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Frau Hedda blieb den ganzen Tag über in den Räumen, die ihr Mann in Schönegg bewohnt hatte. Sie saß stundenlang mit der Schwester im Wohnzimmer zusammen und ließ sich von ihr erzählen, was mit Heinrich Morener in den letzten Wochen vorgegangen war.
Die Schwester bestätigte ihr, was der Arzt schon geäußert hatte, daß der Kranke alle paar Tage, also Dutzende von Malen, diese Schlüsselszene aufgeführt hatte. – Anfangs hatte er dabei den Wäscheschrank demoliert und eine starke Milchscheibe, die vom Schlafzimmer zur Toilette führte, eingeschlagen. Die war jetzt durch eine Holztäfelung ersetzt worden. – Die Schwester meinte, daß er ähnliche Anwandlungen auch schon in dem Berliner Sanatorium gehabt haben müsse, da er mit wunden Händen nach Schönegg gekommen sei. Die Schwester und der Arzt, die ihn brachten, hätten das allerdings auf das bestimmteste bestritten und erklärt, in der Berliner Anstalt hätte man eines Morgens vor einem Rätsel gestanden, als der Kranke, dessen Zustand übrigens von diesem Tage an auffallend besser wurde, des Morgens mit zerschundenen Händen in seinem Bett gelegen habe. Gegen Mittag erhielt Frau Hedda ein Telegramm aus Berlin von ihrem Anwalt folgenden Inhalts:
»Der Verhaftete Schnitter stellt die blödsinnige Behauptung auf, die halbe Million Devisen von Heinrich Morener erhalten zu haben. Ich messe dieser sinnlosen Verteidigung eines meines Erachtens Überführten ebensowenig Bedeutung bei wie der Staatsanwalt – zumal ich feststellte, daß Ihr Gatte sich damals bereits in der Heilanstalt Südende befand. Ich hielt es jedoch für meine Pflicht, Sie davon in Kenntnis zu setzen. Fräulein Reichenbach befindet sich auf freiem Fuß, während über meinen Haftentlassungsantrag Heinz Reichenbach und Karl Morener betreffend noch nicht entschieden wurde. Ihr ergebenster Dr. Eltzbach.«
Frau Hedda antwortete ebenfalls auf telegraphischem Wege:
»Mein Mann, den ich hoffnungslos, aber bei Besinnung antraf, ist heute vormittag entschlafen. Die Behauptung Schnitters ist nicht blödsinnig, sondern entspricht der Wahrheit. Unternehmt nichts vor meiner Rückkehr. Hedda Morener.«
Schwester Angelica erzählte Frau Hedda, zu der sie schnell Vertrauen faßte, nicht nur von ihren Beobachtungen und Gesprächen, sie verriet ihr auch, daß Heinrich Morener in seinen lichten Augenblicken Aufzeichnungen gemacht habe. Ihr war es aufgefallen, daß er dann regelmäßig die Toilette aufsuchte und auffallend lange dort verweilte. Obgleich er sich auch hier nicht einschließen konnte, hielt Scheu sie regelmäßig zurück, ihm nachzugehen. Aber sie suchte den Abort ab und fand in dem Kästchen unter dem Toilettepapier ein kleines Heft, auf dem stand: »Gedanken eines Gesunden«. Das Heft war bis auf wenige Seiten vollgeschrieben – und zwar in auffallend kleiner Schrift, so daß man den Eindruck gewann, er suchte Raum zu sparen. Dies Heft lag auch jetzt nach seinem Tode auf demselben Platz. Nicht ohne Rührung nahm es Frau Hedda aus der Hand der Schwester und sagte:
»Ist es nicht furchtbar, wenn man sich vorstellt, wie der arme Mensch in seinen lichten Augenblicken hier sich verstecken mußte, um ein paar Gedanken aufzuschreiben, von denen er vermutlich nicht wollte, daß andere sie erfuhren.«
Als sie dann mit dem Heft in dem Wohnzimmer saß, es aufschlug und las, faßte sie das Entsetzen so stark, daß sie die Augen schloß und in den Sessel zurückfiel.
