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Drittes Kapitel.

Ich werde in eine Armenschule geschickt, worin das Benehmen gegen die Armen kein Gegenstand der Erziehung ist. – Die Eigentümlichkeiten des Schulmeisters und die Zauberwirkungen des Schneuzens. – Eine Untersuchung über den Buchstaben A, welche meinen ganzen Schatz von Gelehrsamkeit über Bord wirft.

Ehe ich das Zimmer verließ, standen Sarah und ich in tiefer Unterhaltung am Fenster, während Herr und Frau Drummond, in ähnlicher Weise beschäftigt, am Tische saßen. Das Ergebniß des Gespräches zwischen Sarah und mir war die Vertraulichkeit der Kinder, das Ergebniß des Gespräches zwischen Herr und Frau Drummond der Vernunftschluß, je früher ich irgendwo untergebracht werde, desto besser sei es für mich. Herr Drummond war bei der Leitung einer Armenschule in der Nähe von Brentford betheiligt und verlor keine Zeit, mir die Aufnahme in dieselbe zu verschaffen. Noch ehe meine Kleider völlig zu Grunde gerichtet waren (ich hatte sie nämlich bald drei Wochen getragen), erhielt ich einen neuen Anzug, und zwar eine Uniform, bestehend in einem langen Pfeffer- und salzfarbigen Rock, gelbe Lederkniehosen, eine gestrickte Mütze mit einer Trottel, ein Paar Strümpfe nebst Schuhen, und ein großes blechernes Brustschild mit der Nummer 63, welche, da ich der zuletzt eingetretene Knabe war, die Totalsumme der Schüler anzeigte. Mit Bedauern verließ ich die Wohnung des Herrn Drummond, der es zu Miß Sarah's und meinem Leidwesen nicht für gerathen hielt, die Vollendung des Kahnes abzuwarten. Herr Drummond begleitete mich selbst nach der Schule, und unterwegs begegneten wir dem ganzen Zuge auf einem Spaziergange. Ich ward eingereiht und erhielt noch zum Abschied eine freundliche Ermahnung von meinen würdigen Beschützern. Wie wir so dahinschritten, glichen wir einem Regimente gelbschenklichter Krammetsvögel, welche zu menschlichen Pendelstangen aufgestrafft waren. Man denke sich den letzten Sprößling der Ehrliche, gepfeffert, gesalzen und geschildet, so daß die ganze Welt erkennen konnte, er sei ein Armenschüler, und man nehme noch Rücksicht auf die Armen in der Welt. Aber wenn Helden, Könige, große und gewichtige Männer dem Verhängnisse unterworfen find, so kann man nicht erwarten, daß ihm Lichterknaben entgehen sollten. Ich ward vom Geschick dazu verdammt, Erziehung, Kost, Wohnung und Kleidung frei, gratis und umsonst zu bekommen.

Jede Gesellschaft hat ihr Haupt und, ich wollte eben hinzufügen, jeder Kreis seinen Mittelpunkt, aber die Vergleichung paßt nicht auf meinen Fall, denn unser Kreis hatte zwei Mittelpunkte, oder um dem Gange des ersten Gedankens zu folgen, zwei Häupter – das Schulhaupt und das Haushaupt – das Haupt mit der Ruthe und das Haupt mit Schwefel und Syrup – der männliche und der weibliche Vorstand, von denen jedes wieder sein Anhängsel hatte – der eine den Unterlehrer, der andere das Hausmädchen. Aber von diesem Quartett war der Herr des Hauses nicht nur das wichtigste, sondern auch das würdigste Glied; und da er noch lange nach der Vollendung meiner Erziehungslaufbahn auf den Blättern meiner Erzählung auftreten wird, so will ich bei meiner Beschreibung des Domine Dobiensis, wie er sich gerne betiteln ließ, oder des Trauerdobbs, wie ihn seine pflichtgetreue Schuljugend zu nennen pflegte, etwas länger verweilen. Da in unserer Schule der Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen die Hauptsache war, so hatten die Direktoren gerade den Domine als den Tauglichsten unter den Bewerbern gewählt, weil er erstens ein Werk über die griechischen Partikeln geschrieben hatte, welches Niemand verstand, und zweitens besonders als Mathematiker ausgezeichnet war, indem er, wie die Sage geht, mittelst imaginärer Größen die Quadratur des Zirkels entdeckt hatte: eine Entdeckung, die er aus Furcht, durch Verrätherei um den Ruhm derselben gebracht zu werden, bis jetzt noch der Welt vorenthielt. Außerdem hatte er auch eben so viele Fehler in den Beweisen Euklid's aufgefunden, als Joey Hume in den Armee- und Flottenlisten, wodurch er auch dem Vaterlande einen eben so großen Dienst leistete, als besagter Edelmann mit den Ergebnissen seines Scharfsinnes. Domine Dobiensis vegetirte in unserem Jahrhundert und Lande, lebte aber im klassischen Alterthume und im Reiche der Algebra. Einmal erfaßt von einem mathematischen Problem oder einer griechischen Reminiscenz, trat er aus dem wirklichen Leben heraus und war für die Außenwelt verloren. Sein Körper blieb am Pulte und athmete, aber seine Seele war weg. Diese Eigenthümlichkeit war den Schülern gar wohl bekannt, und sie pflegten zu sagen: »Domine weilt im Reich der Träume und spricht im Schlaf.«

