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Ich ward auf dem Wasser geboren, geneigter Leser – nicht auf dem salzigen, ergrimmten Ocean, sondern auf dem süßen, rasch dahin fluthenden Strome. Auf einer Art Schwimmküste, genannt Lichter, und auf der Temse war es, wo ich bei niedrigem Wasserstande zum ersten Male den Geruch von Schlamm in mich sog. Mein Vater, meine Mutter und des Lesers gehorsamer Diener bildeten die Mannschaft (ein Ausdruck, der etwas prahlerisch erscheinen könnte, wenn ich nicht das Recht der Kindschaft in Anspruch nähme). Mein Vater hatte die ausschließliche Leitung; er war Monarch auf dem Verdecke; meine Mutter natürlich die Königin, und ich der muthmaßliche Thronerbe.
Bevor ich ein Wort von mir selbst rede, bitte ich um die Erlaubniß, eine gewissenhafte Beschreibung von meinen Eltern zu geben. Zuerst will ich ein Gemälde von meiner königlichen Mutter entwerfen. Die Tradition erzählt, daß nie eine leichtere Gestalt und ein leichterer Fuß über die Planken des Lichters hintanzte, als sie zum ersten Male an Bord kam; aber so weit mein Gedächtniß reicht, war sie immer eine dicke und schwerfällige Frau. Ortsveränderung war nicht ihre schwache Seite, wohl aber der Wachholderbranntwein. Die Kajüte verließ sie selten – den Lichter nie, weßhalb auch ihre Schuhe so wenig abgenutzt wurden, daß sie mit einem Paar fünf Jahre ausreichte. Bei dieser Liebe zur Häuslichkeit, welche sich alle verheirathete Damen zum Muster nehmen sollten, konnte man sie immer antreffen, wenn man ihrer bedurfte; aber war sie auch stets bei der Hand, so war sie doch nicht immer auf den Füßen. Wie der Tag sich neigte, legte sie sich auf's Bett – eine weise Vorsicht für diejenigen, welche nicht mehr stehen können. Die Wahrheit ist, daß meine verehrte Mutter, trotz ihres tadellosen Wandels, häufig vom starken Geiste verführt, und trotz ihrer ehelichen Treue bisweilen mit dem heimtückischen Feinde der weiblichen Tugend – dem Wachholder, im Bette gefunden wurde. Der Lichter wurde, wie ein zweites Eden, worin meine Mutter die Eva und mein Vater den Adam spielte, von dieser Schlange heimgesucht, und wenn die Königin auch keinen Apfel speiste, so wußte sie dafür das Glas zu führen, was im Grunde noch schlimmer war. Anfangs – ich erwähne dieß zum Beweise, wie schlau sich der Böse immer unter einer verführerischen Gestalt einzuschleichen weiß – anfangs trank sie nur in der Absicht, ihren Magen gegen die Kälte zu schützen, und die Nebeldünste, die aus dem Wasser aufstiegen, schienen eine solche Vorsichtsmaßregel völlig zu rechtfertigen. Mein Vater griff aus demselben Grunde zu seiner Pfeife; aber zu der Zeit, als ich geboren wurde, war die Gewohnheit in den Besitz ihrer vollen Rechte getreten: er rauchte und sie trank von Morgen bis in die liebe Nacht. An seinen Lippen hing die Pfeife, an den ihrigen das Glas, als wäre dieß nun einmal ein notwendiges Bedürfniß ihrer Existenz. Ich hätte jede Kälte herausfordern dürfen, in den Magen meiner werthen Eltern würde sie nicht eingedrungen sein. – Doch ich habe für jetzt genug von meiner Mutter gesprochen, und will daher auf meinen Vater übergehen.
