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Fünftes Kapitel.

Herr Knapps denkt mich durch Hinterlist zu fangen, aber der Anschlag wird entdeckt, und Barnabas Hosengürtel muß um meinetwillen zum zweiten Male seine Hosen lassen. – Das Karrikaturenzeichnen endet mit Blutstriemen. – Der Unterlehrer wird aus der Schule und ich beinahe in's Elysium befördert; statt jedoch in die Liste der Bewohner einer andern Welt, werde ich in die Liste der Fährmannslehrlinge eingetragen.

Unbekannt mit dem, was vorging, schlief ich gesund, aber am nächsten Morgen bemerkte ich, daß die Frau des Hauses nicht gut auf mich zu sprechen war, was ich nicht begreifen konnte. Auch der Domine nahm keine Notiz von meinem Morgengruße. Ich glaubte ihn in den Euklid verloren, und machte mir wenig daraus. Das Frühstück ging vorüber und die Glocke rief zur Schule. Wir waren alle versammelt; der Domine trat mit feierlicher Amtsmiene herein. Ihm folgte Herr Knapps, der nicht wie gewöhnlich stehen blieb, wenn er an seinem Pulte angekommen war, sondern mit dem Domine bis an dessen Katheder ging. Wir wußten Alle, daß etwas im Werk war, aber von Allen war vielleicht keiner ruhiger als ich. Der Domine entfaltete sein großes Taschentuch, schüttelte es und schneuzte die Schule in die tiefste Stille.

»Jacob Ehrlich, tritt vor!« begann er in einem Tone, der zu erkennen gab, daß die Sache ernster Natur war. Ich trat näher, und war begierig, was da kommen sollte.

»Du bist von Herrn Knapps beschuldigt, Zerrbilder zu zeichnen und mich – deinen Lehrer, zum Gegenstande des Gespöttes zu machen. An jedem Knaben müßte eine solche Verletzung der Ehrerbietigkeit strenge bestraft werden; aber von dir, Jacob, muß ich mit den Worten Cäsars › et tu Brute‹ hinzusetzen, von dir hätte ich's nicht erwartet, da du dich am allerwenigsten also hättest benehmen sollen. In se animi igrati erimen vitia omnia condit. Du verstehst mich, Jacob – schuldig, oder nicht schuldig?«

»Nicht schuldig, Sir,« antwortete ich mit festem Tone.

»Er erklärt sich für nicht schuldig, Herr Knapps; beweisen Sie Ihre Anklage.«

Herr Knapps trat an seinen Pult und zog die Zeichnungen hervor, die er von Barnabas Hosengürtel und den andern Knaben gesammelt hatte.

»Diese Zeichnungen, Sir, die Sie gefälligst ansehen wollen, wurden mir alle als Arbeiten des Jacob Ehrlich übergeben. Anfangs konnte ich unmöglich glauben, daß sie wirklich von ihm herrührten; aber Sie werden sogleich finden, daß sie sämmtlich von der nämlichen Hand sind.«

»Das sehe ich,« sagte der Domine, »und alle betreffen meine Nase. Es ist wahr, meine Nase ist allerdings in großen Verhältnissen angelegt, aber es war der Wille des Himmels, daß ich so reichlich bedacht werden sollte. Indessen sind die Nasen dieser Gestalten noch größer, als es meine Nase rechtfertigen würde, wenn der Zeichner genau und nicht boshaft gewesen wäre. Dennoch haben sie ihr Verdienst,« fuhr der Domine fort, indem er einige genauer betrachtete, und ich hörte ein leises »Gluck, Gluck,« in seiner Kehle, als er über seine eigenen verzerrten Gesichtszüge lachte. »›Artis adumbratae meruit ceu sedula laudem‹, wie Prudentius sagt. Ich habe keine Zeit, die Stelle ganz anzuführen.«

»Hier ist eine Zeichnung, Sir,« sagte Herr Knapps weiter, »welche mir zum Beweise dient, daß Jacob Ehrlich der Verfertiger ist. Sie und Frau Bately sind hier in's Lächerliche gezogen. Wer konnte es wissen, daß das Licht in Ihrem Studirzimmer erloschen war, als Jacob Ehrlich?«

