn der Hund ihn anbellt, so die Natur nicht, ob die armen Menschen sie mit materialistischen Worten beschreiben oder mit idealistischen. Auch der Hund bellt den Mond nur an, weil er ihn mißversteht, weil er ihn für eine große Laterne hält mit einem Menschen dahinter, anthropomorphisch, kynomorphisch. Auch Kritik der Sprache kann nicht an die Natur heran; sie weiß es nur besser und bellt und spricht sie nicht mehr an.

In diesem Gedankengange, den man wieder einmal mit den Worten »nihilistisch« oder »verzweifelt« zu brandmarken glauben mag, weil er resigniert, in diesem Zusammenhange möchte ich einmal wieder den Einwurf der Bahndirektoren, der Ingenieure, der Pastoren und der Weichensteller zurückweisen: unsere wissenschaftliche Sprache könne denn doch nicht ganz machtlos sein, weil wir mit ihrer Hilfe zu elektrischen Eisenbahnen usw. gekommen wären. Wieder einmal: nicht durch die Sprache kommen wir an die Natur heran, sondern immer sprachlos; zwei Bilder von der Natur besitzen wir: das naive des Feuerländers, der aus ὑλη sein Haus, seine Kleidung und seine Nahrung bereitet, und das mathematische des Physikers, der die Verhältnisse (ohne zu wissen, ob sie Verhältnisse von Stoffen oder Kräften sind) in Zahlen gemessen hat. Zahlen, bis zum Symbol des Differentials hinauf sind aber keine Begriffe, kein Worte. Zahlen schweigen.

 

II.

Ich habe versprochen, nicht nur die Unfaßbarkeit des Stoffbegriffs aufzuzeigen, sondern auch die menschliche Gebrechlichkeit, die Leere der Gegensatzpaare Stoff–Form, Stoff–Kraft, Materie–Geist.

Es gab eine Zeit, in der man sich bei dem Gegensatze von Stoff und Form etwas zu denken glaubte; es waren die tausend Jahre der Herrschaft des Aristoteles. Die Form war ein aktives Prinzip, der Stoff ein passives; die Form war das Männchen, der Stoff war das Weibchen; zusammen zeugten sie die Einzeldinge. Man wußte wohl unklar, daß es einen Stoff ohne Form, einen ungeformten Stoff ebensowenig gab wie eine Form ohne Stoff. Einerlei, die Schule unterschied an jedem Einzelding das Was und das Wie, den Stoff und die Form. Man hätte sich aber schon damals herbeilassen können, die Relativität beider Begriffe zuzugestehen. Doch der neue Sprachgebrauch, den wir erkenntnistheoretisch nennen, kann sich damit nicht begnügen. Stoff ist ja die Ursache unserer Empfindungen. Holbach drückt es klar aus, wie denn der Materialismus sich niemals dem Festnageln entzieht: »La matière en général est tout ce qui affecte nos sens d'une façon quelconque.« Aber wir haben vorhin gesehen, daß auch das nicht einmal wahr ist, in keiner Sprache wahr ist. Nur was den Tastsinn, den Geschmack und den Geruch affiziert, heißt Stoff oder hieß so vor dem Auftreten der Energetik. Was das Gehör und den Wärmesinn affiziert, ist etwas anderes, ist Bewegung im Raume, ist also Wegform. Was das Gesicht affiziert, war hundert Jahre lang Stoff, ist jetzt als Farbe Wegform, ist als Gestalt reine Form. Man vergesse nicht, daß der strenge Dualist Descartes und nach ihm Spinoza, aber auch noch Wolf die Materie mit der Ausdehnung gleich oder fast gleich gesetzt haben; sie mußten immer der Materie irgend eine Eigenschaft (die Kraft des Widerstandes) beifügen, um die Materie vom Raume unterscheiden zu können, der Form gewesen wäre. Es ist so: damit der Stoff nicht mit seinem Gegensatze Form zusammenfiele, mußte ihm sein anderer Gegensatz zu Hilfe kommen, die Kraft. Die Sanduhr wurde umgedreht.

