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Am Tage nach der Aussprache auf Schloß Reichenbach war Karl Morener schon frühmorgens nach dem Sanatorium gefahren und hatte sich bei dem leitenden Arzt melden lassen.
»Ich habe Sie bisher nicht überlaufen, Herr Professor, und mich darauf beschränkt, Ihre monatlichen Rechnungen von der Bank begleichen zu lassen. Endlich muß ich aber einmal hören, wie es eigentlich um meinen Onkel steht.«
»Ein Arzt ist kein Prophet,« erwiderte der Professor. »Immerhin glaube ich, eine Besserung in dem Befinden des Patienten feststellen zu können. Die Vorbedingung für seine geistige Gesundung war, den erschöpften Körper zu kräftigen. Das ist uns gelungen – und zwar in so überraschender Weise, daß er jetzt drei Stunden am Tage marschiert, ohne irgendein Zeichen der Ermüdung zu zeigen. Er würde heute schon auch das doppelte Pensum hinter sich bringen.«
»Verehrter Herr Professor! So zeitgemäß es vielleicht wäre, aber wir haben nicht die Absicht, meinen Onkel gegen Nurmi starten zu lassen. Uns liegt daran, ihn geistig dahin zu bringen, daß er die Leitung der Bank wieder übernehmen kann.«
»Was das betrifft, so kann ich Ihnen einen bestimmten Zeitpunkt natürlich nicht nennen.«
»Einen ungefähren aber?«
»Ich sagte schon einmal . . .«
»Ich weiß: Sie sind kein Prophet. Aber ob Sie mit Wochen, Monaten oder mit Jahren rechnen – das können Sie doch wohl sagen.«
»Es kommt darauf an, daß ich verantworten kann, was ich sage.«
»Mir kommt es im Augenblick mehr darauf an, daß Sie mir einen bestimmten, nicht zu fernen Termin nennen, an dem mein Onkel aller Voraussicht nach als geheilt von Ihnen entlassen werden wird.«
»Krankheiten dieser Art dauern eben . . .«
»Ich weiß. Aber da es sich Ihrer Ansicht nach um keinen unheilbaren Fall handelt, so könnten Sie doch zum Beispiel sagen: in zwei Monaten.«
»Wie kommen Sie gerade auf zwei Monate? – Es kann ebensogut drei dauern.«
»Also einigen wir uns auf vier! Bitte, geben Sie mir das schriftlich!«
»Ich denke nicht daran. Solange Ihr Onkel in der krankhaften Vorstellung lebt, ein anderer zu sein . . .«
»Ich brauche aber eine derartige Erklärung.«
»Für die Steuerbehörde?«
Karl stutzte einen Augenblick lang und sagte dann:
»Ja!«
»Was die Leute nicht alles verlangen! – Und wenn ich Ihnen die Erklärung nicht abgebe?«
»Dann – ja, dann . . .« Er wußte nicht, was er sagen sollte. Aber der Professor kam ihm zu Hilfe und sagte:
»Ich verstehe. Dann müßten Sie die Steuererklärung für ihn abgeben – und die Verantwortung möchten Sie nicht gern auf sich nehmen.«
»Erraten, Professor! Es ist also nur eine Formsache der Behörde gegenüber – für die Sie niemals jemand zur Verantwortung ziehen wird.«
»Da ich keine Gefahr für meinen ärztlichen Ruf darin sehe, so will ich Ihnen den Gefallen tun. Sie müssen mir aber versprechen, keinen anderen Gebrauch davon zu machen.«
»Meiner Tante, Frau Morener, muß ich es natürlich zeigen.«
»Ausgeschlossen! Die besteht nachher auf dem Schein und holt mir den Mann von hier fort – auch wenn es noch nicht so weit ist.«
»Das werde ich verhindern. – Im übrigen ist Frau Morener durch die Geburt ihres Sohnes mit den Nerven derart herunter, daß man die Pflicht hätte, ihr diese Hoffnung zu machen – auch wenn sie nicht bestände.«
»Wenn sie so nervös ist, so sollte man sie auf ein paar Wochen hier unterbringen.«
