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Fünfte Rune

Wäinämöinen will Joukahainens Schwester aus dem Meere auffangen und bekommt sie in Fischgestalt an seine Angel 1–58. Er will den Fisch in Stücke schneiden, dieser entkommt aber ins Meer und erklärt, wer er eigentlich sei 59–133. Vergebens bemüht sich Wäinämöinen, mit Worten und Netzen, den Fisch wieder in seine Gewalt zu bekommen 134–163. Niedergeschlagen begibt er sich nach Hause und läßt sich von seiner Mutter raten, nach dem Nordland zu gehen, um dort zu freien 164–241.

Schon gemeldet war die Nachricht,
Hinbefördert schon die Kunde
Von dem Untergang der Jungfrau,
Von dem Tod des schönen Mädchens.

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Wurde darob gar verdrießlich,
Weinte abends, weinte morgens,
Weint' die ganzen lieben Nächte,
Da die Schöne hingeschwunden,
Da die Jungfrau so versunken [10]
In des Meeres Wogenabgrund,
In die flutenreiche Tiefe.

Ging voll Sorgen und mit Seufzen,
Mit gar schwerbewegtem Herzen
An den Strand des blauen Meeres,
Redet Worte solcher Weise:
»Sag' mir, Untamo, du Schläfer,
Sage deine Träume, Fauler,
Wo des Wassers Götter weilen,
Wo Wellamos Jungfraun ruhen?« [20]

Sprach drauf Untamo der Schläfer,
Also tat er kund die Träume:
»Dorten sind die Wassergötter,
Dort die Jungfraun von Wellamo:
Auf der nebelreichen Spitze,
Auf dem dunstumwobnen Eiland,
In des Meeres dunkler Tiefe,
Auf dem schwarzgefärbten Schlamme.

»Dorten sind die Wassergötter,
Sind die Jungfraun von Wellamo, [30]
Sitzen in dem schmalen Stübchen,
Sitzen in der engen Kammer,
An dem buntgestreiften Steine,
In des dicken Felsblocks Wölbung.«

Ging der alte Wäinämöinen
Zu dem Stapelplatz der Boote,
Schaut mir Sorgfalt auf die Angel
Und betrachtet seine Schnüre,
Nimmt die Angel in die Tasche,
In den Sack den Widerhaken, [40]
Fängt dann rüstig an zu rudern,
Rudert zu des Eilands Ende,
Kommt zur nebelreichen Spitze,
Zu dem dunstumwobnen Ufer.

Machte dort sich an das Angeln,
Weilte stets bei seiner Fangschnur,
Wandte sich mit seinem Handnetz,
Ließ die Angel dort ins Wasser,
Angelte und zog den Haken;
Zitternd schwankt die Kupferrute, [50]
Zischend rauscht der Silberfaden
Und das goldne Schnürchen sauset.

Endlich nun an einem Tage
Und in einer Morgenfrühe
Biß ein Fischlein in die Angel,
Saß ein Lachs am Eisenhaken;
Rasch zog er den Fisch ins Fahrzeug,
Legt' ihn auf des Bootes Boden.

Wendet sodann und beschaut ihn,
Redet selber diese Worte: [60]
»Ist ein wundersames Fischlein,
Hab' dergleichen nie gesehen:
Glatter ist es als der Schnäpel,
Schimmernder denn Lachsforellen,
Falber ist es wohl als Hechte,
Flossenärmer als ein Weibchen,
Schuppenloser als ein Männchen,
Hat nicht Kopfputz wie ein Mädchen,
Nicht den Gurt der Wassertochter,
Hat nicht Ohren wie ein Hühnchen, [70]
Ist als Meereslachs gestaltet,
Als ein Barsch aus tiefen Fluten.«

Wäinämöinen hat im Gürtel
Stets mit Silberscheid' ein Messer,
Nimmt das Messer von der Seite,
Aus der silberreichen Scheide,
Um das Fischlein zu zerstückeln,
Um den Lachs rasch zu zerschneiden
Sich zu einem Morgenbissen,
Sich zur Speise in der Frühe, [80]
Sich zu gutem Mittagsmahle,
Sich zur Abendkost ein Stückchen.

