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Fünfundvierzigste Rune

Des Nordlands Wirtin sendet außergewöhnliche Krankheiten nach Kalewala 1–190. Wäinämöinen heilt das Volk durch zauberkräftige Sprüche und Mittel 191–362.

Louhi, sie, des Nordlands Wirtin,
Hört die Kunde mit den Ohren,
Daß Wäinölä wohl gedeihet,
Kalewala sich erhebet
Durch die Trümmer von dem Sampo,
Durch des bunten Deckels Brocken.

Wurde drob gewaltig neidisch,
Dachte selbst bei sich beständig,
Welchen Tod sie wohl bereiten,
Welch Verderben senden sollte [10]
Zu dem Volke von Wäinölä,
Zu den Leuten Kalewalas.

Also flehet sie zu Ukko,
Bittet so den Gott des Donners:
»Ukko, Gott du in der Höhe!
O, verdirb das Volk Kalewas
Mit dem scharfen Eisenhagel,
Mit den stahlbespitzten Pfeilen,
Oder bring es um durch Krankheit,
Laß den schlechten Stamm verkommen, [20]
Auf dem langen Hof die Männer,
In der Hürde ihre Weiber!«

Eine blinde Tochter Tuonis
War das alte Weib Lowjatar,
Sie, die schlechteste der Töchter,
Häßlich unter Manas Jungfraun,
Allen Übeln eine Quelle,
Ursprung war sie tausend Freveln;
Hatte ein Gesicht voll Schwärze,
Eine Haut von garst'ger Farbe. [30]

Diese schwarze Tochter Tuonis,
Sie, die Blinde Ulappalas,
Machte sich ihr Bett am Wege,
Sich auf schlechtem Land ihr Lager,
Mit dem Rücken hin zum Winde,
Halbgewandt zum bösen Wetter,
Zu dem eisigkalten Zugwind,
Zu des Tages Morgengrauen.

Fing ein Windstoß an zu wehen,
Aus dem Ost ein großes Brausen, [40]
Blies das dumme Mädchen schwanger,
Schwellte ihren Leib zur Fülle
Auf den zweigentblößten Fluren,
Auf den rasenlosen Wiesen.

Und es trug des Leibes Schwere,
Seine Fülle sie mit Schmerzen,
Trug sie zwei und drei der Monde,
Trug den vierten sie und fünften,
Trug den siebenten und achten,
Trug sie auch den neunten Monat, [50]
Nach der alten Weiber Rechnung
Noch die Hälfte von dem zehnten.

Nach des neunten Monats Ablauf,
In des zehnten Monats Anfang
Ward der Leib gar hart gestaltet,
Drückt' er sie mit großen Schmerzen,
Ohne daß es zur Geburt kam,
Ohne daß die Frucht sich löste.

Stand da auf von ihrem Sitze,
Legte sich an andre Stellen, [60]
Zu gebären ging die Hure,
Ging dahin die Windesbuhle
In der Mitte zweier Felsen,
In der Enge von fünf Bergen,
Ohne daß es zur Geburt kam,
Ohne daß die Frucht sich löste.

Einen Platz sucht zur Geburt sie,
Von der Last sich zu befreien,
Auf den schwankenden Morästen,
Bei dem wilden Schwall der Quellen; [70]
Konnte keinen Platz dort finden,
Wo des Leibes Last sie ließe.

Will die Brut nunmehr gebären,
Will des Leibes Last entsenden
In des heft'gen Stromes Brausen,
In des starken Wassers Strudel,
Unterm Wirbel dreier Fälle,
Unterhalb neun steiler Hänge,
Doch nicht kommt die Frucht zum Vorschein,
Wird der schlechte Leib nicht leichter. [80]

Fing die Garst'ge an zu weinen,
Fing der Unhold an zu heulen,
Wußte nicht, wohin sie gehen,
Nicht, wohin sie wandern sollte,
Von der Last sich zu befreien,
Ihre Brut da zu gebären.