»Kommt nicht in Frage, Herr Professor! Frau Morener gehört zu den Menschen, die in einem Sanatorium erst richtig krank werden.«
»Ich bitt' Sie, das sind Märchen! So etwas gibt es gar nicht.«
»Auf jeden Fall stellen Sie bitte das ärztliche Zeugnis aus.«
Und der Professor bescheinigte, daß nach der über Erwarten schnell erfolgten Wiederkehr der körperlichen Kräfte die völlige Genesung des Patienten in drei Monaten zu erwarten sei. –
Mit diesem Schein stürzte Karl Morener zu Frau Hedda. – Die las ihn und verfiel sofort in tiefes Nachdenken. – Um mich innerlich von der Last dieses Betruges frei zu machen, muß ich beichten, sagte sie sich. Aber nicht meinem Priester – sondern meinem Mann, dem allein ich dafür verantwortlich bin. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder er verzeiht. Dann bleibe ich bei ihm durch seine Gnade! Ein erniedrigendes Gefühl – das noch verstärkt wird durch den Schatten des Geschehens, der bis zum letzten Tag zwischen uns stehen wird. Also ist es besser, ich gehe. – Oder er weist mir die Tür. Soll ich es da nicht vorziehen, freiwillig zu gehen? Freiwillig, wiederholte sie und lächelte über sich selbst. Als ob das noch freier Wille war! Gab es den überhaupt? Als sie Karl Morener verfiel, geschah es gegen ihren Willen – soweit Verstand und Vernunft in Frage kamen. – Je länger sie nachdachte, um so deutlicher wurde ihr: sie mußte fort! Auf alle Fälle! – Aber erst, wenn ihr Gewissen frei war! Und das wurde es im selben Augenblick, in dem ihr Mann es erfuhr – und sie die Folgen auf sich nahm. – Der Weg ins Freie war es, wenn sie Karl Morener folgte – mehr nicht. Er war nicht der Mann, der sie glücklich machen konnte. Ihre Kräfte hatten versagt, als es noch Zeit gewesen war, ihn abzuweisen. Schon damals wußte sie, daß sie sich damit unlöslich an ihn kettete. War das auch nicht ihre Absicht gewesen, so hatte sie es durch ihr Dulden und ihre Schwäche doch mitverschuldet. Also war sie ihm gegenüber verpflichtet. Und sie war nicht die Frau, die sich der Verantwortung entzog.
Karl störte sie nicht in ihren Gedanken, sondern wartete ab. Und als sie jetzt sagte:
»Also in drei Monaten – dann ist es jetzt Zeit, daß wir an unsere Flucht denken.«
»Ich habe seit gestern, als du mir davon sprachst, an nichts anderes mehr gedacht,« erwiderte Karl. »Aber warum wollen wir drei Monate lang warten? Das Leben ist kurz! Und es ist schade um jeden Tag, der uns verloren geht.«
Hedda empfand derart konventionellen Phrasen gegenüber ein Unbehagen, daß es ihr schwer fiel, sich zu beherrschen.
»Nicht einen Tag früher!« sagte sie kalt. »Er muß wissen, ich fliehe seinetwegen.« Und da sie glaubte, noch nicht deutlich genug gewesen zu sein, so fügte sie hinzu: »Nicht etwa, weil ich seiner überdrüssig wäre, sondern als freiwilliges Opfer, das ich in meinem Schuldbewußtsein ihm bringe! Nicht aber aus Leidenschaft zu dir!«
Karl dachte nicht viel über den Sinn ihrer Worte nach. Die Tatsache, daß sie mit ihm fliehen wollte, sprach für ihn eine so beredte Sprache, daß ihre Reflexionen daneben jede Bedeutung verloren. Eine Frau, die ihren Mann, ihr Kind, ihr Schloß im Stiche ließ – ihren guten Ruf aufs Spiel setzte und einem Manne wie ihm, der nichts besaß, in eine ungewisse Zukunft folgte – ja, Karl Morener sprach nicht nur, er dachte auch im Romanstil! – eine solche Frau war von einer großen Liebe besessen – mochte sie, um ihr Gewissen zu beruhigen, auch noch soviel Einwände machen und Bedenken äußern.