Man könnte die Kraft spielerisch die innere Form nennen. W. v. Humboldt hat ja das Wort innere Sprachform für Sprachgebrauch geprägt, und das Wort hat Glück gehabt. Man könnte ebenso von einer inneren Tierform, einer inneren Pflanzenform, einer inneren Kristallform usw. reden. Wenn sich nur etwas dabei denken ließe.

Das Gegensatzpaar Stoff und Form gehört dem Altertum an, wurde von Aristoteles aufgebracht und beherrscht die ganze Scholastik, nachdem forma in die Ideenlehre Platons ein- und untergegangen war. In der Metaphysik des Mittelalters gibt es so viele formae, wie es Kräfte gab in der metaphysischen Physik der jüngsten Zeit. Aus der hat sich dann das Gegensatzpaar Stoff und Kraft entwickelt, das zur Zeit von Moleschott und Büchner dem ungläubigen Halbgebildeten ebenso einfach die Welträtsel löste wie heute Häckels Monismus dieses Geschäft besorgt. Aus dem notwendigen Haß gegen die Kirche ist jede solche Bewegung hervorgegangen. Der gleiche Haß darf uns nicht hindern zu erkennen, daß der Kraft- und Stoffmaterialismus die Metaphysik des liberalen dummen Kerls war.

Wie es einen ungeformten Stoff nicht geben konnte, wie Stoff ohne Form, Form ohne Stoff unvorstellbar blieb, so gibt es auch keinen Stoff ohne Kraft, keine Kraft ohne Stoff. Aber die Begriffe Form und Kraft kommen von entgegengesetzten Ausgangspunkten her. Forma war zuerst die äußere Gestalt, und die Bedeutung mußte viele Verrenkungen durchmachen, bevor forma zur quidditas rei werden, bevor die forma substantialis (ε ἰδος ο ὐσιωδης) gedacht werden konnte. Dahingegen nahm der Kraftbegriff seinen Ausgang von dem menschlichen Gefühl der eigenen Muskelkraft. Das wußten schon Galilei und Locke. Aristoteles besaß den Begriff noch nicht. Langsam bildeten sich in der Scholastik die formae aus, die endlich qualitates occultae hießen. Erst nachdem in der Mechanik die Verhältnisse der Bewegungen gemessen worden waren, suchte man ein Wort für diese geheime Eigenschaft, für die Ursache der Bewegung. Man suchte lange. Vis, impetus, conatus, effort, force, Kraft. Die Metaphysik von Leibniz sieht in der force noch ein Mittelglied zwischen dem Vermögen zu wirken und dem Wirken selbst. Wolf, auf dessen Bedeutung für die deutsche Terminologie R. v. Raumer zuerst gegen J. Grimm hingewiesen hat, definiert endlich Kraft als die Quelle der Veränderungen, als den Grund der Bewegung. Da könnten wir eine hübsche Unterscheidung aufstellen: Stoff ist die Ursache unserer Sinnesempfindungen, genauer die Ursache jeder Änderung unserer Empfindungen; Kraft ist die Ursache, die letzte Ursache der Änderungen zwischen den Außendingen, in einem Spezialfall also auch die letzte Ursache der veränderten Beziehungen zwischen dem Außendinge und unserm Sinnesorgane. Kräfte bewirken also die Bewegung der Billardkugeln, Kräfte bewirken es aber auch, wenn die Dinge uns schwer, hart, warm, süß, duftig, laut, hell erscheinen. Wir werden bald sehen, und wir haben schon gesehen, daß die Kräfte da soviel für uns getan haben, daß für den Stoff zu tun nichts übrig bleibt.