Fängt den Lachs an zu zerschneiden,
Will den Bauch des Fisches spalten,
Hurtig schlüpft der Lachs ins Wasser,
Springt ins Meer das bunte Fischlein
Aus des braunen Bootes Grunde,
Aus dem Nachen Wäinämöinens.

Hebt den Kopf dann aus den Wellen,
Streckt hervor die rechte Schulter [90]
Mit dem fünften Stoß des Windes,
Bei dem sechsten Wasserwirbel,
Reicht hervor der Hände rechte,
Läßt der Füße linken blinken
Auf der siebenten der Fluten,
Auf der neunten Wogenwölbung.

Sprach zu ihm her diese Worte,
Ließ sich also dann vernehmen:
»O du alter Wäinämöinen!
Nimmer bin ich hergekommen [100]
Als ein Lachs dir zum Zerschneiden,
Als ein Fischlein zum Zerstückeln,
Dir zu einem Morgenbissen,
Dir zur Speise in der Frühe,
Dir zu gutem Mittagsmahle,
Dir zur Abendkost ein Stückchen.«

Sprach der alte Wäinämöinen:
»Weshalb bist du denn gekommen?«

»Deshalb war ich hergekommen,
Dir im Arm zu ruhn als Hühnchen, [110]
Stets zur Seite dir zu sitzen,
Lebenlang dir zugesellet,
Dir das Lager zu bereiten,
Dir das Kissen hinzulegen,
Dir die Wohnung rein zu halten,
Auszukehren dort den Boden,
Feuer in die Stub' zu bringen,
Dort die Flamme anzufachen,
Dir zu backen dicke Brote,
Honigbrot dir zu bereiten, [120]
Dir den Krug voll Bier zu bringen,
Aufzutragen dir die Speise.

»Bin ja nicht ein Lachs des Meeres,
Nicht ein Barsch aus Flutentiefen;
Bin ein Weib, ein junges Mädchen,
Joukahainens Schwester bin ich,
Die du lange Zeit begehrtest,
Unablässig dir ersehntest.

»O du alter Tropf, du Armer,
Wäinämöinen ohne Einsicht, [130]
Nicht verstandst du festzuhalten
Mich, Wellamos Wellenjungfrau,
Ahtos auserwählte Tochter!«

Sprach der alte Wäinämöinen
Schiefen Hauptes, schlechter Laune:
»Bist du Joukahainens Schwester,
O so komme, bitt' ich, wieder.«

Nimmer kommt sie nochmals wieder,
Nimmer während dieses Lebens,
Tauchte hastig in die Fluten, [140]
Von des Meeres Oberfläche
In die buntgestreiften Steine,
In die leberfarbnen Spalten.

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Mußte es da wohl besinnen,
Wie zu sein und wie zu leben;
Zog voll Fleiß das feine Netzlein
Kreuz und quer durch das Gewässer,
Durch die Buchten, durch die Engen,
Zog es durch das stille Wasser, [150]
Durch den Spalt der Lachsgrundsklippen,
Durch die Fluten von Wäinölä,
Durch die Engen Kalewalas,
Durch die schauerlichen Tiefen,
Durch die großen Wasserwirbel,
Durch die Flüsse von Joukola,
Durch der Lappen Buchtenstrecken.

Fing gar viel von andern Fischen,
Fast von allen Wassertieren,
Aber nie mehr jenes Fischlein, [160]
Das er stets im Sinne hatte,
Nicht Wellamos Wogenjungfrau,
Ahtos auserwählte Tochter.

War der alte Wäinämöinen
Tiefen Hauptes, trüben Sinnes,
Schief geschoben seine Mütze,
Redet selber diese Worte:
»O der übergroßen Narrheit,
O des einsichtslosen Mannes!
Wohl war mir Verstand gegönnet, [170]
Urteil mir gewiß verliehen,
Mir ein großes Herz gegeben;
Hatte es in frühern Zeiten,
Nun in diesen schlimmen Tagen
Ist gewißlich es geschwunden
Mit dem Sinken meiner Kräfte;
Mein Verstand ist mir ermattet,
Meine Einsicht ist geflohen,
Mein Bedacht hat mich verlassen!

