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Zweites Kapitel.

Im Buch als “Zwölftes Kapitel.” überschrieben. Re.

Wir ergötzen uns an groben Lügen, wiewohl ich durch andere grobe Lügen in eine minder ergötzliche Lage versetzt werde. – Ich sende mein Lineal als Botschafter ab, um die betheiligten Partieen wissen zu lassen, daß ich mich gegen allzugrobe Linienzeichnungen auslasse. – Ich werde vorgeladen, gerichtet und verurtheilt, ohne alles Verhör. – Was ich an Sprache verliere, wird durch Gefühle ersetzt; das Ganze endet mit hochherzigen Entschlüssen und einigem Schluchzen.

Es war der Kapitän des amerikanischen Schooners, von welchem wir das Mehl übernommen hatten.

»Ich hab' 'nen Gedanken, mein hinkender Brummbär, daß es in unserem Lande nichts Dienstliches gibt,« sagte er. »Wann legt Ihr wieder mit diesem Eurem Floße an meinem Schooner an, um eine andere Ladung einzunehmen? Heute wohl nicht mehr, denke ich?«

»Eure Gedanken treffen diesmal mit der Wahrheit zusammen,« versetzte der alte Tom; »wir wollen mit Eurer Erlaubniß bis morgen früh auf dem Schlamm liegen bleiben.«

»Ja, beim Henker, wie ein Aligator in Louisiana. Ich hab' 'nen Gedanken, daß ihr etwas langsam seid in dem alten Lande; aber ich habe keine Lust, lange den Schnabel und Stern auf diesem Bischen Fluß zu hängen; ich muß vor der Fieberzeit wieder in Neu-York sein.«

»Ein hübsches Fahrzeug, das Bischen Schaluppe da,« bemerkte der alte Tom; »wie lange braucht Ihr wohl, bis Ihr drüben seid?«

»Wie lange? – In einem Nu ist sie drüben, und sie würde noch einmal so schnell segeln, wenn sie auf den Wind warten möchte.«

»Warum thut sie das nicht?« fragte der junge Tom.

»Zu viel Zeitverlust. Ich wurde einmal von eurem Landsend bis zu unseren Engen vom Ostwind verfolgt, und er konnte mich nie einholen.

Vermutlich werden auch die Delphine daran verzweifelt sein; nicht wahr?« fragte der alte Tom mit einem schlauen Seitenblicke; »und doch habe ich sie um die Buge eines englischen Schnellseglers, der in vollem Lauf war, spielen und ihn auslachen sehen.«

»Mit mir treiben sie nie ihren Spott, altes Klapperholz, und wenn sie es thun, so segle ich mitten durch, daß auf der einen Seite die Schwänze, auf der andern die Köpfe schwimmen.«

»Aber klappen sie nicht wieder zusammen, wenn sie sich hinten in eurem Segelstriche begegnen?« fragte Tom.

»Sollte mich nicht Wunder nehmen,« erwiederte der amerikanische Kapitän.

»Sagt mir einmal, was ist denn das für ein Fahrzeug zu Neu-York, von dem sie so viel Wesens machen?«

Der alte Tom sprach vom ersten Dampfschiff, mit welchem damals Probefahrten angestellt wurden, und von welchem übertriebene Berichte aus den amerikanischen Zeitungen im Umlaufe waren. »Ein solches Schiff, oder was es immer sein mag, das ohne Masten, Raaen und Segel fährt, geht über meine Begriffe.«

»Altländische Köpfe können's freilich nicht fassen. Ich will Euch sagen, wie das ist? – es geht schnabelwärts, oder sternwärts, oder nach der breiten Seite, wie Ihr wollt, auf oder nieder, im Nu durch's Wasser; und Ihr habt nichts als das Feuer zu schüren und Eure Hände zu wärmen; und je mehr Ihr schürt, desto schneller geht's gegen Wind und Strömung.«

»Nun das müßte ich sehen, bis ich's glauben würde,« versetzte der alte Tom.

