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Man wird diesen Begriff als den Namen einer bestimmten Geisteskrankheit, d. h. einer ungefähren Symptomgruppe in zuverlässigen psychiatrischen Werken heute kaum mehr finden; desto häufiger liest man die Buchstabengruppe moral insanity in Zeitungen und hört die Lautgruppe von bezahlten Sachverständigen, so oft ein wohlhabender Mensch etwa wegen eines Diebstahls, ein gutgekleideter Mensch wegen eines Sexualverbrechens angeklagt ist. Wieder einmal lebt ein Wort in der Gemeinsprache der Halbgebildeten weiter, nachdem es von der Wissenschaft preisgegeben worden ist.
Der Begriff ist durch Lehnübersetzung, der durch moralische Ansteckung eine gemeinsame Seelensituation vorausgegangen war, in alle Kultursprachen übergegangen; der Franzose spricht von folie morale, der Italiener von pazzia morale, der Deutsche von moralischem Irresein oder in einer freieren und besseren Übersetzung von Verbrecherwahnsinn. Es ist aber kein Zufall, daß die Sache und ihr Ausdruck zuerst in England erfunden worden sind; in England gestattete Strafrecht und Strafprozeß nicht so leicht wie auf dem Kontinent, die verminderte Verantwortlichkeit bei der Strafbemessung in Rechnung zu setzen; man nennt es rückständig, daß die Engländer sich niemals beeilt haben, die Tendenz der Sentimentalität und die kleinen Moden der Verbrecherpsychologie nachzumachen. Prichard war es, der 1835 moral insanity als eine besondere Art von Geisteskrankheit den englischen Juristen zur Verfügung stellte.
Der Nichtengländer sollte nicht vergessen, daß insanity nicht Krankheit überhaupt bedeutet, sondern (wie schon das lateinische Adjektiv insanus) Geisteskrankheit, Irresein. Wir haben nun gelernt (vgl. Art. krank), daß es in der Wirklichkeitswelt wohl kranke Menschen gibt, aber keine Krankheiten; wir haben gelernt, daß es insbesondere Geisteskrankheiten nicht gibt, sondern nur kranke Körper und kranke Körperorgane, und daß wir dann bildlich von Geisteskrankheiten reden, wenn die Funktionen bestimmter Organe zu schädlichen Vorstellungen, Schlüssen, Gewohnheiten oder Handlungen führen. Trotzdem nun der Oberbegriff Geisteskrankheit undefinierbar ist, ja sogar als falsch erkannt worden ist, hat man dennoch die einzelnen Formen der Geisteskrankheit wohl oder übel nach ungefähren Symptomgruppen abgeteilt und redet mit einigem Rechte z. B. von Paralyse, von Melancholie, von Manie, von Paranoia, von epileptischen Zuständen als von einzelnen Geisteskrankheiten. In dieser Einteilung, die wahrlich nicht für die Ewigkeit besteht, hat nun die Erscheinung keinen Platz, daß es Menschen gibt, die mit Vorliebe stehlen, Häuser anzünden oder Sexualverbrechen begehen; man hat als die Ursache solcher Erscheinungen früher die fixen Ideen oder die Wahnideen angegeben und mit diesem Begriffe mancherlei Unfug getrieben. Man sagt jetzt, daß die fixe Idee nur ein Symptom sei, und zwar das Symptom ganz verschiedener Krankheiten; man hat ferner den Begriff der Hemmung eingeführt und sagt, daß nur die Hemmung fehle, wenn sonst richtig, d. h. normal denkende Menschen verbrecherische Handlungen begehen. Nur daß niemand erklären kann, was das Substantiv Hemmung eigentlich bedeute. (Vgl. Art. Hemmung.)
Gibt es nun nur kranke Menschen und keine Krankheiten, dürfen wir ferner mit bildlichem Rechte höchstens von Krankheiten des Zentralnervensystems reden, nicht aber von Krankheiten der Seele oder des Geistes, so erweist sich der Begriff einer moralischen Geisteskrankheit (moral insanity) als eine völlig mißglückte Wortkuppelung. Nach der Definition von Prichard soll ja gerade bei moral insanity eine erhebliche Störung der Geistesfähigkeiten ausgeschlossen sein und nur eine krankhafte Verkehrung natürlicher Gefühle, Gewohnheiten usw. vorhanden sein; auch nach dem Sprachgebrauche unserer gemieteten Psychiater und vieler gedankenträger Journalisten beruft man sich auf moral insanity dann, wenn Straflosigkeit wegen nachweisbarer Geisteskrankheit nicht zu erwirken ist. Moral insanity ist also eine Geisteskrankheit, die keine ist. Was ist denn in solchen Fällen erkrankt? Doch wohl nicht der Körper; der Strafrichter hat sich um den menschlichen Körper nur selten zu bekümmern; er hat es ja nur mit dem menschlichen Willen zu tun. Auch der Geist wird in solchen Fällen nicht als krank vorausgesetzt. Als krank vorausgesetzt wird das moralische Organ, das es nur leider in der Anatomie nicht gibt; und das bildlich so genannte moralische Organ, das Verhältnis des Individuums zu den Sitten und Anschauungen seiner Umgebung, kann doch wohl nicht erkranken. Eine Metapher kann doch im Sinne der Medizin nicht krank werden.
