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Reichenbach hatte sich nicht verteidigt, sondern darauf beschränkt, nachzuweisen, daß die Angeklagten den Einbruch in die Bank unmöglich begangen haben konnten. Er hatte sich damit in Widerspruch mit seinem Verteidiger gesetzt, während der Staatsanwalt erwidert hatte: »Der Angeklagte spielt den armen Kranken. Indem er die Leute, die zugeben, ihm sein Auto, seine Brieftasche und Perle gestohlen zu haben, leidenschaftlich in Schutz nimmt, marschiert er mit der ihm eigenen Gerissenheit auf den § 51.«
Da sein Verteidiger Miene machte, diese Anregung aufzunehmen, erklärte Reichenbach, daß er auf weitere Fragen nicht mehr antworten werde, da er lieber unschuldig ein paar Monate im Gefängnis, als gesund im Irrenhaus sitzen wolle. Das hatte zur Folge, daß dem Staatsanwalt tatsächlich Bedenken über den Geisteszustand des Angeklagten kamen, so daß er den Antrag stellte, die Verhandlung zwecks Untersuchung des Angeklagten zu vertagen. Reichenbach widersprach leidenschaftlich, obgleich sein Anwalt ihm zuflüsterte:
»Une grande chance!«
Nur der Umstand, daß Reichenbach seit einem Jahrzehnt mit einem der bekanntesten Nervenärzte befreundet war, bewahrte ihn davor, daß er in die Gefangenenabteilung der Charité überführt wurde. Denn der Psychiater erklärte, daß Reichenbach vollkommen gesund und seiner Ansicht nach – unschuldig sei. Das trug ihm, da es über die Grenzen des Gutachtens hinausging, eine Rüge ein, der eine Ordnungsstrafe folgte, als er auf den Vorwurf des Vorsitzenden:
»Wie können Sie sich ein derartiges Urteil anmaßen, wo Sie der Verhandlung gar nicht beigewohnt haben?« erwiderte:
»Gerade darum. Denn dadurch habe ich mir mein klares Urteil bewahrt, das durch die Beweisaufnahme vielleicht getrübt worden wäre.«
»Ein netter Sachverständiger!« rief der Staatsanwalt, und bald darauf wurde die Beweisaufnahme geschlossen und das Urteil gefällt. –
Reichenbach war keine robuste Natur und hatte daher schon in der Untersuchungshaft außerordentlich unter den veränderten Lebensverhältnissen gelitten. Sehr viel leichter fand er sich mit der Vorstellung ab, was die Leute sagen und wie sein Ruf und seine Stellung unter diesem unerhörten Verdacht leiden würden. Er war Fatalist und hatte das Gefühl, daß ein so ungewöhnlicher Vorgang mit all seinen Begleitumständen unmöglich einem Zufall zuzuschreiben sei. In diesem Gedanken wurde er dadurch bestärkt, daß jeder seiner verstandesgemäßen Versuche, seine Unschuld nachzuweisen, die gegenteilige Wirkung übte. Einen inneren Kampf mit sich führte er eigentlich nur, als er erkannte, daß die Verurteilung der Angeklagten von der Beantwortung seiner beiden Fragen abhing. Aber auch da wußte er, daß er, wenn er die Wahrheit sagte, damit weder die Angeklagten noch sich retten, wahrscheinlich aber Frau Hedda mithineinziehen würde. Also hatte er keine Bedenken und schwieg.
Als er sich im Augenblick seiner Verurteilung aber vorstellte, daß man ihm nun seine Kleidung nehmen, in Zuchthaustracht stecken und auf ein Jahr in eine Zelle schließen würde, war ihm zumute, als wenn er plötzlich aufhörte, Heinz Reichenbach zu sein. Und als gar Gregor ihm zuflüsterte:
»Hab dir nich! Ein Jahr det reißt de schnell runter« – da kam ihm zum Bewußtsein, daß er von diesem Augenblick an nichts Besseres war als dieser Zuchthäusler.