Aber die Metaphysik der Kräfte spricht längst nicht mehr die neue Sprache. Schon D'Alembert wollte den metaphysischen Kraftbegriff eliminieren. Kirchhoff mit seiner berühmten Forderung, zu beschreiben und nicht zu erklären, will dasselbe. Czolbe leugnet die Existenz von Kräften, deren Begriff nur aus Bequemlichkeitsrücksichten gebraucht werden möge. Und Mach erklärt die Anwendung des Kraftbegriffs für Fetischismus.

Die Herkunft des menschlichen Kraftbegriffs vom Gefühl der eigenen Muskelkraft verrät sich in einem merkwürdigen Zusammenhange metaphysischer und grammatischer Bedeutungswandlungen des Wortes subjectum. Aristoteles hatte die ὑλη το πρωτον ὑποκειμενον genannt. Meine Leser wissen, daß ὑποκειμενον von der Scholastik mit subjectum übersetzt wurde, und daß dieses Wort ziemlich genau den Sinn hatte, den wir jetzt mit Objekt verbinden. Der Satz des Aristoteles wurde auch von Thomas v. Aquino (wie früher von andern) sorgfältig übersetzt: materia est primum subjectum ex quo aliquid fit per se. Es liegt nicht an mir und auch nicht an der Mangelhaftigkeit historischer Vorarbeiten, wenn sich nicht ganz eindeutig aussprechen läßt, worauf ich hinweisen möchte. Die ontologischen, logischen und grammatischen Beziehungen waren durch die Jahrtausende durcheinander gewirrt, und sind heute noch nicht entwirrt. Es ist nicht anders: Aristoteles selbst hat nicht klar unterschieden, ob seine Kategorien ontologischer, logischer oder grammatischer Art seien. Und daran hat sich bis heute nichts geändert, trotzdem jedes Schulkind heute die Begriffe Subjekt und Prädikat hin- und herwirft. Platon, der keine Grammatik gelernt hatte, hat dennoch das Wesen des Satzes richtiger durchschaut; ihm war das Substantivum, das substantielle nomen, ὀνομα; das Prädikat, das verbum war ihm das nicht Substantielle, das Fließende, ῥημα. Als nun nach Aristoteles die Grammatik als besondere Disziplin aufkam, erhielt der grundlegende Redeteil und der grundlegende Satzteil die Bezeichnung ὑποκειμενον, subjectum. Und wenn heute in den Sätzen oder Urteilen: »Ich sehe den Baum, die Sonne erwärmt die Erde« die Vorstellungen ich, die Sonne Subjekte heißen, die Vorstellungen Baum, Erde Objekte, so versteckt sich hinter diesem wohlbekannten Sprachgebrauch der Schule eben die Wirrnis, die Subjekt und Objekt ihre Bedeutungen vertauschen ließ. Thomas mußte noch den Stoff das erste Subjekt nennen; und heute führt die feinste Untersuchung über die Urteilsfunktion dazu, dem Subjekte (im Satze, also im Urteil) Kraft zuzusprechen. Jerusalem sagt (Urteilsfunktion S. 156): »Was einmal die Subjektsfunktion übernimmt, ist Kraftzentrum, und zwar objektiv vorhandenes Kraftzentrum, und als dessen potentielle oder aktuelle Wirkungen werden die Vorgänge, die Tatsachen, die Gesetze des Geschehens gefaßt.« Ontologisch ist das Subjekt zum Objekt geworden, logisch und grammatisch der Stoff zur Kraft.

Ich mache noch einmal (vgl. Art.  objektiv) die Bemerkung, daß wir vielleicht gut daran täten, einen Rücktausch der Begriffe Subjekt und Objekt vorzunehmen und so zu dem Sprachgebrauche der Scholastiker ohne Scheu zurückzukehren.