Schwester Angelica bemühte sich um sie und sagte:
»Ich hätte es Ihnen nicht geben sollen.«
»Wußten Sie denn, was es bedeutet?« fragte Frau Hedda. »Was er damit bezweckte?«
»Nein! ich hätte vom Standpunkt der Anstalt aus das Heft natürlich den Ärzten geben müssen. Ich habe es oft gewollt – aber ich bekam es nicht übers Herz, es ihm fortzunehmen. Ließ ich es ihm aber, so hatte ich auch kein Recht, in sein Geheimnis einzudringen.«
Frau Hedda drückte der Schwester die Hand und sagte: »Sie haben recht getan.«
»Ich lasse Sie jetzt eine Viertelstunde allein,« sagte die Schwester, »damit Sie es in Ruhe durchsehen können.«
Was für ein feiner Mensch, dachte Frau Hedda und nickte der Schwester zu.
Als die Schwester draußen war, fing Frau Hedda an zu blättern. Es war das erschütternde Dokument eines Mannes, der in seinen wenigen lichten Augenblicken alle Energie zusammenriß, um gesund zu werden. Einer, dem der Tod an der Gurgel saß, kämpfte hoffnungslos und erbittert. »Ich will nicht!« – und »Ich wehre mich« war die Quintessenz dieses Buches. »Diesmal lasse ich mich nicht wieder unterkriegen,« stand da – »und wenn ich es kommen fühle, dann klammere ich mich so fest an meine Erinnerung, daß der Versuch, mich auszulöschen und mir Dinge vorzutäuschen, die nicht sind, mißglückt. Einmal muß ich ja die Stärke aufbringen – und ich fühle, es wird diesmal sein. Wenn ich es nur merke! Aber es ist plötzlich da – und ich weiß es nicht. Diese Heimlichkeit, mit der es über mich kommt.«
Frau Hedda hatte, wie es in diesem Fall wohl natürlich war, auf den letzten Seiten begonnen. Jetzt blätterte sie zurück. Auf einer der ersten Seiten, die noch aus der Südender Anstalt stammten, stand: »Ich habe den Kampf verloren. Der Geist der toten Reichenbach war also stärker als der Wille des lebenden Morener. Das Bankhaus hat mich wie einen räudigen Hund, der nicht hineingehört, abgeschüttelt. Es ist aus!« – Ein paar Seiten weiter heißt es dann: »Ich fühle ganz deutlich, wie der Geist Reichenbachs über mich hereinbricht und mir das klare Denken verschleiert. Er will mich um den Verstand bringen. Ich wehre mich. Aber ich kämpfe gegen einen Geist und somit ins Leere. Ich treffe ihn nicht – während er mich unsichtbar umfängt und von mir Besitz ergreift. Ein ungleicher Kampf, in dem ich unterliege.« – Und acht Tage später: »Triumph! Meine Gedanken sind klar! Gegen den Geist der Reichenbachs kann ich nicht an! Aber mit dem lebenden Heinz Reichenbach treffe ich zugleich den Geist der Toten! Dich ringe ich nieder – wenn ich nur bis heute nacht bei Verstande bleibe! – Dann bist du morgen ein Toter. – Welch Glück, daß ich die Schlüssel habe. Der Geist Reichenbachs hat ein Jahr gebraucht, um mich niederzuringen und um den Verstand zu bringen. Ich brauche, um euch zu treffen, nur ein paar Stunden! – Das ist die ausgleichende Gerechtigkeit! Ihr habt mich vernichtet – nun vernichte ich euch – in einem eurer eigenen Söhne! Rache ist doch etwas Erhebendes. Auch einer, der machtlos wurde, kann sie üben. – Nur bei Verstande bleiben muß ich – bis morgen früh! – dann mag werden aus mir, was will!«