Mein Vater war ein aufgedunsener, wohlgerundeter, langarmiger, kleiner Mann, der für seine Stellung in oder vielmehr außer der Gesellschaft geboren schien. Er konnte einen Lichter führen, wie nur irgend Jemand; aber mehr konnte er nicht, da er nur zu diesem Geschäfte von Jugend auf erzogen worden war. Das einzige merkwürdige Ereigniß in seinem Leben war allenfalls ein Gang für meine Mutter an's Land und die Rückkehr an Bord, sein einziger Genuß die Pfeife, und da ein geheimnißvolles Band zwischen dem Geschäfte des Rauchens und der Philosophie besteht, so brachte er es durch lauter Rauchen zu einer gewissen Vollkommenheit in der letzteren. Es ist eben so seltsam, als wahr, daß wir unsere Sorgen durch den Tabak wegdämpfen können, während sie ohne dieses Mittel schwer auf unserer Seele lasten. Es gibt keinen beruhigenderen Zug, als den Zug durch das Rohr einer Pfeife. Die wilden Krieger von Nordamerika erfreuten sich dieser herrlichen Gabe der Natur vor uns, und der Pfeife wird die Weisheit ihrer Berathung und die lakonische Aeußerung ihrer Gedanken zugeschrieben. Es wäre gut, wenn sie auch in unsren gesetzgebenden Versammlungen eingeführt würde. Freilich könnten dann die Damen nicht mehr durch die Luftlöcher hinunterschielen, aber wir würden mehr Vernunft und weniger Worte haben. Auch der stoische Gleichmuth, womit diese amerikanischen Krieger mit der Pfeife im Mund alle Foltern ihrer Feinde ertragen, ist eine Folge des Tabaks; und von der wohlbekannten Wirkung dieses Wunderkrautes rührt der sonderbare Ausdruck her, daß man sagt, man habe »einem Andern die Pfeife ausgelöscht,« wenn man ihn erzürnt hat.
Meines Vaters Pfeife erlosch niemals, weder im buchstäblichen, noch im bildlichen Sinne. Er besaß einige Sprüche, die jeden Unfall zu einem glücklichen Ende brachten; und weil er sich selten oder nie in viele Worte ergoß, so prägten sich diese Sätze tief in mein junges Gedächtniß ein. Einer heißt: »Mit Weinen gewinnt man nichts; geschehene Dinge lassen sich nicht ändern.« Waren einmal diese Worte über seine Lippen getreten, so wurde der Sache nicht weiter erwähnt. Nichts schien ihn zu berühren. Die Führer der übrigen Lichter, Barken, Schiffe und Boote aller Art, welche mit uns um den Extrafuß Wasser stritten, wenn wir mit der Fluth hinauf- oder hinabtrieben, brachten durch ihre Flüche keine andere Wirkung auf ihn hervor, als ein paar Extrarauchsäulen aus seinem Pfeifenkopf. An meine Mutter richtete er nur die einzige Ermahnung: »Nimm's kaltblütig;« aber sie verfehlte ihren Zweck völlig, da sie im Gegentheil ihre Leidenschaften steigerte und Oel in's Feuer goß. Gleichwohl war der Rath gut, und er wäre noch besser gewesen, wenn sie ihn befolgt hätte. Ein anderer Lieblingsausdruck meines Vaters, der nach demselben Muster seiner Philosophie gebildet war, und dessen er sich bediente, wenn etwas nicht nach seinem Wunsch ging, lautete: »Das nächste Mal mehr Glück.« Diese Denksprüche prägten sich tief in mein Gedächtniß. Ich wiederholte sie mir unaufhörlich, und wurde dadurch ein Philosoph, als meine Weisheitszähne noch lange im Keime schlummerten und ich noch die erste Zahnreihe hatte, womit uns die Natur beschenkt, damit wir uns ohne Gefahr den Genüssen des Sauglappens hingeben können. Meines Vaters Erziehung war vernachlässigt worden. Er konnte weder lesen noch schreiben; aber wenn er auch nicht gerade ein Erfinder der Buchstaben genannt werden konnte, wie Cadmus, so gewöhnte er sich doch an gewisse Hieroglyphen, die gewöhnlich ihrem Zwecke hinreichend entsprachen und als ein künstliches Gedächtniß betrachtet werden konnten. »Ich kann weder schreiben, noch lesen, Jacob,« sagte er; »ich wollt', ich könnt' es, aber sieh', Junge, dieses Zeichen bedeutet drei Viertel von einem Buschel, merke dir's, wenn ich dich frage, oder ich will des Kukuks sein, wenn ich dich nicht bläue.« Nur in besondern schwierigen Fällen bedurfte er einer neuen Hieroglyphe – oder einer so langen Rede, wie die ebengenannte. Ich war vertraut mit seinen gewöhnlichen Zeichen und Streichen, und da ich ein gutes Gedächtniß hatte, konnte ich ihm auf den Sprung helfen, wenn er beim Augenblicke eines mißgestalteten x oder z nicht wußte, was er daraus machen sollte, um die unbekannte Größe zu finden, welche diese Buchstaben, wie in der Algebra, bezeichneten.