Die gesamte neuere Philosophie, aber auch alle besonnene Naturwissenschaft hat so den alten Stoff als ein Gedankending betrachten gelernt. Die termini wurden aus dem Altertum hergenommen, besonders aus dem Neuplatonismus, der die Materie schon als Emanation des geistigen Urwesens aufgefaßt hatte. Scotus Erigena geht im Jonglieren mit den Begriffen bis zum Äußersten; die Materie, eigentlich doch eine Abstraktion von den Körpern, ist ihm unkörperlich, eine privatio, die Materie, außer der wir keine Substanz kennen, ist ihm keine Substanz. Doch die Einsicht kam erst mit der Neuzeit: auch der Stoff ist nur ein abstractum, ist corpus generaliter sumptum (Hobbes, De corp. VIII). Ebenso ist für Locke die Materie nur eine Abstraktion, für Hume eine bloße Fiktion, existiert für Berkeley natürlich bloß im Bewußtsein. Die neueste Anschauung, die die Elemente des Stoffs zu Kraftmittelpunkten macht und die jetzt als Energetik namentlich die Disziplinen der jüngsten Physik beherrscht, findet sich schon bei Lotze klar ausgesprochen. Materie sei eine Hypothese, die bloße Erscheinung diskreter Atome, die wieder unausgedehnte Mittelpunkte von Kräften sind. So ist das Ende vom Lied: Kraft ist die Ursache einer Erscheinung, Stoff ist die Ursache einer Empfindung; weil aber jede Empfindung auch eine Erscheinung ist, so ist Kraft der Oberbegriff von Stoff; wenn wir nur wüßten, was eine Ursache ist.

Das dritte Gegensatzpaar, das wir zu betrachten haben, ist so ernst nicht zu nehmen. Der tyrannische Sprachgebrauch hat zu zwei Formen des Ausdrucks geführt: Körper und Seele, Materie und Geist. Solange der Materialismus in seiner Armut ehrlich und darum schamlos war, kindlich frei von jeder Erkenntnistheorie, solange schien dieser Gegensatz einiges Licht auf den Stoffbegriff zu werfen. Seelen, Geister existierten nicht, waren Gespenster; die Körper allein existierten und existieren als ihr Stoff noch einmal. Philosophen und Jesuiten – das muß den Jesuiten gelassen werden – rückten nun diesem alten Materialismus so lange seine Armut vor, bis seine Vertreter zu verschämten Armen wurden und die Welt- und Lebensrätsel durch ein neues Wort zu lösen suchten, den Monismus. Es gibt einen Monistenbund, wie es politische Bezirksvereine gibt. Man schämt sich seiner Nacktheit und zitiert Kant, den man nicht kennt. Man zuckt die Achseln über Büchner und sagt: Erkenntnistheorie. Man nennt die Sache auch: Panpsychismus. Man weiß nicht, daß der Panpsychismus so alt ist wie die Tatsache: bedeutende Denker können auch ein bißchen Dichter sein. Paracelsus, der in allen Dingen spiritus sah, Kepler, der die Gestirne beseelte, Fechner, dessen Tagesansicht träumend eine Allbeseelung lehrte, das waren Dichter, und ihr Panpsychismus war eine schöne und reiche Weltanschauung; der nüchterne Panpsychismus unserer Tage ist verschämt und armselig.

Das Ineinanderfließen des Stoffbegriffs und des Formbegriffs ist veraltet; das Ineinanderschwebeln des Stoffbegriffs und des Geistbegriffs ist totgeboren; das Verhältnis von Stoff und Kraft jedoch gehört noch zu den Problemen unserer Zeit. Hätte man den Stoff als Ursache von Sinnesempfindungen und die Kraft als Ursache aller Erscheinungen nicht durch Jahrhunderte einander entgegengesetzt, dann hätte längst die Erhaltung der Kraft logisch aus der Erhaltung des Stoffs hervorgehen müssen. Die Erhaltung des Stoffs war schon von Lucretius und wieder von Francis Bacon klipp und klar gelehrt worden; dennoch konnte noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts um die Entdeckung der Krafterhaltung ein häßlicher Prioritätskampf entstehen, bei dem wieder einmal nationale und individuelle Eitelkeiten ausbrachen, wie Mach schön und menschlich auseinandergesetzt hat. Ich weiß wohl und habe es (denke ich) allgemein genug begründet, daß der Fortschritt des Wissens nicht auf dem Wege der Logik vor sich gehen kann. Die geniale Monomanie von Robert Mayer, die technische Nüchternheit von Joule und die mathematische Klarheit von Helmholtz mußten zusammenwirken, um den allgemeinsten Satz vom Stoffe überzeugend auf die Kraft zu übertragen; aber hier, wo ich immer nur Sprachkritik treibe, darf doch wieder einmal darauf hingewiesen werden, wie die Begriffe der Sprache den Fortschritt aufgehalten haben. In ähnlicher Weise scheint mir der Kraftbegriff und das Wort vis inertiae hundert Jahre lang die Einsicht in das Wesen der Trägheit aufgehalten zu haben. (Vgl. Planck »Prinzip«.)