»Habt nicht zu fürchten, daß es umschlägt – ich steh' Euch dafür. Meine kleine Schaluppe überschlug einmal mit mir bei 'nem ordentlichen Stößer; aber sie ist flink und kam im Augenblick auf der anderen Seite wieder herauf; und 's war Alles, wie vorher. Man hätte gar nichts bemerkt, wenn die Jacke des Steuermanns nicht naß, und die Schnüre an den Hängematten nicht verdreht gewesen wären.«

»Nach dem Umschwung lassen sie sich um so fester binden,« bemerkte der junge Tom lachend.

»Ja, aber wir wollen den Herrn nicht d'raus bringen, Tom,« versetzte sein Vater, »'s ist so übermacht lustig. Sagt mir einmal, Kapitän, geht in dem neuen Lande Alles so schnell?«

»Alles im Nu, denke ich.«

»Was für eine Art von Pferden habt Ihr in Amerika?« fragte ich.

»Ich hab' 'nen Gedanken, daß Euch unsere Kentuckypferde in Erstaunen setzen würden. Das sind allmächtige Renner, kein Nordweststößer holt sie ein. Ich nahm einmal einen Engländer in einem Gig mit nach Alibama, und er fragte mich: ›was ist denn das für ein großer Kirchhof, durch den wir da fahren‹? – ›Fremdling‹, antwortete ich, ›ich denke, 's sind nichts, als die Meilensteine, an denen wir so schnell vorüber fliegen‹. Aber ich hatte einmal ein Pferd, das war noch ein gut Theil rascher als jenes. Ich sah, wie ihm einmal eine halbe Stunde lang ein Blitzstrahl auf offenem Felde nachjagte, und er konnte es nicht einholen. Aber länger kann ich nicht bleiben; will Euch morgen Nachmittag erwarten.«

»Ja, ja, Herr,« versetzte der alte Tom und stimmte den Vers an:

»Hatt' um halb fünf Uhr noch mit ihr
Des Nachmittags gesprochen;
Um fünf Uhr jammert sie nach mir,
Das Herz war ihr gebrochen.«

»Ich denke, Ihr seid kein Narr von 'nem Schreier,« sagte der Amerikaner, sein Boot von der Barke abstoßend und nach seinem Schiffe rudernd.

»Und ich denke, Ihr seid kein Narr von n'em Lügner,« bemerkte der junge Tom lachend.

»Ja, das ist er. Doch ich habe eine Freude an einer hübschen Lüge, Jacob, es macht mir Spaß. Aber was Teufels nannte der Bursche 'nen ordentlichen Wind einen Stößer?«

»Weiß nicht, erwiederte Tom, »vielleicht aus demselben Grunde, aus dem wir von windigen Mädchen sprechen.« Ein unübersetzbares Wortspiel mit gal (Mädchen) und gale (Sturm).

Hier wurde unsere Unterhaltung von dem neuen Hauptbuchhalter, Herrn Hodgson, unterbrochen, von dem ich bisher noch nichts gesagt habe. Er war an die Stelle des Herrn Tomkins gekommen, als wir die Battersea-Werfte verließen, und hatte gleich Anfangs einen augenscheinlichen Widerwillen gegen mich gefaßt, der mit jedem Tage zuzunehmen schien, an welchem mir Herr Drummond neue Beweise seiner Gewogenheit gab. »Ehrlich, verlaßt die Barke augenblicklich und geht an Euer Pult. Ich will keine Augendiener unter mir haben. Kommt augenblicklich, Sir.«

»Meister Federfuchser,« rief der alte Tom, »wollt Ihr damit sagen, Jacob sei ein Augendiener?«

»Ja, das will ich; und ich brauche keine von Euren Unverschämtheiten, oder ich will Euch bald entlichtern, alter Schurke.«

