Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am nächsten Abend aber fand sich auf Schloß Reichenbach eine Gesellschaft von sechs Personen ein, die nach Geburt und Weltanschauung, sowie nach den sozialen Verhältnissen, in denen sie lebten, ganz und gar nicht zusammengehörten.
Schloß Reichenbach lag in einem alten Park, der zu dem gleichnamigen Rittergut gehörte. Wenn man von Berlin aus durch Brandenburg fuhr, etwa einen Kilometer hinter dem Zuchthaus, bog eine Landstraße links ab, die zu beiden Seiten von hohen, Jahrhunderte alten Bäumen bewachsen war. Nach ein paar hundert Metern begann links vom Fahrweg eine mannshohe Mauer zu laufen, die Bäume zur Rechten hörten auf, der Weg führte immer dichter zur Havel heran. Schließlich befand man sich vor einem hohen, zu beiden Seiten von dichtem Wald umgrenzten Eisentor, das über die ganze Breite der Landstraße reichte und den Weg versperrte, so daß man unwillkürlich an die schweren Tore des Brandenburger Zuchthauses zurückdachte, an denen man vor kaum zehn Minuten mit beklommenem Herzen vorübergefahren war.
Wenn das Tor sich aber öffnete, sah man märchenhaft – bei einem Sonnenuntergang wie heute abend – tief im Grünen Schloß Reichenbach liegen. Man glaubte sich um Jahrhunderte zurückversetzt. Die Zeit schien stillzustehen. Von dem Hasten und dem Lärm da draußen spürte man nichts. Und die beiden Autos, die jetzt über den Rasen glitten, wirkten in der Stille dieser in das tiefe Rot der untergehenden Sonne getauchten Landschaft wie Gespenster.
In dem ersten großen und geschlossenen Auto, das Heinrich Morener gehörte, saß die verwitwete Frau Kommerzienrat Reichenbach mit ihrer Tochter. Morener hatte sie in seinem Wagen aus der Stadt holen lassen. Das zweite offene Auto war der Sportwagen Karl Moreners. Er saß am Steuer, neben ihm die Baroneß von Nedlitz, eine große, schlanke, rassige Frau, die kein Auge von dem etwa fünfzig Meter vor ihnen fahrenden Auto ließ.
»Daß Sie sich dazu hergeben, hätte ich nicht gedacht,« sagte die Baronesse – und es klang vorwurfsvoll.
»Warten Sie ab,« erwiderte Karl Morener. »Wenn mein Onkel mit Ihnen gesprochen hat, geben vielleicht auch Sie sich dazu her.« – Er wiederholte ganz bewußt ihre Worte und betonte sie.
»Möglich! Aber bei einer Frau ist das ganz etwas anderes.«
»Finden Sie?«
»Ich als Frau habe keine große Auswahl. Ich bin an Luxus gewöhnt und kann mich nur durch eine Ehe in ein standesgemäßes Leben retten. Ein Mann wie Sie aber hat tausend Möglichkeiten.« –
»Sie haben sich also so halb schon mit dem Gedanken abgefunden?«
»Ja.«
»Ich warne Sie, Hedda!«
»Keine Drohung, bitte!«
»Wenn Sie sich an ihn wegwerfen.«
»Wie geschmacklos! – so eine Redensart! – Oder wollen Sie damit etwa sagen, daß dann auch Sie entschlossen sind, sich wegzuwerfen?«
»Dann heirate ich Hanni Reichenbach.«
Das geschlossene Auto hielt vor der Einfahrt des Schlosses. Hanni hielt die Hand ihrer Mutter.
»Nimm es nicht so schwer, Mama!« sagte sie zärtlich.