Und heute liegt es so, daß der Streit um den Stoffbegriff, der einst zwischen Idealisten und Materialisten, zwischen Philosophen und Naturforschern geführt wurde, – daß der Streit um den Stoffbegriff innerhalb der physikalischen Forschung geführt werden müßte und nur darum nicht geführt wird, weil die besten Forscher zu solchem Streite keine Zeit haben. Fast jede einzelne Disziplin der Physik setzt einen andern Stoff voraus. Die Mechanik hat es allein mit Massen zu tun, die mehr und mehr mit ihren Gewichten zusammenfallen; die Chemie hält an der Atomenhypothese fest, läßt den Stoff aus wägbaren Atomen bestehen und feiert mit dieser Hypothese ihre Triumphe; die Disziplinen der Wärme, der Elektrizität, des Magnetismus und des Lichts nahmen noch vor kurzem unwägbare Materien an (die Elektrizitätslehre scheint sogar zu wägbaren Atomen, den Ionen, zurückkehren zu wollen) und haben seit ihrer ideellen Vereinigung alle diese unwägbaren Materien durch etwas zu ersetzen gesucht, was Eigenschaften des alten Stoffs und der alten Kraft vereinigt. Und dazu die Hypothese vom Äther nicht aufgegeben, von dem wirklich niemand sagen kann, ob er ein Stoff sei oder nicht.

Ich hoffe noch einmal ausführen zu können, was ich bildlich oder besser über die Pflicht der Physik zu sagen hätte, den Hauptbegriff ihrer Beobachtungen zu definieren. Hier wage ich einige Leitworte und gebrauche aus Stilgründen für Kraft doch das Modewort Energie.

Was man früher die unwägbare Materie nannte, was sich jetzt als Bewegungsenergie ansprechen läßt, was den Stoff der nähern Sinne zu verdrängen strebt, das ist der Äther, in dem oder an dem alle diese Bewegungen gedacht werden. »In dem oder an dem«; die Präpositionen sind wohl schwerlich in oder an der Wirklichkeit. Und ich kann nicht finden, worin der Äther sich so sehr von dem Raume unterscheidet, den er ausfüllt. Raum und Stoff sind so untrennbar, daß unräumlicher Stoff undenkbar ist. Und ebenso untrennbar sind Kraft (die Ursache einer Wirkung) und Zeit. Zeit und Raum verhalten sich wie Kraft und Stoff. Raum ist immer, Zeit ist überall. In den sichersten und wichtigsten Formeln der mathematischen Physik verschwinden Kraft und Stoff, treten die Maße von Zeit und Raum ein. Raum kann nicht verbraucht werden, ist also unzerstörbar wie der Stoff. Zeit aber wird verbraucht. Wir leben an den Ufern des Zeitstroms, des unendlichen, wie wir an den Ufern des Stroms von unendlicher Sonnenenergie sitzen; und einen Bruchteil der beiden Stromenergien benützen wir und glauben an ein perpetuum mobile des Weltganzen und reden von einer Erhaltung der Energie und werden vielleicht einmal erfahren, daß die Zeit die Entropie der Welt ist (vgl. Art.  Zeit).


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