Jumala rief aus den Wolken,
Sprach der Schöpfer aus dem Himmel:
»Eine Hütte mit drei Ecken
Steht im Sumpf, beim Meeresstrande, [90]
In dem nimmerhellen Nordland,
In dem düstern Sariola:
Gehe dorthin zu gebären,
Deinen Leib dir zu erleichtern;
Dort hat man nach dir Verlangen,
Sehnsucht dort nach deinen Kindern!«

Kam die schwarze Tochter Tuonis,
Sie, die garst'ge Jungfrau Manas,
Hin zur Stube von Pohjola,
Zu der Badstub' Sariolas, [100]
Ihre Kinder zu gebären,
Ihre Brut hervorzubringen.

Louhi, sie, Pohjolas Wirtin,
Nordlands zähnearme Alte,
Führt sie heimlich nach der Badstub',
Unbemerkt zum Badehause,
Ohne daß das Dorf es hörte,
Es ein Wort vernehmen konnte.

Heimlich heizt sie ihre Badstub',
Sorgt für alles voller Eile, [110]
Schmiert mit Bier der Badstub' Türen,
Netzt mit Dünnbier ihre Angeln,
Daß die Tür nicht heulen möchte,
Nicht die Angeln laut ertönen.

Redet Worte solcher Weise,
Läßt sich selber also hören:
»Hehre Alte, Schöpfungstochter,
Schöne du mit goldnem Glanze,
Du, die älteste der Frauen,
Du, die früheste der Mütter! [120]
Schreite bis zum Knie ins Wasser,
Bis zum Gürtel in die Fluten,
Nimm vom Kaulbarsch du den Geifer,
Und den Schleim nimm von der Quappe,
Schmiere damit die Gelenke,
Streiche du damit die Seiten,
Mach' das Mädchen frei vom Drucke,
Dieses Weib von seinen Leiden,
Von den gar zu harten Qualen,
Von den Wehen ihres Leibes! [130]

»Sollte das genug nicht scheinen,
Ukko, du, o Gott der Höhe!
Komm herbei, du bist vonnöten,
Komme rasch, du wirst gerufen;
Ist ein Mädchen hier in Wehen,
Ist ein Weib in Leibesqualen
In dem Rauche einer Badstub',
In dem Badehaus des Dorfes!

»Nimm die goldbedeckte Keule
In die rechte deiner Hände, [140]
Scheuche alle Hindernisse,
Spreng' die Pfosten an der Pforte,
Schließe auf des Schöpfers Türschloß,
Reiße auf du seine Riegel,
Lasse Große durch und Kleine,
Auch den Allerkleinsten ziehen!«

Da befreit sich die Verruchte,
Sie, die blinde Tochter Tuonis,
Endlich von der Last des Leibes,
Legt sie ihre bösen Kinder [150]
Unter eine bunte Decke,
Unter weiche Bettvorhänge.

Bringt zum Vorschein neun der Söhne
Während einer Nacht des Sommers,
Während einer Badeheizung,
In der Dauer eines Bades
Mit derselben Kraft des Leibes,
Aus der Fülle ihres Bauches.

Gibt drauf Namen ihren Söhnen,
Pflegt mit Sorgfalt ihre Kinder, [160]
Wie der Künstler seine Werke,
Was er sichtbar selbst geschaffen:
Einen bildet sie zu Stichen
Und zur Windkolik den andern,
Läßt zur Gicht den einen werden
Und den anderen zur Schwindsucht,
Einen schafft sie zu Geschwülsten
Und den anderen zu Ausschlag,
Einen macht zu kaltem Brande
Und den anderen zur Pest sie. [170]

Ohne Namen blieb nur einer,
Von dem Wurf der letztgeborne,
Diesen sandte sie von dannen,
Stieß als Zaubrer ihn aufs Wasser,
In der Niederung zu hexen,
Überall den Neid zu üben.

Louhi, sie, des Nordlands Wirtin,
Hieß die andern alle gehen
Nach der nebelreichen Spitze,
Zu dem dunstumwobnen Eiland; [180]
Hetzte diese bösen Wesen,
Trieb die nie erhörten Übel
Auf die Männer von Wäinölä,
Zum Verderb des Kalewstammes.

Es erkrankt das Volk Wäinöläs,
Liegen sieht man Kalews Söhne
An den nie erhörten Übeln
Mit den unbekannten Namen,
Daß der Boden unten faulet
Und die Decke oben eitert. [190]

Ging der alte Wäinämöinen,
Dieser ew'ge Zaubersprecher,
Um die Köpfe zu befreien,
Um die Leben zu erretten,
Ging mit Tuonela zu streiten,
Mit den Krankheiten zu kämpfen.