»Begreiflich,« versetzte der Domine, das Blatt, das ihm in die Hand gesteckt wurde, mit der Brille betrachtend; »die Geheimnisse des Studirzimmers sind verletzt worden.«

»Aber, Sir,« fuhr Herr Knapps fort, »hier ist noch ein überzeugenderer Beweis. Sie bemerken diese Karritatur ihrer Person mit seinem eigenen Namen darunter – seiner eigenen Handschrift. Ich erkannte sie augenblicklich: und als ich zufälliger Weise seinen Cornelius Nepos aufschlug, fand ich das erste Blatt herausgerissen. Das ist es, Sir, und Sie werden bemerken, daß es genau in den Riß paßt.«

»Ich sehe mit Bedauern, daß dieß der Fall ist. Jacob Ehrlich, du bist der Unehrerbietigkeit und Falschheit überwiesen. Wo ist Simon Swapps?«

»Darf ich mich nicht vertheidigen, Sir?« erwiederte ich; »soll ich ungehört gegeißelt werden?«

»Nein, das wäre eine Ungerechtigkeit,« versetzte der Domine; »aber welche Vertheidigung kannst du vorbringen? O puer infelix et sceleratus!«

»Darf ich die Zeichnungen sehen, Sir?« fragte ich.

Schweigend händigte sie mir der Domine ein. Ich durchlief sie alle, und erkannte auf den ersten Blick, daß sie von Barnabas Hosengürtel waren. Die letzte fiel mir besonders auf. Ich war anfangs durch die schweren Bezüchte, die man gegen mich vorgebracht hatte, erschreckt und verwirrt worden, aber dies gab mir meine Zuversicht zurück, und ich sagte keck. »Diese Zeichnungen sind von Barnabas Hosengürtel, Sir, und nicht von mir. Ich habe in meinem Leben noch nie ein Zerrbild gefertigt.«

»Du hast auch behauptet, du zeichnest überhaupt nicht, Jacob Ehrlich, und nachher bewiesest du durch dein Bleistift das Gegentheil.«

»Als ich das sagte, wußte ich nicht, daß ich Geschick zum Zeichnen hatte; aber ich wünschte mir diese Kunst anzueignen, weil Sie mir dieselbe zutrauten – es war mir nicht lieb, daß Sie eine Fertigkeit in mir voraussetzten, die ich nicht hatte. Und um Ihnen zu gefallen, Sir, bat ich Sie um das Bleistift.«

»Ich wollt es wäre, wie du sagst, Jacob; ich wollte im Innersten meiner Seele, du wärest nicht schuldig.«

»Wollen Sie Herrn Knapps fragen, von wem und zu welcher Zeit er diese Zeichnungen erhalten? Es sind gar viele.«

»Antworten Sie Herr Knapps, auf die Frage Jacob Ehrlich's.«

»Sie wurden mir im Laufe dieses Monats, zu verschiedenen Zeiten, von den Knaben gegeben.«

»Nennen Sie diese Knaben, Herr Knapps.«

Herr Knapps nannte acht bis zehn Knaben, welche vortraten.

»Gab Ihnen Barnabas Hosengürtel keine derselben, Herr Knapps?« fragte ich, als ich bemerkte, daß er diesen nicht genannt hatte.

»Nein,« erwiederte Herr Knapps.

»Was das Blatt aus meinem Nepos betrifft,« sagte ich zum Domine gewendet, »so schrieb ich meinen Namen, Jacob Ehrlich, an dem Tage hin, an welchem Sie mir das Buch gaben; aber das Fecit und die Karikatur ist nicht von mir. Wie dies auf das Blatt kam, weiß ich nicht.«

»Damit hast du noch nichts wiederlegt, Jacob,« versetzte der Domine.

»Aber etwas belegt, Sir. An welchem Tage bat ich Sie um das Bleistift? War es nicht am Sonnabend?«

»Letzten Sonnabend, glaube ich, war es.«

»Gut, Sir, und sagte nicht Herr Knapps den Tag zuvor, ich könne zeichnen?«

»Allerdings und du läugnetest es.«

»Nun so soll sich Herr Knapps rechtfertigen, warum er diese Karikaturen nicht vorwies, von denen er sagt, daß er sie im Laufe des ganzen Monats gesammelt habe. Warum gab er sie Ihnen nicht früher?«

»Du greifst die Sache schlau an,« versetzte der Domine.