»Was den ersten Theil Eurer Rede betrifft, – meinen dienstlichen Gruß, und Ihr lügt; und was den zweiten betrifft, so bleibt das noch zu erweisen.«

Herrn Hodgson's Entrüstung war durch diese Erwiederung des alten Toms nicht besänftigt. Auch mein Blut war in Wallung; ich hatte schon zu viel getragen, und der junge Tom wartete nur auf den Augenblick, wo er meine Partei ergreifen konnte. Er ging unbefangen an dem Hauptbuchhalter vorüber und sagte dabei:

»Ei, ich dachte, du seiest Lehrling auf dem Strome, Jacob; aber es scheint, du seiest jetzt auf's Comptoir eingeschrieben. Wie lange gedenkst du noch zu dienen?«

»Ich weiß nicht.« erwiederte ich, als ich verdrießlich weg ging, »wollte aber, daß meine Zeit um wäre.«

»Sehr wohl, Sir; ich werde Herrn Drummond von Eurem Benehmen in Kenntniß setzen; ich werde ihm Eure Streiche melden.«

»Streiche. Was wollt Ihr mit Euren Streichen?« sagte der alte Tom. »Seine Pflicht ist, das Steuer zu führen, daß uns der Fluß keine Streiche spielt, und nicht zu Euren Spitzbubenstreichen am Pulte erzogen zu werden.«

»Spitzbubenstreichen, Ihr alter Lumpenkerl – was wollt Ihr damit sagen?« versetzte Hodgson wüthend.

»Mein Vater meint vermuthlich die Fertigkeit der Hand, was sie über'm Wasser d'rüben Löscherdemän Légèreté de main. nennen,« entgegnete der junge Tom.

Diese Erwiederung von einer Seite, von der er sie so wenig erwartet hätte, steigerte die Wuth des Buchhalters so sehr, daß er sprachlos fortstürzte.

»Du scheinst ihn hart getroffen zu haben, Tom,« sagte sein Vater, »aber ich muß gestehen, ich weiß nicht, wie es zuging.«

»Ihr habt mir Unterricht im Schreiben und Lesen geben lassen, Vater,« versetzte der junge Tom; »und wenn man einmal das kann, läßt sich Alles Andere von selbst lernen. Ich schnappe täglich was auf, bald da, bald dort; und wenn ich etwas sehe oder höre, das ich nicht verstehe, so lasse ich nicht nach, bis ich herausbringe, was es bedeutet. Und so habe ich auch dieses harte Wort auf dem Bartholomäusmarkt aufgeschnappt.«

»Und hast ihn hart damit getroffen.«

»Warum sollte ich nicht, wenn es einem Freunde gilt? Aber denkt an mich, Vater, 's thut nicht mehr lange gut. 's wird bald ein Wind aufspringen, und so ruhig auch Jacob scheint, so wird es nicht lange dauern, bis er seine Zähne weist.«

Tom's Vermuthung war richtig. Ich saß kaum eine Minute an meinem Pulte, als Hodgson eintrat und mit einer Reihe von Schimpfreden begann, die mein Stolz unmöglich ertragen konnte. Er nahm mir eine völlig richtige und gut geschriebene Warenrechnung, die ich beinahe vollendet hatte, vor dem Gesichte weg, riß sie in Stücke und befahl mir, sie noch einmal zu schreiben. Empört über diese Behandlung, weigerte ich mich dessen, und legte meine Feder nieder, indem ich ihm entschlossen in's Gesicht sah. Wüthend über meinen Trotz, ergriff er ein Nachweisungsbuch und warf es mir nach dem Kopfe. Unfähig, mich länger zu beherrschen, nahm ich ein Lineal und erwiederte die Begrüßung. Eben schwirrte es durch die Luft, als Herr Drummond in's Zimmer trat. Er kam gerade zur rechten Zeit, um mit anzusehen, wie Hodgson vor die Stirne getroffen wurde und zu Boden stürzte, während ich mit flammendem Gesichte und aufgehobenem Arme auf dem Querholze meines hohen Schreibsessels stand.