Karl besaß kein Vermögen. Je mehr er verdiente, um so weniger Schulden brauchte er zu machen. Das war seine Auffassung – über die hinaus es für ihn keine ökonomischen Grundsätze gab. Nun aber, wo er im Begriff stand, mit Frau Hedda auf und davon zu gehen – wohin wußte er selbst noch nicht –, nun mußte er zum mindesten für ein Jahr den finanziellen Boden schaffen. Es schien ihm selbstverständlich, daß Frau Hedda an seiner Seite nicht auf den Luxus einer Frau von Welt – diese Plattheit war ein Ausdruck, den er gern gebrauchte – zu verzichten brauchte. Er wollte auf Reisen gern auf seinen Diener verzichten, eine Zofe aber war das Mindeste, was sie zu ihrer Bedienung gebrauchte. Er errechnete zehntausend Mark für den Monat. – Er mußte sich also auf irgendeine Weise hundertzwanzigtausend Mark verschaffen. Ein Darlehen bei Bekannten aufzunehmen, war unmöglich, da mit Recht jeder ihn gefragt hätte, weshalb ihm seine Bank diese verhältnismäßig geringe Summe nicht vorstreckte. Sonst hemmungslos, brachte er es doch nicht über sich, sich an Heinz Reichenbach zu wenden – obschon er wußte, daß der es ihm nicht abschlagen würde. Aber es war mehr das feindliche Gefühl dem vermeintlichen Nebenbuhler gegenüber als Takt, was ihn abhielt, sich die Flucht von ihm bezahlen zu lassen. So blieb nur ein Weg zur Geldbeschaffung und der war, zu spekulieren – gewagt zu spekulieren, denn eine derartige Summe verdiente man schwer bei einem normalen Geschäft in so kurzer Zeit. Briefe, die er von einem Freunde aus Rom zufällig erhielt, nahm er als gutes Zeichen. Man schrieb ihm, daß geheimen Nachrichten aus Albanien zufolge der Ausbruch des Krieges mit Jugoslawien nur eine Frage von Wochen sei. Daraufhin wagte er ein ungewöhnlich hohes Termingeschäft à la baisse in albanischen und jugoslawischen Werten. Ja, er erhöhte die Summe noch, als auf seine Rückfrage hin der Freund die Quelle seiner Informationen nannte. Und tatsächlich wußten die Blätter schon nach Verlauf weniger Wochen von ernsten Konflikten zwischen den beiden Staaten zu berichten, hinter denen als Drahtzieher angeblich Italien stand. Die Kurse fielen – die Entwicklung ging den Weg, den Karl sich wünschte.
Mit um so größerem Eifer bereitete er in aller Heimlichkeit die Reise vor. Ihm lag daran, so weit wie möglich der Reichweite Heinrich Moreners entrückt zu sein, andererseits aber doch die Fühlung mit den wenigen Menschen nicht zu verlieren, mit deren Hilfe er sich irgendwo eine neue Existenz schaffen konnte. Er rechnete dabei weniger mit seinem kaufmännischen und banktechnischen Können, das er selbst nicht hoch bewertete, als mit seinen sportlichen Fähigkeiten. Im Golf und Tennis war Karl zwar nicht internationale, so doch gute Mittelklasse, innerhalb deren er sich bei einigem Glück schon bis zu den Spitzen durchgekämpft hatte. Sport schaffte gesellschaftliche Beziehungen – diese wiederum verhalfen zu geschäftlichen Möglichkeiten. Also war Rio, wo Heinz Reichenbach bereits Verbindungen hatte, die auch er sich dienstbar machen konnte, der gegebene Ort, um sich eine neue Existenz zu gründen.