»Antworten Sie, Herr Knapps, warum verschwiegen Sie mir dieses Vergehen wenigstens vierzehn Tage lang?«

»Ich wünschte mehr Beweise zu sammeln,« erwiederte der Unterlehrer.

»Du hörst es, Jacob Ehrlich.«

»Sir, hörten Sie mich jemals anders von meiner armen Mutter sprechen, als in Worten der Liebe?«

»Nein, Jacob, du zeigtest stets Pflichtgefühl.«

»Wollen Sie gütigst John Williams aufrufen?«

»John Williams, Nr. 37, tritt vor.«

»Williams,« sagte ich, »hast du mir nicht erzählt, Barnabas Hosengürtel habe meine Mutter mit flammendem Munde gezeichnet?«

»Ja, das that ich.«

Mein empörtes Gefühl machte sich durch einen Strom von Thränen Luft.

»Nun,« rief ich, »wenn Sie glauben, Sir, daß ich die Karikaturen von Ihnen und Frau Bateley gezeichnet habe – zeichnete ich auch diese, die von derselben Hand ist?«

»Damit händigte ich dem Domine die Karikatur meiner Mutter ein, welche Herr Knapps, ohne es zu wissen, mit den übrigen hervorgezogen hatte. Herr Knapps wurde so weiß, wie ein frisch gewaschenes Handtuch. Der Domine betrachtete die Karikatur, und schwieg eine Zeit lang. Endlich wendete er sich zum Unterlehrer.

»Von wem empfingen Sie diese, Herr Knapps?«

Herr Knapps erwiederte in seiner Verwirrung:

»Von Barnabas Hosengürtel.«

»Und doch wollten Sie erst vor einem Augenblick noch keine dieser Zeichnungen von Barnabas Hosengürtel empfangen haben? Sie gerathen mit sich in Widerspruch, Herr Knapps. Jacob zeichnete seine Mutter nicht. Diese Bleifeder ist dieselbe, womit die übrigen gezeichnet sind – ergo bin ich überzeugt, er zeichnete keine von allen. Ite procul fraudes. Gott, ich danke dir, daß die Unschuld beschützt wurde. Kaum bist du noch entronnen, Jacob – cum populo et duce fraudulento. Und nun zur Bestrafung! Barnabas Hosengürtel, gabst du diese Karikatur Herrn Knapps? Woher hast du sie? Lüge nicht.«

Barnabas wurde roth und weiß, und gestand, daß es seine eigene Zeichnung sei.

»Knaben,« rief der Domine, das Rohr schwingend, das er ergriffen hatte, »ihr gabt diese Zeichnungen Herrn Knapps; sprecht, woher kamen sie?«

Erschrocken über die Blicke des Domine, riefen die Knaben sogleich in einem Athem:

»Von Barnabas Hosengürtel.«

»Und von wem hast du sie bekommen, Barnabas Hosengürtel?« fragte der Domine. Barnabas verstummte. »Sprich die Wahrheit; hast du sie nicht selbst gemacht, wenn du sie nicht von Andern empfingest?«

Barnabas fiel auf seine Kniee und erzählte den ganzen Zusammenhang, besonders die Art und Weise, wie er durch Herrn Knapps Vermittlung zum Cornelius Nepos gekommen war. Die Entrüstung des Domine kannte keine Gränzen. So aufgeregt hatte ich ihn noch nie gesehen. Er schien wenigstens um einen Fuß höher als sonst. Seine Augen funkelten, seine große Nase glühte, seine Nasenflügel dehnten sich aus und sein Mund öffnete sich weit, um den schweren Athemzügen aus seiner Brust Luft zu machen. Sein ganzes Wesen schien für die Schuldigen Unheil zu verkünden.