Ließ die Badestub' erwärmen,
Ließ die Steine dort erhitzen
Mit dem allerreinsten Holze,
Mit vom Fluß gebrachten Scheiten; [200]
Führte Wasser wohl verdecket,
Brachte Besen gut verwahret,
Bähte warm die Badebesen
Und erweicht' das dichte Laubwerk.

Weckte eine Honighitze,
Weckte eine süße Wärme
Durch die glühendheißen Steine,
Durch die brennendheißen Blöcke,
Redet Worte solcher Weise,
Läßt auf diese Art sich hören: [210]
»Komme, Jumala, zum Bade,
Lüftevater, in die Wärme,
Uns Gesundheit zu verleihen,
Uns den Frieden zu bereiten!
Tilge aus die grausen Seuchen,
Lösche aus die grausen Greuel,
Schlag' den bösen Brand zu Boden,
Jag' den schlimmen Brand von dannen,
Daß er nicht dein Kind verbrenne,
Dein Geschöpf er nicht verderbe! [220]

»Welches Wasser ich nun spritze
Auf die glühendheißen Steine,
Dieses werde gleich zu Honig,
Soll als süßer Seim gleich rieseln;
Mag der Honigstrom dann fließen,
Sich der Honigsee ergießen
Durch die Steine dieses Ofens,
Durch die moosbedeckte Badstub'!

»Sollen schuldlos nicht verkommen,
Ohne gottgesandte Krankheit, [230]
Ohn' Geheiß des großen Schöpfers,
Ohne Jumalas Verhängnis;
Wer uns ohne Schuld verzehret,
In den Mund zurück das Wort ihm,
Auf sein eignes Haupt das Übel,
Über ihn selbst seine Absicht!

»Sollt' in mir ein Mann nicht stecken,
Nicht ein Held im Sohne Ukkos,
Um vom Übel zu erretten,
Von dem Unglück zu befreien, [240]
Ist ein Mann noch Ukko selber,
Der die Wolken alle lenket,
Der auf Dürrewolken weilet,
Der die Lämmerwolken leitet.

»Ukko, du, o Gott der Höhe,
Thronender ob dem Gewölke,
Komm herbei, du bist vonnöten,
Fahre nieder, da wir bitten,
Diese Qualen zu erkennen,
Dieses Unheil abzuwehren, [250]
Diese Übel zu verscheuchen,
Dieses Siechtum zu vertreiben!

»Bringe mir ein Schwert von Feuer,
Und von Flammen sei die Klinge,
Daß die Bösen ich bezwinge,
Daß die Unholde ich banne,
Auf des Windes Bahn die Qualen,
Auf das weite Feld die Schmerzen.

»Dahin treibe ich die Schmerzen,
Dahin banne ich die Qualen, [260]
Zu den Höhlen in den Felsen,
Zu den eisenharten Blöcken,
Um den Steinen Schmerz zu bringen,
Um die Felsen zu bedrängen;
Nimmer weint der Stein vor Schmerzen,
Klagt der Felsen über Leiden,
Mag man auch gar sehr ihn quälen,
Übermäßig ihn mißhandeln.

»Schmerzensjungfrau, Tuonis Tochter,
Die am Schmerzensteine sitzet, [270]
An dem Laufe dreier Flüsse,
Bei der Teilung dreier Ströme,
Die die Schmerzenmühle drehet,
Die den Berg der Schmerzen wendet!
Geh die Schmerzen einzusammeln
In des blauen Steines Rachen,
Oder führ' sie in das Wasser,
Senk' sie in des Meeres Tiefe,
Welche nie vom Wind berührt wird,
Nie vom Sonnenlicht beschienen! [280]

»Sollte dies genug nicht scheinen,
Kiwutar, du gute Wirtin,
Wammatar, du Auserlesne,
Komm mit ihr, erscheine du auch,
Uns Gesundheit zu verleihen,
Uns den Frieden zu bereiten!
Laß die Schmerzen nicht mehr wehtun,
Mach' die Qualen nicht mehr fühlbar,
Daß der Kranke schlafen könne,
Kummerfrei der Schwache ruhe, [290]
Daß Besinnung er behalte,
Daß der Sieche sich bewege.