Das Datum dieser Niederschrift? – Frau Hedda suchte. Es waren immer nur die Tage angegeben – Mittwoch stand da! An welchem Tage fand der Bankdiebstahl statt? – Sie zog hastig einen kleinen Kalender aus der Handtasche und suchte. – Der 8. März war? – ein Mittwoch! – Kein Zweifel mehr. Sie blätterte um. Da stand Donnerstag früh. »Sieg!! Dreimal Sieg! Ich bin stolz auf meine Leistung! Es kann kein anderer in den Verdacht kommen als Heinz Reichenbach. Ein Reichenbach, der einen Einbruch vortäuscht und den Geldschrank plündert, schändet den Namen der Familie zurück bis ins sechste Geschlecht. Die Reichenbachs sind tot! Mord! Morener ist der Täter. Er lebt! Er hat in Notwehr gehandelt. Habt ihr mir nicht den Verstand tropfenweise aus dem Gehirn gesaugt? Ihr dachtet, ich würde mit dem Revolver gegen euch kämpfen und Löcher in die Luft schießen. Ihr habt mich unterschätzt. Ich habe eure Achillesferse gefunden. H. R. war sie gezeichnet. An dem Leichnam könnt ihr euch laben. Ich habe mich mit eurem Tode gesund gemacht.«
Frau Hedda zitterten die Hände – sie blätterte – da waren erst ein paar Seiten so eng beschrieben, daß sie nicht zu entziffern waren. Dann folgten Zeichnungen: Lemuren, die ihr Opfer umkreisten. Das Opfer, das wohl er sein sollte, wehrte sich nicht. Es lachte höhnisch. Der Vorgang spielte sich in der Luft ab. Unten auf der Erde aber lag ein Mann in Ketten, der im Ausdruck den Lemuren glich, aber jünger war als sie. Das nächste Bild war diesem ähnlich. Aber die Lemuren sahen den Mann am Boden, waren entsetzt und wandten sich von ihrem Opfer ab. Darunter stand: »So siegt die Kraft des Lebens über den Geist der Toten.« – Dann wurde es verworren.
Frau Hedda sprang auf und rief die Schwester.
»Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, weil Sie meinen Mann mit so großer Rücksicht pflegten,« sagte sie, »zu viel größerem Dank aber, weil Sie ihn« – sie wies auf das Heft – »gewähren ließen. Sie haben ihm damit die letzte Zeit seines Lebens erleichtert, zugleich aber vier anderen Menschen das Leben gerettet.«
»Wie soll ich das verstehen?« fragte die Schwester.
»Kommen Sie mit mir! Heute noch! Und Sie werden das größte Glück erleben, das ein guter Mensch erleben kann! Daß durch ihn vier andere Menschen frei und glücklich werden.«
»Das klingt ja wie ein Märchen.«
»Und ist Wahrheit! – Schwester Angelica! es mag Sie sonderbar anmuten, mich statt über den Tod meines Mannes in Tränen aufgelöst, in einem Zustand der Erlösung zu sehen.«
»Sie dürfen es – denn der Tod war für ihn eine Erlösung.«
»Nicht deshalb, Schwester! Wenn ich die Beschleunigung der Katastrophe verschuldet habe – ich bereue es nicht: – Aber nun packen Sie Ihre Sachen! Wir können gar nicht schnell genug zurück.«
Die Schwester wies auf das Schlafzimmer, in dem der Tote lag.
»Wir werden in zwei Tagen zurück sein. Wir und die anderen, die durch ihn erlöst wurden. Denn es ist kein Zufall, Schwester, daß er diese Aufzeichnungen machte – so wenig, wie Ihre Güte, ihn gewähren zu lassen, ein Zufall ist.«
»Was ist es denn?«
»Schicksal, Schwester!« erwiderte Frau Hedda – und dachte dabei an Heinz Reichenbach, der lächelnd zu ihr aufsah und sagte: Glaubst du mir nun?