»Was dich betrifft, du niederträchtige, entartete, hohlköpfige und giftige Mißgeburt von einem Menschen, so habe ich keine Worte, um meine Verachtung auszudrücken. Die Vorsteher der Anstalt mögen dich richten, aber bis ihr Urtheil gesprochen wird, sollst du die Luft dieser Schule nicht mehr durch deine Gegenwart verpesten. Wenn du noch einen Funken von Gefühl in deinem verschrumpften Gerippe hast, so bitte diesen armen Knaben um Verzeihung, den du durch deine Verrätherei zu Grunde zu richten im Sinne hattest. Wo nicht, so säume keinen Augenblick, von hinnen zu eilen, ich möchte sonst in der Aufwallung meines Zornes am Lehrer die Strafe vollziehen, die für den Schüler bestimmt ist, aber dir noch in höherem Grade gebührt, als selbst Barnabas Hosengürtel.«

Herr Knapps erwiederte keine Sylbe und stürzte aus der Schule, um im nächsten Augenblicke seine Wohnung zu verlassen. Als die Sache vor die Vorsteher kam, entließen sie ihn mit Schmach.

»Simon Swapps, fasse Barnabas Hosengürtel!« – Zum zweiten Male ward Barnabas um meinetwillen die Ruthe mit unermüdetem Eifer aufgemessen. Er heulte und stampfte aus Leibeskräften. Endlich war die Kraft des Domine erschöpft, » Consonat omne nemus strepidu (statt nemus lies Schulzimmer),« rief der Domine, legte die Ruthe weg und zog sein Taschentuch heraus, um sich den Schweiß von der Stirne zu wischen. »Calcitrat, ardescunt germani caede bimembres, diese Citation ist glücklich« (Gluck, Gluck). Er schneuzte seine Nase, hielt eine lange Rede an die Knaben – belobte mich wegen meiner gewandten Verteidigung – bewies Allen, die ihm Gehör zu schenken für gut fanden, daß die Unschuld stets über die Schuld triumphire – gab dem Barnabas zu verstehen, er möchte die Schule verlassen, und bewilligte aus eigener Erschöpfung den Schülern, um über das Vergangene nachzudenken, einen Vakanztag, den sie denn auch pflichtschuldigst zum Knickern und Pflockspielen anwandten. Hierauf entließ er die Versammlung, nahm mich bei der Hand, und führte mich in sein Studirzimmer, wo er der Fülle seiner Empfindungen gegen mich Raum gab, bis uns die Gebieterin des Hauses zum Mittagessen abrief.