Ich habe zwar gesagt, daß ich der muthmaßliche Erbe, nicht aber, daß ich auch das einzige Kind war, das meinem Vater in der Ehe geboren wurde. Meine verehrte Mutter hatte außer mir noch zwei Sprößlinge zur Welt gebracht; aber das erste, ein Mädchen, war durch die Masern den Leiden der Welt entrückt worden, das zweite, mein älterer Bruder, hatte im dritten Lebensjahre sein Unterkommen durch einen Sturz vom Sterne des Lichters gefunden. Zur Zeit dieses Ereignisses war meine Mutter, unter Begleitung des starken Geistes, zu Bett gegangen, während mein Vater auf dem Verdeck stand und, behaglich seine Pfeife schmauchend, am Haspel lehnte. »Was war das?« rief er, lauschend und seine Pfeife aus dem Mund nehmend; »soll mich wundern, wenn es nicht Joe gewesen ist.« Und er steckte die Pfeife wieder zwischen die Lippen und rauchte wie zuvor.
Die Vermuthung meines Vaters erwies sich als richtig. Niemand anders als Joe hatte das Geräusch im Wasser erregt, das meinen Vater aus seinen Betrachtungen weckte, denn am andern Morgen war er nicht zu finden. Einige Tage später wurde er zwar aufgefischt, aber begreiflichermaßen war »der Lebensfunke erloschen,« wie die Zeitungen zu sagen pflegen; ja noch mehr, die Aale und Kaulbarsche hatten dermaßen an seiner Nase und seinem dickbackigen Gesichte genagt, daß er, wie sich mein Vater ausdrückte, »zu nichts mehr zu gebrauchen« war.
Am Morgen nach diesem Unfall stand mein Vater früh auf und vermißte den armen Joe. Er ging in die Kajüte, rauchte seine Pfeife und sagte nichts. Da mein Bruder zur gewöhnlichen Stunde nicht beim Frühstück erschien, rief meine Mutter mit heiserer Stimme seinen Namen; aber Joe befand sich außer Hörweite und blieb stumm wie ein Fisch. Da mein Vater gleichfalls den Mund nicht zur Antwort öffnete, so verließ meine Mutter die Kajüte und durchsuchte den ganzen Lichter; ja, sie warf sogar ihre Blicke in den Hundestall, um sich zu überzeugen, ob er nicht vielleicht bei dem großen Hunde schlafe– aber Joe war nirgends zu finden.
»Wo mag er denn hingekommen sein?« rief meine Mutter mit dem Ausdrucke mütterlicher Besorgniß auf ihrem Gesichte, indem sie sich auf dem Rückwege nach der Kajüte an meinen Vater wandte. Mein Vater nahm seine Pfeife aus dem Munde, senkte den Kopf derselben in lothrechter Richtung, bis er sanft auf dem Verdecke landete, steckte sie dann wieder in den Mund, rauchte mit kummervoller Miene und schwieg.
»Du wirst doch nicht sagen wollen, er sei über Bord gefallen?« schrie meine Mutter.
Mein Vater nickte mit dem Kopfe und blies eine dichtere Rauchwolke von sich. Ein Strom von Thränen, Ausrufungen und Vorwürfen folgte diesen bejahenden Zeichen. Mein Vater störte den Ausbruch mütterlichen Schmerzes mit keiner Sylbe. Und als er in Schluchzen dahinstarb, war auch die Glut seiner Pfeife erloschen. Er klopfte die Asche aus und bemerkte mit ruhiger Miene: »Mit Weinen gewinnt man nichts; geschehene Dinge lassen sich nicht ändern.« Damit füllte er seine Pfeife aufs Neue.
»Nicht ändern?« rief meine Mutter, »hätten aber können geändert werden.«
»Nimm's kaltblütig,« versetzte mein Vater.
»Nimm's kaltblütig!« wiederholte meine Mutter mit Wuth – »nimm's kaltblütig! Ja, du nimmst Alles kaltblütig; ich glaube, du würdest es kaltblütig nehmen, wenn ich über Bord fiele.«
»Auf jeden Fall würdest dann du es kaltblütig aufnehmen müssen,« versetzte mein unerschütterlicher Vater.