Der verwöhnte Sohn aus reichem Hause, dem seine ganze Jugend hindurch der Kampf ums Dasein nicht mehr als ein Schlagwort der arbeitenden Klasse gewesen war, für den der Posten in der Bank des Onkels etwa dieselbe Bedeutung gehabt hatte wie für den reichen Landadel der Dienst in einem Garde-Kavallerie-Regiment, der bei dem Zusammenbruch der Familie Reichenbach einfach resigniert und nicht erkannt hatte, daß von nun an auch für ihn leben – kämpfen hieß – dieser plötzlich aus seinem chinesischen Zauberland von Kuanyins und Lohans gerissene und in eine kalte Zuchthauszelle versetzte Heinz Reichenbach, der sein Leben lang Fatalist gewesen war, begriff nun plötzlich, daß es in dieser Welt der Wichte nicht anging, mit gefalteten Händen abzuwarten, wie das Schicksal über einen verfügt hat. Zu spät erkannte er, daß Frau Hedda recht behalten hatte, die sich über jede Erscheinungsform des Lebens Rechenschaft gab und verstandesgemäß Stellung dazu nahm.
Mit dieser Erkenntnis allein war nichts getan. Man mußte auch die Kraft haben, sich umzustellen und zu handeln. Zu beidem war Heinz Reichenbach außerstande. Seinem Verteidiger warf er vor, den Prozeß durch die Hypothese seiner Verbindung mit den Verbrechern verfahren zu haben. Dadurch habe die Kriminalpolizei von der Verfolgung einer anderen Spur Abstand genommen. Er lehnte es ab, den Verteidiger zu sehen, und hatte vor seiner Überführung in das Zuchthaus nur eine Begegnung geschäftlicher Natur mit Karl Morener und Direktor Urbach. Beide vermieden verabredungsgemäß über persönliche Dinge mit ihm zu sprechen, weil sie das Gefühl hatten, daß jeder Ausdruck der Teilnahme und jeder Versuch, zu trösten, in dieser verzweifelten Lage lächerlich wirkte. Reichenbach fühlte das und war ihnen dankbar. Direktor Urbach sagte beim Abschiednehmen nur:
»Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß kein Mensch, der Sie kennt, an Ihre Schuld glaubt. Wir werden alles tun, um den Fall zu klären.«
Reichenbach dankte durch einen Händedruck. – Während sich Direktor Urbach mit einer nebensächlichen Frage an den Wächter wandte, drückte Karl heimlich Reichenbach etwas in die Hand und sagte:
»Von Frau Hedda.«
Dann nahmen sie Abschied und gingen. Als Heinz Reichenbach allein war, sah er sich an, was Karl Morener ihm gegeben hatte. Es war ein Briefumschlag, in dem ein kleines Fläschchen und ein Zettel mit folgenden Zeilen lag, die von Heddas Hand herrührten:
»Falls ich Ihnen gleichgültig bin, so befreien Sie sich durch den Inhalt dieses Fläschchens aus Ihrer trostlosen Lage. Andernfalls harren Sie aus, bis ich Sie rehabilitiert habe.«
Heinz Reichenbach fühlte in diesem Augenblick, daß er nicht allein war. Sehnsüchtig hatte er sich für den Fall seiner Verurteilung so ein Fläschchen Morphium gewünscht – und im stillen gehofft, daß Frau Hedda Mittel und Wege finden würde, um ihn auf diese Weise zu erlösen. – Nun war sein Wunsch erfüllt. Aber in einer Form, die jeden Gedanken, sich durch freiwilligen Tod der Qual und Schande zu entziehen, ausschloß.