Von dieser Katastrophe an ging Alles trefflich. Die Güte und Aufmerksamkeit des Domine nahm täglich zu, und Niemanden kam es mehr in den Sinn, geheime Umtriebe gegen mich anzuspinnen. Meine Fortschritte waren reißend. Ich hatte den Virgil erobert, den Tacitus im Sturm genommen, und las bereits die Oden des Horaz. Im Triumphe war ich durch das Decimalsystem vorgedrungen, und bereits emsig mit der Ausmessung der Körper beschäftigt, als ich eines Abends von einem heftigen Schwindel befallen wurde. Ich klagte es der Hausmutter. Sie fühlte mir den Puls, sagte, ich habe Fieber und schickte mich zu Bette. Es folgte eine schlaflose Nacht. Am nächsten Morgen versuchte ich aufzustehen, aber es war mir, als wälzte sich eine schwere glühende Kugel in meinem Gehirn, und ich sank auf's Kissen zurück. Meine wohlwollende Freundin besuchte mich, erschrak über meinen Zustand und ließ den Wundarzt rufen. Dieser erklärte, ich habe das Nervenfieber, welches damals in der Umgegend herrschte. Dies war das erste Mal in meinem Leben, daß ich einen Tag krank war – es war eine Lehre für mich, ich hatte noch zu lernen. Der Wundarzt öffnete mir eine Ader, gab der Hausmutter Verhaltungsbefehle und versprach wieder zu kommen. Nach einigen Stunden lag ich im Fieberwahnsinn. Einen Augenblick glaubte ich an der Hand der kleinen Sarah durch grünende Felder hinzugehen. Ich wandte mich um, und sie war verschwunden. Ich befand mich auf dem Lichter, und meine Hand faßte die Asche meiner Mutter. Mein Vater stand vor mir, sprang über Bord und war nicht mehr zu sehen. Eine schwarze Rauchsäule stieg aus der Kajüte empor, und ich warf mich wieder auf das Verdeck. Dann war ich wieder allein auf dem stillen und edlen Strome; der Mond schien hell. Ich führte das Ruder, steuerte mit der Fluth hinauf, und bewunderte das Blättergehänge, das seine schwarzen Schatten über die Ufer warf. In sanftem Lichte erglänzten die grünen, saftigen Matten; in der Ferne schimmerten die zahllosen Thürme der ungeheuren Stadt, und ich sah die verschiedenen Brücken, welche das Wasser überwölbten. Das sanfte Rauschen der Fluth schlug harmonisch an mein Ohr, und das widerstrahlende Mondlicht entzückte meine Augen. Wonne erfüllte mein Herz; ich war nicht länger mehr der Zögling der Armenschule, sondern der Steuermann einer Barke. Aber wie ich das Schauspiel betrachten wollte, drängte sich immer ein Drittes zwischen mein Auge und den Gegenstand meiner Aufmerksamkeit. Wohin ich meine Blicke wandte, trat es mir in den Weg, und ich konnte es nicht entfernen. Es war das Bild einer Wolke, durchsichtig und ohne bestimmten Umriß. Ich suchte es zu gestalten, aber es war umsonst – ich vermochte es nicht. Endlich schien es sich in eine Form zu fügen – es war des Domine große Nase, zum »Thurme angewachsen, der nach Damaskus blickte.« Meine Schläfe pochten – mein Körper glühte. Ich hatte keine deutliche Vorstellung, wie man anders im Bette sterben könne, als meine arme Mutter, und dachte, ein solcher Tod warte auch meiner. Die entsetzlichste Furcht ergriff mich, als sei diese Gluth nur der Vorbote der Flamme, die mich zu Asche verzehren sollte. Der Tod schwebte über meinem jungen Herzen und machte es zu Eis erstarrend, während mein Leib im Feuer brannte. Dies war meine letzte Erinnerung; dann war Alles schwarz. Lange Tage hatte ich keine Empfindung vom Schmerze des Daseins. Als ich aus meiner Betäubung erwachte, und meine Sinne allmählig zurückkehrten, öffnete ich die Augen und sah etwas vor meinen Blicken im Zwielichte schwimmen, das mein Gesichte diagonal durchkreuzte. Der Nebel zog sich zurück, das Bewußtsein kehrte wieder, und ich erkannte, daß es die Nase des Domine Dobiensis war, die meine Bettdecke überschattete. Er kniete an meinem Bette, seine Brille war von Thränen getrübt und seine langen grauen Locken wallten, seine Augen verschleiernd, zu beiden Seiten nieder. Ich war nicht erschrocken, aber meine Schwäche hemmte Bewegung und Sprache. Ein Gebetbuch lag in seiner Hand. Er hatte für mich gebetet. In der Meinung, ich sei noch immer bewußtlos, brach er in folgendes Selbstgespräch aus:

» Naviculator parvuspallidus – wie schön sogar im Tode! Mein armer Lichterknabe, du hast die Elemente überwunden und über die Schwierigkeiten der Grammatik triumphirt – und jetzt sollst du sterben! Lucide puer – ein kindisches Wortspiel, und doch liebe ich es, wie ich dich liebe. O wie blutet mein Herz für dich! Der eisige Hauch des Todes hat dich gebleicht, wie der rauhe Frost die herbstliche Rose. Warum wurdest du aus deinem Elemente versetzt? Junger Gebieter des Stromes – Herr des Lichters – Ratis rex et magister– muthmaßlicher Erbe des Steuers – verlobt dem Ruder – angetraut dem Verdeck – wie schwer liegst du jetzt darnieder! Wo ist die blühende Wange, von der bräunenden Luft geröthet? wo ist das helle schwimmende Auge? Ach wo? Tam breviter dirae mortis aperta vis est! wie der liebliche Tibull singt.« Und der Domine seufzte auf's Neue. »Wäre der Streich auf mich gefallen, den Alten, Verachteten, Verspotteten, zum Grabe Reisen, er wäre willkommen gewesen – (und doch hätte ich dich gern noch länger unterrichtet, ehe ich diesen Schauplatz verließ – hätte dir gern den Mantel der Wissenschaft hinterlassen). Du weißt es, Herz, daß ich meine ermatteten Glieder dahin schleppe, wie eine Wüste, daß ich schwer beladen bin, daß meiner Schwäche kein Ende ist. Und um dich soll ich trauern, Stern meiner Hoffnung – muß ich mit dem Epigrammatisten sprechen –

Hoc jacet in tumulo, raptus puerilibus anuis,
Jacob Ehrlich domini cura dolorque sui?