»Ach Gott! ach Gott!« rief meine arme Mutter, »zwei so arme Würmlein, und beide verloren!«
»Das nächste Mal mehr Glück,« tröstete sie mein Vater; »also sprich jetzt nicht mehr von der Sache, Sally.«
Mein Vater rauchte seine Pfeife und meine Mutter trocknete ihre Augen, bis endlich der gutherzige Mann von der Kiste, auf welcher er gesessen, aufstand, an den Schrank trat, eine Theetasse mit Wachholder füllte und sie meiner Mutter anbot. Es war freundlich von ihm, und meine Mutter war für Freundlichkeit empfänglich. Es war ein reines Opfer im Geiste der Liebe und wurde in dem Geiste angenommen, in dem es dargebracht wurde. Nach einigen Wiederholungen des Trankopfers, die um so notwendiger waren, als ihre Thränen die Kräfte desselben geschwächt hatten, waren Schmerz und Erinnerung ertrunken, wie zwei Liebende, die sich in einem feuchten Tode umarmten.
Mit dieser schönen Metapher beschließe ich die Episode von meinem unglücklichen Bruder Joe.
Ungefähr ein Jahr nach dem Verluste meines Bruders wurde ich zur Welt befördert, ohne einen andern Beistand oder Zuschauer, als meinen Vater und Mutter Natur, welche meines Erachtens eine sehr geschickte Hebamme ist, wenn man ihr nicht in die Quere kommt. Mein Vater, der einige schwache Begriffe von Christenthum hatte, vollzog die Taufhandlung, indem er mit dem Mundstücke seiner Pfeife das Zeichen des Kreuzes über meine Stirne machte und mich Jacob nannte. Was den Kirchgang meiner Mutter betrifft, so war sie nur einmal in ihrem Leben in einem Gotteshause gewesen. Ich habe schon gesagt, daß sie den Lichter nie verließ, und mein Vater stieg nur auf einige Minuten an's Land, wenn er beim Aus- oder Einladen vom Aufseher oder Eigenthümer der Schiffsgüter gerufen wurde, oder wenn er, was des Monats einmal geschah, die nöthigen Einkäufe besorgte.
Die Erinnerungen meiner Kindheit beschränken sich auf wenige; aber das liegt mir noch im Gedächtniß, daß der Lichter oft glänzend roth und blau bemalt war, und daß mich meine Mutter mit den Worten: »wie hübsch« darauf aufmerksam machte, wenn sie mich beschwichtigen wollte. Doch ich übergehe das, und beginne mit meinem fünften Jahre, in welchem ich meinem Vater bereits Handreichung that. Ich war damals beinahe so weit, als manche Kinder im zehnten. Dieß mag seltsam erscheinen, aber wenn auch meine Begriffe blos das Prädikat »beschränkt« verdienten, so waren sie doch in einem Mittelpunkte vereinigt. Der Lichter, seine Ausrüstung und seine Bestimmung bildeten die Welt meiner jungen Einbildungskraft; da alle meine Gedanken auf so wenige Gegenstände gerichtet waren, so hatten sie gehörig Muße, sich dieselben tief einzuprägen und ihren Werth vollkommen zu schätzen.
Bis zu meinem eilften Jahre, in welchem ich den Lichter verließ, bildeten die Ufer des Flusses die Gränze meiner Meditationen. Ich hatte eine gewisse Vorstellung von Bäumen und Häusern; aber ich wußte, glaube ich, nicht, daß die ersteren wachsen. So lange ich mir sie am Ufer denken konnte, schienen sie mir immer die gleiche Größe zu haben, in der ich sie zuerst gesehen hatte, und andere Leute fragte ich nicht. Aber schon in meinem zehnten Jahre kannte ich den Namen einer jeden Strecke des Flusses, den Namen eines jeden Vorsprungs, die Tiefen des Wassers, die seichten Stellen, den Strich der Strömung und sogar die Ebbe und Fluth. Deßgleichen wußte ich auch den Lichter zu führen, wenn er mit der Ebbe hinabtrieb; denn was mir an Stärke abging, ersetzte ich durch Gewandtheit, die ich mir durch beständige Uebung erworben hatte.
Als ich eilf Jahre zählte, trat eine Katastrophe in meinem Leben ein, welche auf einmal meine Aussichten umgestaltete. Doch ich muß noch Einiges von meinem Vater und meiner Mutter erzählen, um den Leser aus diesen Zeitpunkt meiner Geschichte vorzubereiten. Die Neigung meiner Mutter zu geistigen Getränken hatte nach dem gewöhnlichen Lauf der Natur mit der Zeit zugenommen, und in demselben Maße sich auch der Umfang ihrer Gestalt erweitert; sie war jetzt eine höchst unförmliche, aufgedunsene Fleischmasse, wie mir seitdem keine mehr zu Gesicht gekommen ist. Indessen empfand ich doch keinen Widerwillen bei ihrem Anblick, da ich unaufhörlich in ihrer Umgebung war, und andere Mitglieder des schönen Geschlechts nur in der Entfernung sah.