»Nimm die Schmerzen in die Tonne,
In die Kupfertruh' die Leiden,
Daß die Schmerzen du entführest,
Du hinweg die Plagen schleppest
In des Schmerzenhügels Mitte,
Zu des Schmerzenfelsens Spitze;
Dort sollst du die Schmerzen kochen
In dem allerkleinsten Kessel, [300]
Von der Größe eines Fingers,
Von der Weite eines Daumens!

»Mitten ist ein Stein im Berge,
Ist ein Loch in seiner Mitte,
Ist gebohret mit dem Bohrer,
Durchgeschlagen mit dem Eisen,
Dahin wirf du alle Schmerzen,
Dahin schütt' die bösen Plagen,
Dränge du die wilden Wesen,
Drücke du die Unheilstage, [310]
Daß sie nachts sich nicht erheben,
Nicht bei Tag in Freiheit kommen.«

Schmiert der alte Wäinämöinen,
Dieser ew'ge Zaubersprecher,
Darauf alle kranken Stellen,
Überstreicht die offnen Wunden
Mit neun auserlesnen Salben,
Mit acht starken Zaubermitteln,
Redet Worte solcher Weise,
Läßt auf diese Art sich hören: [320]
»Ukko, du, o Gott der Höhe,
Alter Mann du in dem Himmel!
Send' aus Osten eine Wolke,
Eine Hängewolk' aus Nordwest,
Schicke eine aus dem Westen,
Sende Honig, sende Wasser,
Um die Schmerzen zu beschwicht'gen,
Um die Qualen zu besänft'gen!

»Nichts vermag ich aus mir selber,
Wenn's mein Schöpfer nicht gewähret; [330]
Hilfe mußt du, Schöpfer, geben,
Hilfe, Jumala, du bringen,
Da mit meinem Aug' ich schaute,
Und mit meiner Hand berührte,
Redete mit meinem Munde,
Und mit meinem Atem hauchte!

»Wohin meine Hand nicht gehet,
Mögen Gottes Hände gehen,
Wohin niemals meine Finger,
Mögen Gottes Finger reichen; [340]
Sanfter sind des Schöpfers Finger,
Seine Hände sind gelenker!

»Komme, Schöpfer, nun zu zaubern,
Komme, Jumala, zu sprechen,
Machterfüllter, anzuschauen!
Laß sie in der Nacht gesunden,
Lindrung sie bei Tage finden,
Daß der Kopf den Schmerz nicht fühle,
Qual nicht in der Mitte drücke,
Nicht die Angst zum Herzen dringe, [350]
Daß sie keinen Schmerz empfinden,
Nicht die leichteste Beschwerde,
Nie solang die Zeiten währen,
Nie solang der Goldmond glänzet!«

Wäinämöinen alt und wahrhaft,
Er, der ew'ge Zaubersprecher,
Jagt so ganz hinweg das Übel,
Scheuchet also fort das Siechtum;
Wendet ab der Menschen Leiden,
Heilt das angehexte Übel [360]
Und befreit vom Tod die Leute,
Vom Verderb den Stamm Kalewas.


Anmerkungen

Vers 32. Ulappala (das Land der weiten, offenen Fläche) ist hier mit Tuonela identisch.

100. Vgl. Anmerkung zu XXXV 299.

200. Vgl. Anmerkung zu XVIII 290.

201 f. »Damit die bösen Geister es nicht sehen und durch einen Zauberspruch entkräften« (Anm. d. Ausgabe von 1887).

211 ff. In einer Variante wird Jumala aufgefordert, heimlich in die Badstube zu kommen, ohne daß es der Schlechte höre, ohne daß es das Dorf erfahre, und den bösen (mit den Krankheitsstoffen beladenen) Dampf zu verjagen.

269 ff. Vgl. Anmerkung zu IX 525 f.

282 f. Kiwutar, die Schmerzensmutter, und Wammatar, die Plagenmutter, bezeichnen nur Varianten der »Schmerzensjungfrau«.

333 ff. Feststehende Reihenfolge der magischen Heilhandlungen.


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