Wahr, nur zu wahr! Hast du das Element verlassen, das du so spielend beherrschtest, hast du deinen Fuß auf die terra firma gesetzt, um dein Grab zu graben?

Sis licet inde sibi tellus placata levisque,
Artificis levior non potes esse manu
.

Lege dich leicht auf den Lichterknaben, o Erde – auf die Lotusblüthe, die Wasserlilie, an's Ufer geworfen, um zu sterben. Hättest du länger gelebt, Jacob, ich würde dir die Humaniora beigebracht haben; wir hätten uns immer freundlicher unterhalten. Ich hätte Gelehrsamkeit auf dich überströmen lassen, mein Sohn, Absalon!«

Er stand auf und beugte sich über mich; die Thränen floßen aus beiden Augen über die lange Nase, und fielen gleich einem träufelnden Regen auf meine Decke nieder. Verstand ich auch keines von seinen Worten, so verstand ich doch den Geist derselben – den Geist der Liebe. Ich machte eine kraftlose Bewegung mit meinem Arme und stammelte: »Domine«. Der alte Mann schlug in die Hände, blickte nach oben und sagte: »O Gott, ich danke dir – er wird leben. Bst! Bst! mein Süßer, du darfst nicht plaudern.« Auf den Zehen schlich er zurück, und ich hörte ihn triumphirend murmeln: »Er hat mich Domine genannt!«

Von dieser Stunde an ging ich mit raschen Schritten meiner Genesung entgegen, und in drei Wochen saß ich wieder bei meinen Büchern. Noch sechs Monate fehlten mir zu vierzehn Jahren, und Herr Drummond, der mich von Zeit zu Zeit besucht hatte, um nach meinen Fortschritten zu sehen, besprach sich mit dem Domine über meine Zukunft. Alles, was ich für ihn thun kann, Herr Dobiensis,« sagte mein Beschützer, »ist, ihn als Lehrling einschreiben zu lassen, damit er seine Zeit auf der Themse ausdiene, und das kann nicht eher geschehen, als bis er vierzehn zählt. Würden es die Gesetze der Schule gestatten, daß er noch so lange hier bleibt?«

»Die Gesetze erlauben es nicht bestimmt, aber ich nehme es auf mich,« erwiederte der Domine. »Ich habe für meine langen Dienste nichts verlangt, und die Vorsteher werden mir diese kleine Gunst nicht versagen; sollte es aber doch der Fall sein, so will ich ihn bei mir behalten, daß er seine kostbare Zeit nicht verliert. Was sagst du dazu, Jacob – fühlst du dich geneigt, zu deiner Mutter Themse zurückzukehren?«

Ich gab eine bejahende Antwort, denn die Erinnerungen an mein früheres Leben sprachen von Freiheit und Thätigkeit.

»Du hast Recht, Jacob, – der Schneider bei seiner Nadel, der Schuster bei seinem Leist, der Laufbursche bei einer bedürfnißvollen Gebieterin, und alle Lehrlinge bei den verschiedenen Handthierungen, finden keine Zeit zur weiteren Ausbildung, aber an Bord gibt es Momente der Ruhe und des Friedens – die stille Nacht zur Betrachtung, die Wache zum Nachdenken. Sogar der widrige Wind oder die entgegenströmende Fluth lassen Augenblicke der Muße frei, welche vorteilhaft angewendet werden können. Da kannst du aus dem Vorrath der Gelehrsamkeit schöpfen, die ich in deinem Geiste aufgespeichert habe, und deinen Schatz durch Ausdauer und Fleiß vermehren. Du hast jetzt noch ein halbes Jahr vor dir, und unter dem Beistande Gottes soll diese Zeit nicht spurlos verstreichen.«

Nachdem Herr Drummond meine Zustimmung für die beabsichtigte Lehrlingsstelle erhalten hatte, wünschte er mir Lebewohl und schied. Der Domine strengte mich während der sechs Monate hart, beinahe nur zu hart an, aber ich arbeitete aus Liebe, und um seinen Beifall zu erlangen, war ich außerordentlich fleißig. Bald war die Zeit vorüber und die sechs Monate mehr als verstrichen, als Herr Drummond erschien. Er hatte einen Diener bei sich, der ein Bündel unter dem Arme trug. Mein Pfeffer und Salz, meine Gelben und meine Schildplatte wurden abgestreift und gegen eine Jacke und Beinkleider von schöner blauer Farbe vertauscht. Der Domine entließ mich mit vielen Ermahnungen, die Hausmutter mit vielen Segenswünschen. Ich sagte ihnen und der Armenschule Lebewohl, und nach einer Stunde befand ich mich wieder unter dem Dache der gütigen Mrs. Drummond.