Domine Dobiensis überließ das Lesen und Schreiben dem Unterlehrer und suchte, gegen die Statuten der Anstalt, die Knaben wo möglich in die Mathematik, das Lateinische und Griechische hineinzuzwängen. Der Unterlehrer besaß keine überwiegende Fähigkeit, die beiden erstgenannten Fächer zu lehren, und die Knaben keinen überwiegenden Willen, die drei letztgenannten zu lernen. Der Schulmeister war zu gelehrt, der Unterlehrer zu unwissend, und deßhalb lernten die Schüler wenig. Der Domine war ernst und reizbar, aber er besaß eine innere Heiterkeit und das beste Herz. Seine Züge konnten nicht lachen, aber sein Kehlkopf. Die Erschütterung verbreitete sich nicht weiter, als durch die Knorpelringe der Luftröhre, und wurde von dort an durch den Impuls des Ernstes in die Region des Herzens zurückgedrängt, in dessen dunklem Mittelpunkt sich die Heiterkeit ihrem verborgenen Genusse hingab. Der Domine war ein Freund von Wortspielen, mochten sie englischen, griechischen oder lateinischen Ursprungs sein. Wortspiele in den beiden letztgenannten Sprachen wurden nur von ihm gemacht, und da sie außer ihm Niemand verstand, so erfreuten sie auch Niemand, als ihn. Aber seine Liebe zu dieser Art von Witz war ernster Natur; er liebte sie mit Würde – sie war für ihn kein Gegenstand des Lachens.

Von Person war Domine Dobiensis ungefähr sechs Fuß hoch, ein mit Sehnen und Knochenbändern überkleidetes Gerippe. Sein Gesicht war lang und seine Züge groß; aber sein vorherrschender Zug war die Nase, welche die andern trotz ihrer großen Verhältnisse völlig in Schatten stellte. Sie war ein Wunder, eine Lächerlichkeit, aber er tröstete sich – Ovid hieß Naso. Es war weder eine Adlernase, noch das Gegentheil davon – weder eine stumpfe, noch eine dicke, weder eine kupferrothe, noch eine pfeifende, sondern trotz der Größe ihrer Verhältnisse eine geistreiche Nase, dünn, hornartig durchsichtig und sonor. Ihr Schnauben war voll Wirkung und ihr Schneuzen die Stimme eines Orakels. Ihr bloßer Anblick war Achtung gebietend, ihr Laut in den Schulstunden verhängnißvoll. Aber die Schüler liebten diese Nase wegen der Warnung, die sie ihnen gab. Gleich den Klappern der gefürchteten Schlange, wodurch dieses Gewürm seine Nähe verräth, gab sie den Schülern den Wink, auf der Hut zu sein. Ein Paar Stunden widmete der Domine dieser Welt und seiner Pflicht, dann vergaß er die Schule und Schüler und machte eine Reise in die Welt Griechenlands oder der Algebra. Wenn er dann seine x, y und z machte, wußten die Zöglinge, daß sie sicher waren, und ließen ihre Arbeit liegen.