Der Schein war durchaus gegen mich. Man schickte nach Hülfe, und der erste Kommis wurde auf sein Zimmer gebracht. Ich blieb die ganze Zeit über auf meinem Stuhl vor dem Pulte sitzen. Stürmische Gefühle tobten in meiner Brust. Wie lange ich hier blieb, kann ich nicht sagen, es mögen zwei Stunden gewesen sein. Empfindungen, welche lange geschlafen hatten, waren plötzlich erwacht und wirbelten in einem fortwährenden Strudel durch mein fieberisches Gehirn. Wahrscheinlich hätte ich noch länger in diesem Zustande der Selbstvertiefung verharrt, wäre ich nicht zu Herrn Drummond beschieden worden. Es ergab sich, daß Hodgson mittlerweile zu sich gekommen war und dem Vorfalle eine besondere Färbung mitgetheilt hatte, welche unverantwortlicher Weise von dem stupiden Schreibersjungen bestätigt worden war, der mir ebenfalls nicht sehr wohl wollte und die günstige Gelegenheit ergriff, sich bei seinem Vorgesetzten einzuschmeicheln. Ich ging in das Besuchzimmer hinauf, wo ich Herrn und Frau Drummond, und die kleine Sarah traf. Ohne das mindeste Gefühl von Beängstigung trat ich ein, meine Brust war zu voll von Entrüstung. Frau Drummond machte eine ernste, trübe Miene, ihr Gatte sah mich strenge an, und die Augen der kleinen Sarah waren roth von Weinen.

»Jacob Ehrlich, ich habe dich rufen lassen, um dir zu sagen, daß du in Folge deines schimpflichen Benehmens gegen meinen Hauptbuchhalter nicht länger unter meinem Dache bleiben kannst. Es scheint, daß der Auftritt, den ich heute selbst mitangesehen habe, nur eine Fortsetzung deines unangemessenen und unverschämten Betragens war – daß du, weit entfernt, deine Pflicht zu thun, wie ich glaubte, sie vielmehr beständig vernachlässigtest, und du so die Verbindung, die du mit dem trunkenen Alten und seinem vermessenen Sohne geschlossen, dich in diese Thorheit geführt hat. Du kannst sagen, es sei nicht dein Wille gewesen, am Lande zu bleiben, und du wärest lieber wieder auf den Strom gegangen. Allein in deinem Alter ist es häufig der Fall, daß man dem Willen mehr Gehör schenkt, als dem Vortheil; und es ist gut, wenn ein junger Mensch ältere Leute findet, die ihm wohl wollen und für ihn wählen. Ich hatte gehofft, dir einst eine ehrenvollere Stellung in der Gesellschaft zu verschaffen, als zu der Zeit meine Absicht gewesen war, in welcher du mir als eine verlassene Waise in die Hände fielest; aber ich sehe meinen Irrthum ein. Du hast dich nicht nur heimtückisch, sondern auch undankbar bewiesen.«

»Das habe ich nicht,« versetzte ich ruhig.