»Welche allzeit ich begehrte, [180]
Unablässig mir ersehnte,
Sie, Wellamos Wogenjungfrau,
Sie, des Wassers jüngste Tochter,
Mir als Freundin für das Leben,
Mir als Gattin für das Alter,
Diese fing ich mit der Angel,
Zog sie rasch in meinen Nachen,
Konnte sie jedoch nicht halten,
Nicht nach meinem Hause bringen,
Ließ sie wieder in die Fluten, [190]
In des Meeres dunkle Tiefen!«

Ging ein Stückchen dann der Straße,
Wanderte vergrämt und seufzend,
Schritt gerades Wegs nach Hause,
Redet Worte solcher Weise:

»Ehmals rief der liebe Kuckuck,
Früher er der Freuden-Kuckuck
Wie am Morgen, so am Abend,
Manchmal auch zur Mittagsstunde;
Was hat nun die schöne Kehle, [200]
Was den hellen Ruf verdorben?
Kummer brach die schöne Kehle,
Wehmut hat sie überwunden;
Höre nun nicht mehr das Rufen,
Nicht nach Untergang der Sonne,
Mir zur Freude an dem Abend,
Mir zur Herzenslust am Morgen.

»Kann fürwahr nun nicht begreifen,
Wie zu sein und wie zu leben,
Wie in dieser Welt zu weilen, [210]
Wie auf Erden hier zu wandeln;
Wär' die Mutter noch am Leben,
Wachte sie mir noch, die Alte,
Würde sie gewiß mir sagen,
Wie ich mich verhalten solle,
Um dem Kummer nicht zu weichen,
Um in Trübsinn nicht zu sinken,
Jetzt in diesen schlechten Tagen,
In des Grames bittern Nöten!«

Aus dem Grab erwacht die Mutter, [220]
Aus der Tiefe gibt sie Antwort:
»Noch am Leben ist die Mutter,
Wach noch ist die alte Mutter,
Um dir deutlich es zu sagen,
Wie du dich verhalten sollest,
Um dem Kummer nicht zu weichen,
Um in Trübsinn nicht zu sinken,
Jetzt in diesen schlechten Tagen,
In des Grames bittern Nöten:
Gehe zu des Nordens Töchtern, [230]
Findest dort weit schönre Kinder,
Doppelt lieblichere Mädchen,
Tücht'ger sind sie fünf- und sechsmal
Als Joukolas Narrendirnen,
Als des Lapplands träge Töchter.

»Dorther nimm, o Sohn, ein Weibchen
Von des Nordlands besten Jungfraun,
Das von Aussehn reich an Anmut,
Das im Wuchse schöngestaltet,
Immer rasch ist auf den Füßen [240]
Und voll Flinkheit in den Gliedern.«


Anmerkungen

Vers 17. Untamo: der Gott des Schlafes und der Träume (nicht, wie Schiefner es in seinem Register tat, mit dem gleichnamigen Bruder Kalerwos in der XXXI. Rune zu verwechseln). In seinen Träumen scheint sich die Welt zu spiegeln.

20. Wellamo: die Göttin des Wassers, Gemahlin des Wassergottes Ahto (vgl. Anmerkung zu V. 133), auch Wasseralte oder Wasserwirtin genannt. Bekleidet ist sie mit einer wasserblauen Mütze, einem zartsäumigen Rock, einem Hemd und einem Brustkleid aus Binsen und einem schäumenden Mantel. »Wellamos Jungfraun« sind ihre Töchter. Von einer von ihnen handelt das Volkslied, das dieser Rune zugrunde liegt, wie noch an mancher Stelle zu merken ist; Lönnrot identifizierte sie mit Aino.

133. Ahto (oder Ahti) ist der Gott des Wassers, der »goldne Wasserkönig«; er wird als ein alter Mann mit einem Bart aus Seegras und einem Mantel aus Schaum vorgestellt; die Ruderer beten zu ihm um ruhige See, die Fischer um einen reichen Fang. Er gilt als »Beherrscher der hundert Gruben«, als Besitzer unermeßlicher Schätze.

156. Joukola: Joukahainens Wohnsitz.

212 f. Diese Verse weisen ebenso wie VI 120 auf die Abstammung Wäinämöinens von einer irdischen Mutter hin, stehen also im Gegensatz zu der Erzählung der ersten Rune. Solche Widersprüche sind im Kalewala nicht selten; sie sind zumeist durch Lönnrots Kombination verschiedenartiger Überlieferungen und Motive verursacht.


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