Wenn die Zahl der Zuchthäuser in Preußen auch nicht groß ist, so war es doch ein mißlicher Zufall, daß Heinz Reichenbach in das Zuchthaus zu Brandenburg überführt wurde. Einmal des benachbarten Gutes wegen, auf dem Frau Hedda, völlig der Zucht und Pflege der Tiere hingegeben, fern von allen Menschen lebte – dann aber auch, weil der Name Reichenbach in Brandenburg besonderen Klang hatte. Die Tatsache, daß ein Reichenbach dort im Zuchthaus saß, setzte die ganze Stadt in Bewegung. Man war von jeher stolz auf die Reichenbachs gewesen, die viel Gutes für Brandenburg getan und ein paar Menschenalter hindurch mehr Steuern als ein Drittel der ganzen Bevölkerung aufgebracht, vor allem aber für die Armen und Kranken gesorgt hatten. Die Tatsache, daß ein Mitglied der Familie wegen schweren Diebstahls im Zuchthaus saß, teilte die Bürgerschaft in zwei Hälften. »Der Fall Reichenbach« wurde in jeder Familie, an jedem Stammtisch, in den Geschäften und auf den Straßen erörtert. »Ein Reichenbach stiehlt nicht!« sagten die einen und bildeten ein Komitee, das das Wiederaufnahmeverfahren betrieb, während die andere Partei, von der Unfehlbarkeit des Gerichts überzeugt, den jungen Reichenbach als eine Schande für die ganze Stadt, die in den Reichenbachs eine Art Schutzpatron erblickten, bezeichneten. Jedenfalls hatte das saubere, ruhige Städtchen, das gewöhnt war, seine Sensationen aus dem nahen Berlin zu beziehen, jetzt seine eigene Affäre. Jeder Bürger empörte sich, so oft er an dem mitten in der Stadt belegenen Zuchthaus vorüberging, darüber, daß hier ein Reichenbach saß – die einen empörten sich über den Justizmord, die anderen über Reichenbach, dessen Schande sie als Bürger Brandenburgs als eigene Schmach empfanden. Jedenfalls strahlte von der Stadt eine Bewegung aus, die nicht nur bis an Heinz Reichenbachs Zelle, sondern bis in das nahe Schloß Reichenbach, also zu Frau Hedda drang. Das Bewußtsein, daß draußen Tausende von Menschen sich mit ihm beschäftigten, stärkte naturgemäß Reichenbachs Lebenswillen, der sonst kaum durchgehalten hätte – obschon er sich Heddas Mahnung jeden Tag und jede Nacht Dutzende von Malen ins Gedächtnis rief.
Er hatte um Einzelhaft gebeten. Aber man hatte ihm bedeutet, daß die wenigen verfügbaren Einzelzellen auf Weisung von oben mit politischen Verbrechern belegt werden müßten. So war er in einem Gemeinschaftsraum zusammen mit vierzig Schwerverbrechern untergebracht. Hier stand Bett an Bett. Auch übereinander standen die Betten, und der einzige sonstige Gegenstand im Zimmer war ein großes Gefäß am Ende der einen Schmalwand, das zur Aufnahme nächtlicher Bedürfnisse bestimmt war. Was Heinz Reichenbach schon wenige Stunden nach seiner Aufnahme in dem gemeinsamen Arbeitssaal als wesentlich empfand, war das grauenhafte Gefühl, daß hier Mensch und Tier in dem gleichen Käfig untergebracht war. In der großen Tischlerei, der man ihn überwies, wurde er an einer Hobelbank zusammen mit zwei Zuchthäuslern beschäftigt, die ihn anzulernen hatten. Der eine war ein Tier, mit rotem Haar und roten Wimpern, niedriger Stirn, tiefliegenden, stechenden kleinen Augen, Sommersprossen, starken Backenknochen, spitzer Nase, wulstigen Lippen und abfallendem Kinn. Er war Mitte der Vierziger und saß seit seinem achtzehnten Jahre mit kurzen Unterbrechungen hinter Zuchthausmauern. Meist war er, wie auch jetzt, wegen Raubes und schwerer Körperverletzung verurteilt worden. Er saß im dritten Jahr und hatte noch sechs Monate abzubüßen. Er stand damit nach seinem Gefühl mit einem Bein schon wieder im Freien. So verlängerte er sich künstlich seine stets nur kurz bemessene Freiheit, die selten länger als drei Monate dauerte. Der andere war ein Lebenslänglicher, ein Fabrikarbeiter, im Alter von dreiundzwanzig Jahren, der den eigenen Vater nach eigener Angabe und mit Überlegung erschlagen hatte, zum Tode verurteilt und dann zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt worden war. Der Vater, ein brutaler Säufer, der die Mutter schlug, die Tochter schändete, den Sohn, wenn er dazwischentrat, bedrohte, lag eines Morgens mit gespaltenem Schädel in seinem Bett. Der Sohn hatte ihn im Schlaf erschlagen. Da keinerlei Streit vorausgegangen, die Tat lange zuvor geplant war, lag Affekt nicht vor. Der Sohn war geständig, bereute nicht und verteidigte sich nur damit, daß er es habe tun müssen, um Mutter und Schwester zu retten. Er zeigte keinerlei Reue, fand seine Tat notwendig, natürlich und gut, und trug die Strafe nur deshalb schwer, weil er eine Braut hatte, die er nicht vergessen konnte.