»Zum erstenmal nach vier Jahren. Ich habe nicht geglaubt, daß ich das Schloß jemals wieder betreten werde.«
»Du konntest es Herrn Morener nicht abschlagen.«
»Er hätte es mir nicht zumuten dürfen.«
»Er fühlt ja nicht wie wir. Er glaubte, dir etwas Gutes zu tun.«
»Etwas Gutes,« wiederholte Frau Reichenbach und sah zur Treppe des Schlosses empor, die Heinrich Morener soeben herunterstieg, um seine Gäste zu empfangen: »Als ob von da etwas Gutes kommen könnte!«
»Er war doch nicht schuld an dem Zusammenbruch.«
»Du verteidigst ihn noch?«
»Der oder ein anderer. Wenigstens wurde unser guter Name gerettet.«
»Du hast recht, Kind! Und ich danke dir, daß du mich gerade in dieser Stunde daran erinnerst. Ich werde den Abend nun leichter überstehen.« –
Ein paar Sekunden später – und Morener begrüßte seine Gäste.
»Ich bin sehr glücklich,« sagte er zu Frau Reichenbach, als sie ihm die Hand reichte – »und ich hoffe, es hat Sie nicht zu viel Überwindung gekostet.«
»Das erstemal ist es ja schwer,« erwiderte sie und lächelte – wenn auch gezwungen.
»Aber nur das erstemal!« gab er zur Antwort. »Sie dürfen nun nicht wieder Jahre verstreichen lassen.«
»Sie sind sehr freundlich, und ich muß Ihnen danken.«
»Wenn einer zu danken hat, bin ich es.«
»Wir sind uns gegenseitig nützlich gewesen.«
»Ich konnte Ihnen helfen, weil man mich die Kunst, Geld zu verdienen, von der Wiege an gelehrt hatte. Aber in der sehr viel größeren Kunst, die kaufmännische Würde in jeder Lebenslage zu wahren, ist mir Ihr Gatte Vorbild gewesen. Ich eifre ihm nach – freilich ohne Aussicht, ihn je zu erreichen.«
»Sie machen es mir und meinem Kinde leicht, uns bei Ihnen wohl zu fühlen,« erwiderte Frau Reichenbach. Ein fünfter Gast erschien. Einer, der auch nicht gern gekommen war. Heinz Reichenbach, Frau Reichenbachs Neffe. Er hatte die Bahn bis Brandenburg benutzt und war dann zu Fuß gegangen. Denn das Gehalt, das er in dem Bankhaus Reichenbach bezog, reichte gerade für das Leben eines jungen Mannes aus gutem Hause aus, der leidenschaftlich altes Porzellan sammelte, den Sport liebte und seinem Namen ein gewisses äußeres Auftreten schuldig war. Man sah ihm, der wie Karl Morener so um die fünfundzwanzig herum war, die gute Herkunft an. Das schmale, feine Gesicht, die ungezwungene Art, sich zu bewegen, der natürliche, unerlernbare Takt, die angeborene Höflichkeit, die ganz unbewußt differenzierte und distanzierte – alles das deutete auf die Kultur von Generationen. Selbst jetzt, wo er seit vier Jahren zum ersten Male wieder die ehemalige Villa seines Onkels betrat, um dem neuen Besitzer den ersten Besuch zu machen, überlegte er nicht einen Augenblick lang, wie er sich zu benehmen hatte. Diese Sicherheit verblüffte Heinrich Morener. Der hatte sich, wie für Frau Reichenbach, so auch für ihn ein paar nette Worte zurechtgelegt, mit denen er dem, seinem Empfinden nach etwas deklassierten jungen Mann über das Peinliche der Situation hinweghelfen wollte. Er hielt daher das Benehmen Reichenbachs, der so sicher auftrat, als wenn er täglich hier ein und aus ginge, für bewußt und überheblich und darauf gerichtet, ihn zu kränken. Es war daher kein Wunder, daß er selber begann, sich unsicher zu fühlen – um so mehr, als jetzt auch sein Neffe Karl und die Baroneß Nedlitz erschienen, denen gegenüber er sich auch nicht gerade in starker Position befand.