Warst du je Augenzeuge der magischen Wirkung einer Trommel in einem Dorfe, wenn das Werbekommando mit seinen buntfarbigen Bändern einen geistaufwirbelnden Wirbel schlägt? Die Weiber verlassen ihre häuslichen Geschäfte und eilen an die Thüre der Hütte, während die Dirnen staunend und voll Furcht über ihre Schultern wegschielen. Die jungen Bursche strecken zögernd die Köpfe in die Höhe und stehen endlich aufrecht und stolz; der linkische Bauer verschwindet, der schwerfällige Gang verwandelt sich in einen elastischen Schritt, jede Muskel scheint straffer angezogen, jede Sehne neu gespannt; das Blut kreist in schnellerem Laufe; die Pulse schlagen, die Herzen pochen, die Augen funkeln, und sobald der kriegerische Laut das Gerüste ihres Bauernkörpers durchschüttert, sind die Cimone des Pfluges wie durch einen Zauberschlag in angehende Kriegshelden umgewandelt: – alle diese Wunder werden durch Schläge auf die Haut des sanftesten und harmlosesten Geschöpfes von der Welt hervorgebracht.

Aus Mangel an einem synthetischen Gleichniß haben wir unsere Zuflucht zu einem antithetischen genommen. Das Schneuzen der Nase des Domine brachte die entgegengesetzte Wirkung hervor. Es war das Signal, daß er seine Geistesreise beendigt und wieder in der Schule sein Absteigequartier genommen hatte, – daß der Lehrer mit seinen x, y und z fertig und die Zeit nun an den Schülern war, an ihre p und q zu denken. Auf dieses Warnungszeichen eilte Jeder an seinen Platz, wie die Soldaten auf das Signal zum Antreten. Halb abgebissene Aepfel wurden in die nächste beste Tasche gesteckt – Schlüsselbüchsen verschwanden – Schlachten verschob man auf eine gelegenere Zeit – Bücher wurden aufgeschlagen und die Augen darauf gerichtet – Gestalten, welche ihrem Bildungstrieb nach allen Seiten Raum gegeben hatten, nahmen eine gleichförmige, über die Pulte hingebogene Haltung an – die Stille ward wieder hergestellt, die Ordnung wieder in ihre Rechte eingesetzt, und Mr. Knapps, der Unterlehrer, der sich diese Interregna ebensowohl zu Nutzen machte, als die Schüler, eilte auf den wohlbekannten Warnungslaut aus dem Zimmer der Wirthschafterin, in das er entwichen war, an das Folterpult zurück. – Dieß waren die Zauberwirkungen eines Schneuzens der sonoren und friedenbringenden Nase des Domine Dobiensis.

»Jacob Ehrlich, komm herbei,« waren die ersten Worte, welche den andern Morgen an mein Trommelfell schlugen, als ich meinen Sitz am untersten Ende der Schule eingenommen hatte.

Ich stand auf und bahnte mir den Weg durch zwei Linien Knaben, welche die Beine vorstreckten, um mich auf meinem Gange durch ihre Reihen zu Falle zu bringen. Nachdem ich alle Schwierigkeiten überwunden hatte, stand ich in einer Entfernung von drei Fuß dem hohen Pulte des Schulmeisters gegenüber, der von seinem Throne auf mich niederblickte, wie der olympische Jupiter in der guten alten Zeit auf die Sterblichen.

»Jacob Ehrlich, kannst du lesen?«

»Nein, ich kann es nicht,« erwiederte ich; »wollt' ich könnt's.«

»Brav geantwortet, Jacob, dein Wunsch soll erfüllt werden. Kannst du das ABC?«

»Ich weiß nicht, was das ist.«

»Dann kannst du es nicht. Herr Knapps wird dich unterrichten. Du wirst sofort zu Herrn Knapps gehen, welcher den Schülern die Anfangsgründe beibringt, Lucide Puer, Lichterknabe, du hast ein gescheides Aussehen.«

Bei diesen Worten hörte ich ein Geräusch aus seiner Brusthöhle, das dem »Gluck, Gluck« ähnlich war, wenn meine arme Mutter Wachholder aus dem großen steinernen Kruge goß.

»Mein kleiner Seefahrer,« fuhr er fort, »du bist ein angespültes Kraut, ein aufgefangenes Wrack von der Mutter Themse. » Fluviorum rex Eridanu».« (Gluck, Gluck.) »Bei deinem Lernen sei du selbst – das heißt ehrlich. Herr Knapps, führen Sie ihn sofort in die cadmäische Kunst ein.«

Bei diesen Worten steckte der Domine Dobiensis seine große Hand in die rechte Rocktasche, in welcher er seinen Schnupftabak führte, ohne ihn in ein zweites Gehäuse einzuschließen, und holte eine große Prise, welche wegen Mangels an Vorrath größtentheils aus Härchen und Baumwollenfasern bestand, die sich in der Ecke der Tasche gesammelt hatten. Nach diesem nahm er die erste Klasse vor, während mich Herr Knapps zu meiner ersten Unterrichtsstunde rief.