Sie erzählten ihm das alles gleich am ersten Abend. Der Rothaarige grinste zu der Geschichte des Fabrikarbeiters und meinte:
»Schön dämlich!«
Aber Heinz Reichenbach vergaß bei den Worten des jungen Arbeiters sein Schicksal, drückte ihm die Hand und sagte, als wenn er noch der freie Heinz Reichenbach mit den weitreichenden Beziehungen wäre:
»Ich werde Ihnen helfen.«
»Wat wirste?« fragte der Rote. »Dir hab'n se woll ins Jedächtnis jepiekt. Erzähl' uns lieber, weswejen se dir verknast haben.«
»Ich bin in einen Bankdiebstahl verwickelt worden – ohne meine Schuld.«
»Natürlich!« sagte der Rote grinsend. »Wir sind hier alle unschuldig. Schuld hat immer der verfluchte Alibi, mit dem et nie klappen tut. Dabei brauchen doch bloß zwee Mann für eenen grade stehn und schwören, daß se mit mir in die fragliche Nacht zusammen waren. Wie soll ick 'n denn zur selbigen Zeit det Meechen überfallen und beraubt haben? Det war eben en anderer. Wat kommt 'n et hinterher druff an, wenn 't doch nu mal jeschehen is?«
»Sie sind ja ein entsetzlicher Mensch!« sagte Reichenbach.
Der Rote trat nahe an ihn heran, schob sein Gesicht dicht an das von Reichenbach und versetzte ihm so unauffällig, daß keiner der Aufsichtsbeamten es sah, einen Schlag unter das Kinn. Reichenbach taumelte, ein Beamter sah es, sprang hinzu und fing ihn auf.
»Was war?« fragte der Beamte – und der Rote erwiderte:
»Der feine Herr muß sich erst an die Luft hier jewöhnen.«
Reichenbach hatte sich wieder in der Gewalt, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und sagte:
»Es geht schon vorüber – ein bißchen Schwäche.«
Von dem Augenblick an war der Rote sein Freund, der ihn gegen jeden in Schutz nahm und ihm aufs Wort gehorchte. Aber darüber hinaus nahm er von Reichenbach auch Lehren an. Natürlich war der Brandenburger Klatsch schnell durch die Mauern des Zuchthauses gedrungen, und Reichenbach wurde von allen der Dollarprinz genannt. Es gab keinen, der nicht glaubte, daß er die geraubten Devisen im Werte von fünfhunderttausend Mark irgendwohin in Sicherheit gebracht hatte. Sie empfanden daher alle eine Art Hochachtung vor ihm und suchten seine Freundschaft. Da man ihn schon nach der ersten Nacht bewußtlos auf seinem Lager gefunden hatte, was nach Ansicht des Anstaltsarztes nicht nur als Reaktion auf die seelischen Erregungen der letzten Wochen zurückzuführen, sondern vor allem die Folge der ungewohnten Luft und Umgebung in dem Massenschlafraum war, so legte man ihn in eine freigewordene Zelle im ersten Stock. Da der Arzt sich gegen Einzelhaft ausgesprochen hatte, so brachte man auch den Fabrikarbeiter und den Roten dort unter. Losgelöst von jeder Verbindung mit der Außenwelt, im engen Raum angewiesen auf diese beiden Menschen, fühlte Reichenbach, daß er sehr bald den Verstand verlieren würde, wenn es ihm nicht gelang, irgendeinen Sinn in dies stumpfe Einerlei zu bringen. Das Geistige auszuschalten, war die erste Forderung. Aber auch dann noch war der Abstand zwischen ihm und diesen beiden Menschen, die untereinander wieder grundverschieden waren, zu groß, um irgendeine Gemeinsamkeit zu ermöglichen. Aber eine Brücke mußte von einem zum anderen geschlagen werden. Es war nicht nur der Trieb der Selbsterhaltung, der ihn vor diese Aufgabe stellte. Es lag ein Reiz für ihn darin, festzustellen, ob er trotz aller gegensätzlichen Einstellung zum Leben, die durch Geburt, Erziehung, Bildung, Veranlagung und Erfahrung bedingt war, doch noch etwas von alledem Unberührtes, rein Menschliches gab – und ob dies stark genug war, um, zum Klingen gebracht, eine Verständigung zu ermöglichen.