»Keine Gegenrede! Ich bin selbst Zeuge deines unanständigen Betragens gewesen, das mir lange verhehlt worden zu sein scheint. Doch nichts mehr davon. Ich schrieb dich als Lehrling auf dem Strome ein, und du mußt deine Lehrzeit ausdienen; aber erwarte nichts Weiteres von mir. Du mußt dir nun deine eigene Bahn in der Welt brechen, und ich hege das Vertrauen, daß du in dich gehen und gut thun wirst. Du magst auf den Lichter zurückkehren, und so lange bleiben, bis ich dich auf einem andern Fahrzeuge untergebracht haben werde, denn ich halte es für meine Pflicht, dich dem Einflusse derjenigen zu entziehen, welche dich auf Abwege geführt haben. Noch etwas habe ich beizufügen; du bist einige Monate lang auf meinem Comptoir gewesen, und stehst jetzt im Begriff, in die Welt hinausgeworfen zu werden. Hier sind zehn Pfund für deine Dienste« (Herr Drummond legte das Geld auf den Tisch.) »Du wirst dich auch erinnern, daß ich einiges Geld in Verwahrung habe, das dir gehört. Sobald deine Lehrzeit abgelaufen sein wird, kannst du es fordern, und es soll dir übermacht werden. Ich hege das Vertrauen, Jacob, das feste Vertrauen, daß dich diese strenge Lehre zur Erkenntniß führen wird, und daß du die schlimmen Rathschläge vergissest, welche dir deine früheren Genossen ertheilt haben. Suche dich nicht zu rechtfertigen, es ist umsonst.«

Herr Drummond stand auf und verließ das Zimmer.

Ich würde etwas erwiedert haben; aber Hern Drummond's letzte Worte regten die Gefühle der Entrüstung wieder auf, die allmälig sanfteren Empfindungen Raum gegeben hatten. Ich blieb ruhig stehen, und heftete einen festen Blick auf Herrn Drummond, als er an mir vorüberging. Dieß wurde der Verstocktheit meines Herzens zugeschrieben.

Wie es schien, hatte Herr Drummond das Zimmer in Folge vorausgegangener Besprechung verlassen, um den Anschein zu vermeiden, als könnte er sich möglicher Weise von seinem Entschlusse abbringen lassen, und Frau Drummond sollte mit mir sprechen, um sich zu überzeugen, in wie weit eine Aussicht vorhanden wäre, daß ich mich schuldig bekennen und um Milderung meines Urtheils bitten würde; aber die feste Ruhe der Unschuld wurde als Trotz ausgelegt, und die Gluth meiner Stirne, die aus dem Gefühle des Unrechts entsprang – des Unrechts, das mir von denjenigen wiederfuhr, welche ich liebte und verehrte – vielleicht das durchbohrendste Gefühl für ein empfindliches und edles Gemüth – wurde fälschlich aus einem heftigen und bösartigen Charakter abgeleitet. Frau Drummond heftete einen trüben Blick auf mich, seufzte und schwieg; die kleine Sarah jedoch betrachtete mich mit ihren großen schwarzen Augen, als wollte sie auf dem Grunde meiner Seele lesen.

»Hast du nichts zu sagen, Jacob,« bemerkte endlich Frau Drummond, »was ich Herr Drummond mittheilen könnte, wenn sein Zorn nicht mehr so heftig ist?«

»Nichts, als daß ich mir Mühe geben will, ihm zu verzeihen, Madam,« erwiederte ich.

Diese Antwort war sogar für die sanftmüthige Frau beleidigend. Sie stand vom Stuhle auf und rief: »komm Sarah;« und als sie an mir vorüberging, um das Zimmer zu verlassen, sagte sie noch mit gütiger und sanfter Stimme: »Lebe wohl, Jacob.«