Wie verschieden waren meine jetzigen Empfindungen von den Gefühlen, die mich damals zu Boden drückten, als ich ihr Haus zum ersten Male betrat! Ich war nicht mehr der kleine Wilde, dem es an aller Erziehung und jedem klaren Begriffe fehlte. Im Gegentheil, ich hatte eine reiche Einbildungskraft, ein festes Vertrauen auf mich selbst, einen gebildeten Geist und einen gewissen Stolz auf meine erworbenen Kenntnisse. Die edleren Gefühle meines Wesens waren angeregt. Dankbarkeit, Demuth und Liebe vereinigten sich mit dem Bewußtsein meines Werthes. Mein Aeußeres hatte gewonnen und meine Gestalt war höher geworden. Mein Schritt war sicher und elastisch. Freudig trat ich in die Welt, voll Hoffnung auf das Leben und voll Liebe gegen meine Mitgeschöpfe. Ich erkannte, ich empfand die Ausbildung, ja die völlige Verwandlung meines Charakters, und mit funkelnden Augen sah ich zu dem Fenster hinauf, an welchem Frau Drummond und die kleine Sarah standen, um meine Rückkehr von einer dreijährigen Abwesenheit zu erwarten.

Frau Drummond war von ihrem Gatten auf die große Veränderung vorbereitet worden, die sie an mir finden würde; dennoch starrte sie mich einige Sekunden lang voll Verwunderung an, als ich, mit dem Hute in der Hand, in's Zimmer trat und ihr meine Aufwartung machte. Hierauf bot sie mir die Hand und ich ergriff sie voll Ehrerbietung.

»Ich hatte dich nicht erkannt, Jacob,« sagte sie lächelnd. »Du bist ja ein ganzer Mann geworden.«

Sarah blieb hinter ihr stehen und betrachtete mich mit freudigem Erstaunen; aber ich trat auf sie zu, und schüchtern nahm sie meine dargebotene Hand. Als ich sie verlassen hatte, war sie mir überlegen gewesen, – ich kehrte zurück, und sie gewahrte bald, daß ich gegründete Ansprüche auf Anerkennung hatte. Es dauerte lange, bis sie mit mir sprechen wollte, und noch länger, bis sie vertraulich wurde; aber als sie es war, sah ich nicht mehr das Kind, das den schutzlosen Knaben durch Freundlichkeit aufmunterte oder wegen seiner Albernheiten belachte, sondern das reifere Mädchen, das ihn mit achtungsvoller Theilnahme betrachtete und ihre Meinung der seinigen unterwarf. Ich hatte die Macht des Wissens gewonnen.

Nach den Gesetzen der Fährmannszunft muß Jeder, der einst ein eigenes Ruder auf dem Strome führen will, vom vierzehnten bis zum einundzwanzigsten Jahre als Lehrling dienen – wenigstens jedenfalls eine Lehrzeit von sieben Jahren durchmachen, und vierzehn zurückgelegt haben, ehe er eingetragen wird. Diese Zeit kann auf jedem Fahrzeug erstanden werden, das auf dem Flusse segelt oder rudert, sei es eine Barke, ein Lichter, eine Fischersmacke oder ein größeres Boot; und erst wenn man seine Lehrzeit vollendet hat, kann man ein eigenes Fahrzeug übernehmen. Herr Drummond erbot sich, mich kostenfrei an Bord eines seiner Lichter einschreiben zu lassen, und es meiner Willkühr anheimzustellen, auf ein anderes Fahrzeug zu gehen, das mir besser gefiele. Dankbar nahm ich den Vorschlag an, ging mit ihm in die Halle, unterzeichnete den Lehrvertrag und war im Alter von vierzehn Jahren als Lehrbursche einem Flußschiffer beigegeben.


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