Herr Knapps war ein hagerer, schwindsüchtig aussehender, junger Mann von durchaus verjüngten Verhältnissen, dem Anscheine nach neunzehn bis zwanzig Jahre alt, mit rothen Iltisaugen und ohne das geringste Merkmal beginnender Mannbarkeit, aber nichts desto weniger sehr hochfahrend; da es ihm jedoch nicht gestattet war, den Schülern Puffe zu versetzen, wenn der Domine im Zimmer war, so spielte er den Tyrannen mit um so größerem Nachdruck, wenn ihm der Oberbefehl übertragen war. Der Lärm und die Unordnung rechtfertigten dann allerdings sein Eingreifen, aber die Rücksicht, die man auf ihn nahm, reducirte sich auf Null. Er hatte die Gewohnheit, den augenfälligsten Uebelthäter zur Zielscheibe zu wählen und sein Lineal nach ihm zu schleudern, mit dem Befehle, dasselbe sogleich zurückzubringen. Diesem Befehle wurde aus mehr als einem Grunde Folge geleistet; denn wurde der Verbrecher getroffen, so war er froh, daß nun die Reihe an einen Andern kam, verfehlte aber Herr Knapps – der eben kein ausgezeichneter Schütze war, da er noch nie ein Kamtschatkalisches Hundegespann geleitet hatte, – wie gewöhnlich sein Ziel und traf einen Andern, der die Strafe, wenn er sie auch nicht gerade in diesem Augenblicke verdiente, entweder früher schon verschuldet hatte oder später noch verschuldete, so wurde das Lineal aus dem Grunde zurückgebracht, weil in solchem Falle keine Züchtigung damit verbunden war, wiewohl sie der Monarch beabsichtigt hatte. Dem sei indessen, wie da wolle, das Lineal wurde regelmäßig zurückgebracht und Herr Knapps schleuderte es nach seinen Knaben, als wären es Fastnachtshähne, zu großer Gefahr für ihre Köpfe und Extremitäten. Außerdem weiß ich von Herrn Knapps wenig mehr zu sagen, als daß er einen weiten Oberrock von schwarzem Rasch trug, an dessen linkem Aermel er seine Feder und am rechten seine Triefnase abwischte.

»Was ist das, Junge?« fragte Herr Knapps, auf den Buchstaben A deutend.

Ich betrachtete ihn aufmerksam und glaubte, eine von meines Vaters Hieroglyphen zu erkennen. Deßhalb antwortete ich: »das ist ein halbes Bushel,« und meine Vermuthung hatte gewiß ihre Gründe.

»Ein halbes Bushel! Du bist mehr als ein halber Narr. Das ist der Buchstabe A.«

»Nein, es ist ein halbes Bushel, mein Vater hat es mir gesagt.«

»Dann war dein Vater ein so großer Narr, als du.«

»Mein Vater wußte, was ein halbes Bushel ist, und ich weiß es auch: das ist ein halbes Bushel.«

»Ich sage dir, es ist der Buchstabe A,« rief Herr Knapps wüthend.

»Es ist ein halbes Bushel,« versetzte ich mürrisch, und blieb bei meiner Behauptung. Herr Knapps, der mich nicht zu strafen wagte, weil der Domine zugegen war, stieg von seinem einstufigen Throne herab und führte mich vor den Schulmeister.

»Mit diesem Jungen ist nichts anzufangen, Sir,« sagte er, roth wie Feuer; »er leugnet den ersten Buchstaben im Alphabet, und beharrt darauf, A sei nicht A, sondern ein halbes Bushel.«

»Glaubst du, in deiner Unwissenheit lehren zu müssen, wo du gekommen bist, um zu lernen, Jacob Ehrlich?«

»Mein Vater sagt immer, das bedeute ein halbes Bushel.«

»Dein Vater mag sich vielleicht dieses Buchstabens bedient haben, um das Maß zu bezeichnen, von dem du sprichst, wie ich in meiner Mathematik verschiedene Buchstaben für bekannte und unbekannte Größen sehe; aber du mußt vergessen, was dich dein Vater gelehrt hat; du mußt de novo anfangen, verstehst du?«

»Nein.«

»Nun, das stellt den Buchstaben A vor, Jacob, und was dir Herr Knapps sagt, mußt du Alles glauben. Gehe jetzt und sei folgsam.«


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