Meine Augen schwammen in Thränen. Ich suchte den Gruß zu erwiedern, aber meine Gefühle überwältigten mich. Ich konnte nicht sprechen, und mein Stillschweigen wurde der Hartnäckigkeit und dem Undanke zugeschrieben. Die kleine Sarah zögerte – sie hörte nicht auf die Aufforderung der Mutter. Das Mädchen zählte jetzt beinahe vierzehn, und seit fünf Jahren kannte ich sie als meine Gespielin und Freundin. In den letzten sechs Monaten, während deren ich im Hause wohnte, waren wir immer vertrauter geworden. Abends theilte ich alle ihre Beschäftigungen, und Herr und Frau Drummond schienen an unserer Vertraulichkeit Gefallen zu finden. Ich liebte sie, wie eine theure Schwester: meine Liebe gründete sich auf Dankbarkeit. Nie hatte ich der freundlichen Güte vergessen, die sie mir erwies, als ich zum erstenmale unter ihres Vaters Dach kam, und eine lange Bekanntschaft mit der Sanftmuth ihres Charakters hatte mich nachgerade so fest an sie gefesselt, daß ich mein Leben für sie zu opfern bereit gewesen wäre. Aber nie erkannte ich meine Gefühle in ihrer vollen Ausdehnung, bis zu dem Augenblick, als ich im Begriff stand, sie zu verlassen, – vielleicht für immer zu verlassen. Mein Herz bebte, als sich Herr Drummond entfernte – ein bitterer Schmerz durchzuckte es, als die Gestalt seiner Gattin meinen Blicken entschwand, aber jetzt fühlte ich die Bitterkeit in ihrem höchsten Grade. Ich behielt die Thürklinge in der Hand und rang nach Athem – ein Thränenstrom rollte über meine Wangen und blendete mich. Eine Minute lang blieb ich in diesem Zustande; da fühlte ich meine herabhängende Hand von Sarah berührt.

»Jacob!« wollte sie sagen, aber ehe sie meinen Namen halb ausgesprochen hatte, brach sie in Thränen aus, und schluchzte an meiner Schulter. Mein Herz war zu voll, um ihre Empfindungen nicht zu theilen, und meine Thränen vermischten sich mit denen des gefühlvollen Mädchens. Als wir uns gefaßt hatten, erzählte ich ihr Alles, was vorgefallen, und endlich war doch Eine Person in der Welt, die es anerkannte, daß man mich ungerecht behandelt hatte. Kaum hatte ich meine Erzählung vollendet, als uns das Dienstmädchen unterbrach, welches die kleine Sarah zu ihrer Mutter rief. Sie warf sich in meine Arme und sagte mir Lebewohl. Sobald ich sie freiließ, beeilte sie sich, ihrer Mutter zu gehorchen, aber als sie das Geld noch auf dem Tische liegen sah, deutete sie darauf und sagte: »Dein Geld, Jacob!«

»Nein, Sarah, das nehme ich nicht an. Ich würde von denjenigen, die mich gütig behandeln, Alles annehmen und mich immer zu größerer Dankbarkeit verpflichtet fühlen, aber dieß kann ich nicht annehmen – ich kann nicht, und du mußt es nicht hier liegen lassen. Sage, daß ich es nicht nehmen könne.«

Sarah wollte Einwendungen machen, aber da sie meine Festigkeit sah und vielleicht auch mit meinen Gefühlen einverstanden war, sagte sie mir noch ein Lebewohl und eilte fort.

Der Leser kann sich leicht vorstellen, daß ich meine Entfernung aus dem Hause nicht verzögerte. Ich raffte meine Kleidungsstücke zusammen, und kaum waren zehn Minuten seit meiner Trennung von Sarah verflossen, als ich mich schon bei dem alten Tom und seinem Sohne an Bord des Lichters befand. Sie waren eben im Begriff, ihr Abendessen zu verzehren. Einen Theil des Vorgefallenen wußten sie, das Uebrige erzählte ich ihnen.

»Nun, ich wüßte nicht,« bemerkte der alte Tom, nachdem ich meine Erzählung vollendet hatte, »daß ich dir irgend ein Leid zugefügt hatte, Jacob, und es thut mir wehe, wenn Herr Drummond dieß von mir glauben sollte. Ich liebe ein Gläschen, das ist wahr; aber ich berufe mich auf dich, ob ich dir je eins aufgezwungen – und ob ich nicht diesen Burschen so viel als möglich im Zaume halte; aber, obgleich ich predige, so thue ich es doch selbst nicht, das ist das Schlimmste an der Sache, und ich weiß, ich habe es zu verantworten, daß Tom ein so großer Freund des Grogs geworden ist. Aber wiewohl ich nie etwas davon sage, so denke ich doch oft bei mir selber, sollte Tom einmal gepreßt werden und wegen Trunkenheit in Strafe verfallen, so wird er an seinen alten Vater denken und ihm in seinem Herzen fluchen, wenn seine Augen die Katze schwingen sehen, und sie niederfällt.«