Als Karl Morener seinem Onkel die Baronin vorstellte, die, im Gegensatz zu den vornehm aber einfach gekleideten Reichenbachschen Damen, in ganz großer Abendtoilette war, sagte die:
»Ich hätte Sie gern erst bei mir gesehen, Herr Morener! Aber die Welt steht auf dem Kopf – und da braucht man es wohl auch mit den Formen nicht so genau zu nehmen.«
Ein faux pas! schoß es Morener durch den Kopf. Eine verfehlte Börsenspekulation konnte ihn nicht schwerer treffen. Etwas gezwungen klang es, als er jetzt sagte:
»Mein Neffe glaubte, es auf Grund Ihrer sportlichen Kameradschaft wagen zu dürfen.«
»Er trainiert nicht genug. Er trinkt und raucht – vor allem aber, er arbeitet zuviel. Wenn wir im Doppel um die Meisterschaft von Berlin Chance haben sollen, so müssen Sie ihn für die nächsten vier Wochen beurlauben.«
»Die Baroneß hat recht,« erwiderte Karl, »unser Prestige steht auf dem Spiel! Auch das deine, Onkel! Denn die Paarung Baroneß Nedlitz–Morener interessiert sportlich und gesellschaftlich gleich stark!«
»Und wer sind Ihre gefährlichsten Gegner?«
Hedda Nedlitz wies auf Hanni und Heinz Reichenbach und sagte:
»Ein sonderbares Zusammentreffen.«
»Wie? – Sie, Fräulein Hanni . . . und Sie . . . Herr Reichenbach? Ja . . . haben Sie denn . . . die Zeit und die . . . Mittel?«
Heinz Reichenbach fuhr auf und wollte erwidern. Aber seine Tante, die es ahnte, kam ihm zuvor und sagte:
»Wir sind Ehrenmitglieder des Klubs, den mein Mann vor vierzig Jahren mitbegründet hat!« – Morener, der fühlte, wie taktlos seine Frage war, zuckte zusammen – und Frau Reichenbach fuhr fort: »Sonst könnte es sich meine Tochter natürlich nicht erlauben – und mein Neffe wohl auch nicht.«
»Ich wollte damit nicht etwa sagen . . . im Gegenteil, es wäre mir eine Freude – und eine selbstverständliche Pflicht, wenn Sie etwa – aus Gründen materieller Art –«
»Ich sagte ja schon, daß wir es nicht zu bezahlen brauchen.«
»Mir liegt das Prestige des Namens Reichenbach genau so am Herzen wie das eigene.«
»Unser Name wird durch einen Sieg oder eine Niederlage im Tennisturnier keine Veränderung erfahren,« erwiderte Frau Reichenbach. Und wenn sie es auch nicht aussprach, so hieß das doch: Ihr Prestige hingegen . . .
Das hörte auch Heinrich Morener heraus und sagte:
»Eben deshalb bitte ich, daß mein Neffe mit Ihrer Tochter spielt. Mir liegt an der Verbindung der Namen Reichenbach–Morener . . . auch außerhalb des Geschäftlichen.«
»Ihr Neffe und ich sind aufeinander eingespielt,« widersprach die Baroneß. Aber Heinrich Morener erwiderte:
»Das Paar Reichenbach vermutlich auch.«
»Seit zehn Jahren,« bestätigte Hanni.
»Also sind die Chancen ausgeglichen.«
»Ich möchte aber nicht gegen meinen Vetter spielen.«
»Wenn der Herr Morener es wünscht,« sagte Frau Reichenbach – »und auf diese Äußerlichkeit Wert legt.«
Hanni schwieg. Morener trat an sie heran und sagte:
»Damit Sie sich an meinen Neffen gewöhnen, gnädiges Fräulein, wird er Sie jetzt zu Tische führen – und Sie, Herr Reichenbach, führen die Baronin.« Er selbst reichte der Frau Kommerzienrat den Arm und sagte: »Bitte!«
Das Gespräch um den runden Tisch herum drehte sich während der ganzen Mahlzeit um die üblichen Dinge: Sport – Mode – Reise und Theater. Nach dem Essen aber . . .