»Dein Jeschäft hat sich wenigstens jelohnt,« sagte der Rote eines Abends zu Reichenbach, der es längst aufgegeben hatte, den Unschuldigen zu spielen.
»Es hätte sich für dich gelohnt,« erwiderte Heinz, »ob für mich, ist fraglich, da ich einen guten Posten hatte und in ein paar Jahren das Geld auch auf redliche Weise hätte verdienen können. Jetzt habe ich nicht nur den Posten und meine gesellschaftliche Stellung verloren, sondern wahrscheinlich auch das Geld. Denn man wird mich beobachten und mir das Geld abjagen.«
»Natürlich, wenn de so dumm bist und et selbst holst. Aber wenn de mir, wo ick sechs Monate früher rauskomme, sagst, wo du's hast – mir läuft keener nach – und mir dran verdienen läßt – denn so 'ne Masse Jeld will behütet sein – denn hast de was davon.«
»Wenn ich es dir ließe, was würdest du damit anfangen?«
»Ick würde mir zur Ruhe setzen.«
»Ich glaube, du würdest dich langweilen.«
»Langweilen? Nee, aber ick würde mir wahrscheinlich schon vormittags besaufen.«
»Und in deiner Betrunkenheit würdest du jeden, der dir in den Weg kommt, am hellichten Tage anfallen.«
»Möglich – 'ne Frau allemal!«
»Dann kämst du aus dem Zuchthaus überhaupt nicht mehr heraus – hättest also nichts von dem Geld.«
»Stimmt. – Mir kann keener helfen. – Nich mal mit Jeld.«
»Wenn ich in sechs Monaten rauskäme!« sagte der junge Fabrikarbeiter.
»Was würdest du tun?« fragte Heinz.
»Ich wüßte gar nicht, zu wem ich zuerst ginge. Ich glaube, zu meiner Braut – es könnte aber auch sein, zu meiner Mutter. Na, die heulte sich ja die Augen aus – das tut sie auch jetzt – aber dann aus Freude. – So klein und so hutzlig stände sie da in ihrer Küche – und eine weiße Schürze hätte sie um – und einen Teller in der Hand – sie putzt den ganzen Tag – und den Teller ließe sie fallen, weil sie doch die Arme nach mir ausstrecken würde – und wenn sie so einen Stoß von Tellern in den Armen hielte – wenn ich käme – das käme ihr gar nich drauf an – so froh wäre sie – w–ä–r–e!« schrie er schluchzend und verbarg das Gesicht in den Händen. Dann sprang er auf, rannte mit dem Kopfe an die Wand und rief:
»Lebenslänglich!«
Heinz Reichenbach vergaß auch in diesem Augenblick wieder, daß er wie jener im Zuchthaus saß und gar keine Möglichkeit hatte, ihm zu helfen. Aber dadurch, daß er sich dieser beiden Menschen, die nichts mehr zu hoffen hatten, mit dieser Intensivität annahm, lenkte er seine Gedanken von sich selbst ab und ertrug ein Leben, das ihn vor Wochen noch, als er in Frohnau zwischen seinen Sammlungen saß, schlimmer und unerträglicher als ein qualvoller Tod erschienen wäre. Zu dem blonden Fabrikarbeiter mit dem offenen Blick und den zwei klugen blauen Augen, der verzweifelt litt, sagte er:
»Du mußt etwas haben, worauf du dich freust.«
»Ick möchte wissen, worauf einer wie wir sich freuen soll,« sagte der Rote, der gar nicht fühlte, daß er dem blonden Fabrikarbeiter viel ferner stand als dieser dem Zellengenossen Reichenbach. »N' Kassler und 'ne Pulle Schnaps – wenn mir die eener zehn Jahre lang garantiert, rühr' ick nischt mehr an.«