»Ich will der Katze fluchen, Vater, oder dem Bootsmaten, oder dem Offizier, der mich angab, oder dem Kapitän, der mich geißeln läßt, oder meiner eigenen Thorheit, aber ich will mich hängen lassen, wenn ich Euch fluche, der Ihr Euch immer so gütig gegen mich bewiesen habt,« versetzte Tom und ergriff seines Vaters Hand.

»Nun, wir wollen das Beste hoffen, mein lieber Junge,« erwiederte der alte Tom, »aber, Jacob, mit dir hat man kein redliches Spiel gespielt, das ist gewiß. Es ist wahr, daß der Herr dich als eine Waise aufgenommen und dir zu 'ner Erziehung verholfen hat; aber das ist kein Grund, dir deinen freien Willen zu nehmen und, nachdem er dich als Lehrling auf dem Strome eingeschrieben hat, dich auf einen hohen Stuhl zu schnallen und deine Nase auf das Pult zu stoßen. Wenn er nur deßwegen so gütig gegen dich gewesen ist, um dich zum Sklaven zu machen, so war das nach meiner Meinung keine Güte; und was die Bestrafung betrifft, ohne zu hören, was ein Mensch zu seiner Verteidigung vorzubringen hat, – so gibt's nicht einmal in des Königs Dienst einen Tartaren, der einem Manne nicht zu sprechen erlauben würde, ehe es heißt: ›die Jacke ausgezogen‹! Ich erinnere mich eines Vorfalls auf der Flotte, aber ich bin jetzt nicht in der Laune, 'nen Faden zu spinnen. Nun siehst du, Jacob, Herr Drummond hat viel für dich gethan, aber jetzt ist's auch, als hätte er Vieles nicht gethan. Ich will mir nicht anmaßen, die Rechnung auszugleichen, aber es scheint mir, daß du ihm nicht allzusehr verpflichtet bist. Denn was braucht man mir zu danken, wenn ich ein Fahrzeug in's Schlepptau nehme und es auf dem halben Wege abbinde, wo es meines Beistandes am nöthigsten bedarf? Doch was mich am meisten schmerzt, ist das, daß du nicht länger bei uns auf dem Lichter bleiben sollst. Wärest du bei uns geblieben, so hättest du keinen Mangel leiden sollen, so lange Bezahlung und Kost fortdauern. Aber nun wollen wir uns die Sache aus dem Sinne schlagen – Tom, hole die Flasche – hängt den Kummer, er hat die Katze umgebracht.«

Aber auch der Grog vermochte es nicht, die Laune des alten Toms wieder herzustellen. Der Abend ging unter drückenden Empfindungen vorüber, und wir legten uns bei Zeiten zu Bette, da wir den andern Morgen, in aller Frühe, zum Schooner hinunterfahren wollten. Die ganze Nacht über schloß ich kein Auge. Ich wälzte alle Erinnerungen in meinem Geiste hin und her, und das Gefühl der Entrüstung füllte meine Seele. Mein ganzes Leben ging an meinem innern Auge vorüber. Ich kehrte zu den Tagen der Vergangenheit zurück – zu der Zeit, die beinahe aus meinem Gedächtnisse verschwunden war, zu der Barke, auf der ich mit meinem Vater den Strom auf- und niederfuhr. Der ganze Auftritt des Todes meiner Eltern trat wieder vor meine Seele. Ich sah meinen Vater verschwinden und die schwarze Rauchsäule zum Himmel emporsteigen. Der Domine, die Hausmutter, Marables und Flemming, die Scene in der Kajüte, – Alles zog in reißender Folge an mir vorüber. Ich fühlte, daß ich meine Pflicht gethan hatte, und ungerecht behandelt worden war; lang unterdrückte Leidenschaften tummelten sich in meinem Gehirn, bis mir der Kopf schmerzte.