Seit zwei Jahren verließ sie das Bett nur noch selten, denn höchstens kroch sie jetzt einmal in der Woche aus ihrer Kajüte hervor, um nach fünf Minuten wieder zurückzukriechen, weil ihre Körperfülle und fortwährende Trunkenheit sie zu weiterer Bewegung unfähig gemacht hatte. Mein Vater ging jeden Monat einmal auf eine Viertelstunde an's Land, um Wachholder, Tabak, Pücklinge und verdorbenen Schiffszwieback einzukaufen; – der letztere bildete meine gewöhnliche Kost, wenn ich sie nicht allenfalls dadurch verbesserte, daß ich an Orten, wo wir vor Anker lagen, hin und wieder mit meiner Angel ein Fischlein aus dem Wasser herausholte. Ich wurde daher zu einem großen Wassertrinker, nicht sowohl aus eigener Wahl, als vielmehr in Folge der salzigen Natur meiner Speisen, und der Vorsorge meiner Mutter, die immer noch Besinnung genug hatte, um die Wahrheit einzusehen, daß der Wachholder nicht für kleine Jungen sei.
Mit meinem Vater war jedoch eine große Veränderung vorgegangen. Ich hatte das Verdeck beinahe ganz allein zu besorgen; mein Vater kam selten heraus, und lieh mir seinen Beistand nur, wenn wir unter den Brücken durchschossen, oder wenn eine größere Kraft erfordert wurde, um uns zwischen dem Gedränge der Fahrzeuge, die uns einschlossen, durchzuwinden.
Je tüchtiger ich wurde, desto untüchtiger wurde mein Vater. Er brachte den größten Theil seiner Zeit in der Kajüte zu, wo er meiner Mutter den großen steinernen Krug leeren half. Das Weib hatte den Mann überredet, und nun genossen beide von der verbotenen Frucht des Wachholderbaumes. So standen die Angelegenheiten in unserem kleinen Königreich, als die Katastrophe eintrat, die ich jetzt berichten will.
An einem schönen Sommerabende fuhren wir mit der Fluth stromaufwärts. Der Lichter war schwer mit Kohlen befrachtet, welche in einiger Entfernung oberhalb der Putney-Brücke an der Werfte des Eigenthümers ausgeladen werden sollten. Ein starker Landwind erhob sich und hemmte unsere Fahrt. Wir konnten die Werfte nicht mehr am gleichen Abende erreichen, wie wir im Sinne gehabt hatten. Als wir uns ungefähr anderthalb Meilen ob der Brücke befanden, trat die Ebbe ein, und wir mußten Anker werfen. Mein Vater, der, in der Hoffnung, noch am nämlichen Abend anzukommen, ungern nüchtern geblieben, wartete noch, bis der Lichter in die Strömung getreten war, und sagte dann: »Jacob, morgen früh müssen wir an der Werfte sein; bleibe munter.« Nach diesen Worten stieg er in die Kajüte hinab, um sein Trankopfer darzubringen, und ließ mich allein im Besitze des Verdecks und meines Abendessens, das ich nie im untern Räume zu mir nahm, weil die enge dumpfe Kajüte durchaus nicht einladend war. Ich hielt überhaupt alle meine Mahlzeiten sub divo, und wenn die Nächte nicht allzu kalt waren, schlief ich auch auf dem Verdeck, und zwar in der geräumigen Hütte, welche einst vom großen Kettenhunde bewohnt gewesen war. Vor einigen Jahren war derselbe gestorben, über Bord geworfen und aller Wahrscheinlichkeit nach in Cervelatwürste, das Pfund zu einem Schilling, verwandelt worden. Einige Zeit nach seinem Hintritte hatte ich von seinem Gemache Besitz genommen, und versah seitdem auch sein Hüteramt. Ich hatte meine Mahlzeit beschlossen und mit einer ordentlichen Menge Themsewasser niedergeschwemmt; denn oberhalb der Brücke trank ich immer mehr, weil mir das Wasser reiner und frischer vorkam. Nachdem ich noch einmal nach dem Ankertau gesehen und meine sämmtlichen Geschäfte beendet hatte, legte ich mich auf dem Verdecke nieder, und überließ mich den tiefen Spekulationen eines eilfjährigen Jungen. Ich beobachtete die Sterne, die im matten Zwielichte über mir schimmerten und von Zeit zu Zeit zu verschwinden oder wieder hervorzutreten schienen. »Aus welchem Stoffe mögen sie wohl gemacht sein,« fragte ich mich selbst, »und wie kommen sie da hinauf?