Man hat sich so zu helfen gesucht, daß man moral insanity für eine Form des Schwachsinns ausgab, bei welcher dem Kranken die moralischen Gefühle und Begriffe seiner Zeit oder seines Landes fehlen. Sehr bequem für Lombroso's mehr verbrecherische als geniale Lehre, daß auch der geniale Mensch so etwas wie ein geborener Verbrecher sei; denn auch das Genie, wenn es ein Genie des Handelns ist, hat nicht die Seelensituation, hat nicht die Gefühle und die Begriffe seiner Zeit oder seines Landes. Sodann: der Besitz der Begriffe oder Wörter hat ganz und gar nichts mit moral insanity zu tun; da man von moral insanity fast ausschließlich in Bezug auf wohlhabende und gutgekleidete Angeklagte spricht, die nicht geisteskrank sind, so kann ich wohl behaupten, daß gerade diese die sogenannten moralischen Begriffe recht gut am Schnürchen haben. Diese Sünder wissen ganz genau, was Diebstahl, was Brandstiftung, was Kindesschändung ist; sie leugnen ja womöglich, das Verbrechen begangen zu haben; und sie begehen das neue Unrecht der Verleugnung ihrer Anschauungen, der schlechten Lüge (die freilich sonst wieder als Äußerung einer andern Moralkrankheit, der pseudologia phantastica, entschuldigt wird), trotzdem sie den Begriff der Lüge recht gut kennen. Es bliebe also nur die unfreundliche Annahme übrig, daß den armen Opfern der Modekrankheit, der moral insanity, zwar nicht die moralischen Begriffe mangeln, wohl aber die moralischen Gefühle; es wäre ja recht gut möglich, daß in unsrer besten Gesellschaft gutgekleidete Menschen ohne moralische Gefühle verkehren, wie man in unsern Konzertsälen gutgekleidete Menschen finden mag, die musiktaub sind, in unsern Ausstellungen gutgekleidete Menschen, die farbenblind sind. Diese armen Moralblinden! Man soll sie wohl gar eher bedauern und nicht bestrafen!
Nur daß die Sache sich umgekehrt verhält. Gewohnheitsverbrecher, die von Kindheit an unter Verbrechern gelebt haben und für sauber ausgeführte Diebstähle belobt und belohnt worden sind, abgestumpfte Prostituierte, die völlig gedankenlos nach verbotenem Sinnenkitzel trachten, die haben wirklich nicht die moralischen Gefühle, welche durch unsere Strafrechte geschützt werden; aber just diese armen Teufel finden gewiß keinen Sachverständigen, der sie mit moral insanity herauszureden sucht; für die sind die härtesten Strafen des Rückfalls gerade recht. In den Fällen aber, wo beredte Verteidiger mit beinahe echten Tränen in den Augen besonders wirksam von moral insanity reden dürfen, da hat der Verbrecher oft gar sehr das moralische Gefühl seiner Zeit und seines Landes, da schwankt er lange genug zwischen Selbstmord und Fortsetzung seiner lasterhaften Gewohnheiten, da kann weder von Geisteskrankheit die Rede sein, noch vom Fehlen moralischer Begriffe, noch vom Mangel moralischer Gefühle. Nur die Tat war im Widerspruche mit dem Strafgesetze, nicht die Gefühle oder die Begriffe des Täters. Und wenn der Vorwurf, daß unsre Gerichte von Jahr zu Jahr häufiger den zahlungsfähigen Angeklagten den Einwand der moral insanity gestatten, nicht lauter und lauter erhoben werden soll, der Vorwurf, daß Klassenjustiz geübt werde, dann muß endlich der bezahlte Sachverständige vor dem unparteiischen Fachmanne verstummen, der erklärt: wir kennen die Krankheit nicht, die man moral insanity nennt. Übrigens habe ich nichts dagegen, daß man die Menschen, gegen deren Schädigungen wir uns schützen wollen (das wollen wir ja doch!), nicht Verbrecher nenne, sondern Kranke, daß man sie in Irrenhäusern unschädlich mache anstatt in Zuchthäusern, oder daß man über die Tore der Gefängnisse und Zuchthäuser mit wohlfeiler Sentimentalität die Aufschrift setze »Irrenhaus«. Um Namen streite ich wirklich nicht. (Vgl. Art. Strafe.)
Wer aus der Art geschlagen ist, wer also die moralischen Begriffe, Gefühle und Gewohnheiten seiner Artgenossen nicht mit ihnen teilen kann, der kann wiederum bei diesen Artgenossen in den Verdacht geraten, daß er an moral insanity leide. Ich will eine Anekdote bieten anstatt einer abstrakten Erörterung. Eine deutsche Dame reist mit einer französischen Familie in Algerien über die Grenzen der aufgezwungenen Kultur hinaus. Empfehlungen der Behörde haben zur Folge, daß ein reicher Araberscheik die Gesellschaft in sein Zelt einlädt. Er hat sich Mühe gegeben, um den Franken das Festmahl nach europäischer Mode vorsetzen zu können; hat in der nächsten Ortschaft fränkisches Geschirr einkaufen lassen. Und so wird denn beim Festmahl der Kuskus in einem unzweifelhaften Nachttopf feierlich hereingetragen. Die deutsche Dame erzählt den Vorfall gern und mit sicherem Erfolge. Wer sollte über eine so falsche Verwendung eines Gefäßes nicht lachen?
Ich aber frage, ob derjenige wirklich an moral insanity leidet, der nicht darüber lachen kann, daß die Artgenossen des Araberscheiks andere Gefäßformen im Gebrauche haben als wir; daß sie andre Sitten, andre Gefühle, andre Worte im Gebrauche haben.