Frau Hedda kam es mit jedem Tage, der die Genesung ihres Mannes und damit ihre Flucht näher brachte, deutlicher zum Bewußtsein, daß sie sich von ihrem Knaben, den sie auf den Namen Leonard hatte taufen lassen, nicht werde trennen können. Zwar rüstete auch sie sich im stillen für die Reise – aber sie merkte bald: weniger als die äußeren Vorbereitungen, war es nötig, sich innerlich einzustellen. Bald kam sie auf den Gedanken, das Kind mitzunehmen, dann wieder überlegte sie, ob sie nicht besser daran täte, ohne Karl zu reisen – nicht der Verantwortung wegen – der mußte selbst wissen, was er tat – vielmehr, um den Leuten die Hauptfreude an dem unvermeidlichen Skandal zu nehmen und ihren guten Ruf zu retten. – Aber gleich darauf sagte sie sich wieder: was gehen mich die Leute an? Mein Mann, und nur auf ihn nehme ich Rücksicht, wird schneller darüber hinwegkommen, wenn er bei seiner Rückkehr eine reine Tafel vorfindet. Diese Unschlüssigkeit, die sie bisher nie an sich beobachtet und bei anderen stets verurteilt hatte, machte sie ängstlich. Sollten meine Nerven nicht durchhalten? fragte sie sich. Aber sie war so durchdrungen davon, daß sie den Weg, den sie einmal beschritten hatte, folgerichtig zu Ende gehen müsse, daß sie alle Willenskraft zusammennahm, um nicht schwach zu werden.
Karl, der sich bis dahin wenig um seinen Onkel gekümmert hatte, lag dem leitenden Arzt des Sanatoriums jetzt dauernd damit in den Ohren, daß man diese oder jene Autorität hinzuziehen müsse, um den Heilungsprozeß zu beschleunigen. Die Versicherung des Professors, daß Zeit und Ruhe und vielleicht noch gute Luft die einzigen Mittel zur Gesundung Heinrich Moreners seien, beantwortete Karl Morener mit der Frage:
»Dann sind also auch Sie überflüssig?«
»Absolut genommen: ja!« erwiderte der Arzt. »Wenn – schon wir durch unsere Beobachtungen relativ von Nutzen sind. Wenn Sie aber glauben, daß Ihr Onkel auf Schloß Reichenbach dieselbe Ruhe, Luft und Pflege hat wie hier, so steht dem nichts im Wege, daß Sie ihn von hier fortnehmen.«
Karl stürzte beglückt mit der Botschaft zu Frau Hedda und hoffte, daß sie begeistert einstimmen würde. Er vergaß in seiner ersten Freude, daß sein Termingeschäft erst in drei Wochen fällig war. Aber die Aussichten waren dank der beständig wachsenden Kriegsgefahr auf dem Balkan so günstig, daß er, wenn heute der Stichtag gewesen wäre, bereits weit mehr als die errechnete Summe verdient hätte. So kam es, daß er über die finanzielle Seite der Flucht, die er für erledigt hielt, nicht mehr nachdachte.
Aber Frau Hedda dachte gar nicht daran, ihren Mann auch nur einen Tag früher, als der leitende Arzt es für richtig hielt, aus dem Sanatorium zu nehmen.
»Er muß geistig so klar sein wie an dem Tage, an dem er um meine Hand anhielt!« erklärte sie dem enttäuschten Karl. »Denn nur dann ist er imstande, die Zusammenhänge zu begreifen, die schuld sind, daß ich ihm so weh tun mußte.«
Karls Widerstand war so heftig und die Leidenschaft, mit der er auf seiner Bitte bestand, so groß, daß sie zu einer Lüge griff, um ihn zu beruhigen und zu überzeugen. »Nimm an, er kommt vor der Zeit zurück, ist aber noch matt und so angegriffen, daß er in seiner Schwäche und Freude des Wiedersehens dir und mir verzeiht – was dann?«
»Dann werde ich . . .« brauste Karl auf. Aber sie fiel ihm ins Wort und sagte:
»Nein, ich werde! Denn ich bin auch noch da! Und zwar werde ich diesem noch kranken Manne dann nicht den Schmerz und die Schmach antun, mit seinem Neffen auf und davon zu gehen.«
»Er hat schuld an allem! Warum mußte er damals . . .«
»Wir sind alle schuld. Wer mehr, wer weniger, darüber wollen wir uns nicht streiten. Aber wir sind gesund! Er nicht! Willst du dir diesen Vorteil etwa zunutze machen? Ich tue es jedenfalls nicht! Nur dem gesunden Heinrich Morener gegenüber werde ich meinen Willen durchsetzen!«