« Da wurde ich plötzlich durch einen lauten Schrei aus meinen Träumereien aufgeschreckt, und ich verspürte einen seltsamen brandigen Geruch. Das Geschrei verstummte und begann auf's Neue; kaum war ich aber aufgesprungen, als mein Vater aus der Kajüte hervorstürzte, über Bord sprang und unter dem Wasser verschwand. Ich hatte einen Blick von seinen Zügen erhascht und Angst und Betrunkenheit darin erblickt. Sogleich eilte ich an die Stelle, wo er verschwunden war, konnte aber bei der raschen Strömung nur noch einige Wasserkreise bemerken, die sich an der Seite des Fahrzeuges brachen. Einige Sekunden lang blieb ich im Zustande der Betäubung über das plötzliche Verschwinden und den augenscheinlichen Tod meines Vaters stehen, aber der Rauch, der mich umgab, und das Geschrei meiner Mutter, das immer schwächer und schwächer wurde, riefen mich bald wieder zum Bewußtsein; ich eilte fort, um meiner Mutter beizustehen.
Ein starker brandiger Rauch drang die Kajütentreppe herauf und stieg, weil eben Windstille eingetreten war, in einer dichten Säule in die Luft. Ich versuchte hinabzugehen, aber der Rauch machte es unmöglich, denn er würde mich in einer halben Minute erstickt haben. Ich that, wie die meisten Kinder in einem solchen Zustande von Aufregung und Rathlosigkeit gethan haben würden, – ich setzte mich nieder und weinte bitterlich. In ungefähr zehn Minuten nahm ich die Hände von meinem Gesichte und sah nach der Kajütenluke. Der Rauch war verschwunden und Alles stille. Ich ging auf die Treppe zu. Der Rauch war zwar noch immer stark genug, aber doch konnte ich ihn ertragen. Ich stieg die kleine, drei Stufen hohe Treppe hinab und rief: »Mutter!«, erhielt aber keine Antwort. Die Glaslampe, die am Hinterbalken befestigt war, brannte noch hell genug, um jeden Winkel der Kajüte zu beleuchten. Nirgends bemerkte ich eine Spur von Feuer; nicht einmal die Vorhänge des Bettes meiner Mutter schienen versengt. Ich war bestürzt; die Furcht versetzte mir den Athem. Mit zitternder Stimme wiederholte ich den Ruf: »Mutter!« Länger als eine Minute rang ich nach Athem. Dann wagte ich, die Vorhänge des Bettes zurückzuschlagen. Meine Mutter war nicht da, aber in der Mitte des Bettes lag eine schwarze Masse. Angstvoll streckte ich die Hand darnach aus – es war eine fette ölige Asche. Ein Schrei des Entsetzens entfuhr mir – mein Kopf schwindelte – ich schwankte aus der Kajüte, und in einem Zustande, der an Wahnsinn gränzte, fiel ich auf's Verdeck nieder. Dann folgte eine Art von Betäubung, welche mehrere Stunden lang dauerte.
Da der Leser vielleicht in einigem Zweifel über die Veranlassung des Todes meiner Mutter schweben könnte, so muß ich ihn benachrichtigen, daß sie auf jene furchtbare und entsetzliche Weise zu Grunde ging, welche bisweilen diejenigen trifft, die dem unmäßigen Genusse geistiger Getränke fröhnen. Fälle der Art ereignen sich vielleicht nur alle Jahrhunderte einmal, aber die Thatsache läßt sich nicht bestreiten. Sie starb durch Selbstverbrennung, eine Folge von Entzündung der Gase, mit denen der Organismus durch die geistigen Getränke geschwängert wird. Wahrscheinlich beraubte der furchtbare Anblick der Flammen, die aus dem Körper meiner Mutter hervorbrachen, meinen Vater, der sich gleichfalls angetrunken hatte, seines Bewußtseins, und so verlor ich in demselben Augenblicke Vater und Mutter, den einen durch das Wasser, die andere durch das Feuer.