Leser! Ich habe gesagt, daß ich ein Wilder war, als ich von Herrn Drummond aufgenommen wurde; aber ich war ein gelehriger Wilder, den man mit Güte, aber nur mit Güte zu leiten vermochte. Du erstaunst vielleicht über die schnelle Veränderung, welche so wenige Jahre in mir hervorgebracht hatten; ich verdankte sie der Güte. Das Benehmen Herrn Drummond's, seiner liebenswürdigen Gattin und Tochter, war die Güte selbst gewesen; der Domine und die würdige Hausmutter hatten mir ebenfalls das reinste Wohlwollen erzeigt. Marables hatte sich freundlich bewiesen, und obgleich mir bisweilen Unrecht widerfuhr, wie vom Unterlehrer in der Schule und von Flemming an Bord des Lichters, so waren dies doch bloß unbedeutende Unterbrechungen der fortwährenden Güte, mit der ich von Jedermann behandelt wurde. So war also meine Natur durch eine Art von systematischem Wohlwollen, dem eine sorgfältige Erziehung zu Hülfe kam, in kurzer Zeit umgebildet; und wäre dasselbe fortgesetzt worden, so würde mein neuer Charakter in wenigen Jahren eine unerschütterliche Festigkeit gewonnen haben. Aber der Schlag war geführt, Ungerechtigkeit hatte die verborgenen Gefühle meiner Natur in Aufruhr gebracht, und als ich am folgenden Morgen aufstand, war ich ein anderer Mensch. Ich will damit nicht sagen, daß das ganze Gebäude, welches Erziehung und Unterricht aufgeführt hatte, plötzlich zusammengestürzt sei, aber wenn es auch nicht zusammenstürzte, so war es doch in seinen Grundfesten so sehr erschüttert, vom Gimpfel bis zum Fuße so sehr durchrissen, daß es bei dem leichtesten Anstoß in einer falschen Richtung eingefallen wäre und nichts zurückgelassen hätte, als ein buntes Gewirre zertrümmerter Lebensansichten. Wenn es noch irgend etwas zusammenhalten konnte, so war es das zarte Wohlwollen der kleinen Sarah, zu der meine wirren Gedanken immer wieder und wieder kehrten, als dem einzigen Stern, der noch an meinem umwölkten Gesichtskreise leuchtete.

Wie gefährlich, wie thöricht, wie anmaßend ist die Voraussetzung Erwachsener, als könnten sie die Gedanken und Empfindungen der zarten Jugend durchschauen! Wie oft hat diese Anmaßung ein junges Gemüth zu Grunde gerichtet, das bei gebührender Würdigung und treuer Pflege schöne Blüthen getrieben und zarte Früchte getragen hätte! Die Röthe der gekränkten Tugend ist so tief, als die Röthe der Schuld – und die Blässe des zusammen gedrängten Muthes so auffallend, als die Blässe der Furcht; die Festigkeit des Bewußtseins der Unschuld wird nur zu oft als Trotz des verhärteten Lasters ausgelegt – und die Thränen, die das Gefühl des erlittenen Unrechts auspreßt, das Verstummen der Zunge, welche durch die Beklommenheit des verwundeten Herzens der Sprache beraubt wird, das Zittern des kleinen Körpers, den die heftige Aufregung erschüttert, all dies wird gar oft vom Vorurtheile und Starrsinn der Anwesenden gerade den entgegengesetzten Leidenschaften zugeschrieben. Die Jugend sollte nie hart beurtheilt und, sogar wenn sie auf Irrwegen wandelt und das Urtheil verdient, stets mit Liebe zurückgerufen werden, – und wer anders bandelt und sie den Stürmen der Welt überläßt, ist verantwortlich für den Verstoßenen.


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