»Und nach zehn Jahren?«
»Häng' ick mir uff. Aber denn hat es sich doch jelohnt und man wees, wozu man da war.«
Reichenbach, der nie mit Menschen zusammengekommen war, für die der Kampf um das tägliche Brot der eigentliche Sinn des Lebens war, schien erschüttert. Er verglich sein Leben mit dem dieses Mannes, dachte an seine Jugend, in der das Geld, so selbstverständlich wie die Luft, nie eine Rolle spielte, und berechnete, wie viele dieser Art Menschen er für die Dauer ihres Lebens vor dem Zuchthaus bewahren konnte, wenn er seine Sammlungen verkaufte und für derart wohltätige Zwecke verwandte. Und es erwachte in ihm ein wohltätiger Sinn. Er errechnete, daß allein der Wert der ihm bekannten Privatsammlungen in Deutschland ausreichte, um von den Zinsen den Hunger schulpflichtiger Kinder, deren Zahl schätzungsweise vier Millionen war, zu stillen. Er erwog, wie man es anstellen könnte, die Herzen der reichen Leute so zu rühren, daß die Freude, ein paar tausend elende, unfrohe Kinder gesund und froh zu machen, größer war als die Freude an kostbarem Besitz, dessen Herrlichkeit einem doch nicht ins Grab folgten, während der Dank einer kräftigen heranwachsenden Jugend weit über den Tod hinaus reichte. – So wurde aus Reichenbach, der die Menschen gemieden und die Einsamkeit geliebt hatte, ein Menschenfreund. Und er erkannte – nicht ohne Entsetzen, wie tief hinab zu den Menschen man steigen mußte, um auf die Tiefen der eigenen Seele zu gelangen.
Er suchte jeden zu verstehen und sprach zu jedem in seiner Sprache. Die weitaus größte Zahl saß wegen Eigentumsdelikten. Sie waren zum großen Teil abgestumpft, empfindsame Naturen waren kaum darunter, so daß man ihnen gefühlsmäßig nicht beikommen konnte. Ihnen machte er eine Rechnung auf und bewies ihnen, daß bei ihren Diebstählen und Einbrüchen die Gewinnchance in keinerlei Verhältnis zum Risiko stand – zumal bei Vorbestraften, die sie ja fast alle waren – wo der Rückfall strafverschärfend wirkte. Das sahen sie ein, hatten es sich zum Teil schon selbst gesagt – aber was sollten sie tun, wenn sie keine Arbeit fanden und die Not sie trieb?
»Im Anfang jede Arbeit annehmen, auch die härteste und schlecht bezahlte,« sagte er. »Besser als hier habt ihr es draußen allemal. Und dann mit der Zeit euch nach besserer Arbeit umsehen. Hier sitzt ihr drei und vier Jahre ab, als wenn es nichts wäre. Aber draußen, wenn ihr nicht gleich verdient wie ihr wollt, werft ihr die Arbeit hin. Die drei vier Jahre hier sind verloren für euch, und mehr als verloren, weil sie euch belasten. Arbeitet ihr aber draußen mal etwa vier Jahre lang hintereinander, ohne euch etwas zuschulden kommen zu lassen, dann seid ihr durch, dann habt ihr's geschafft – und das hier, was hinter euch liegt, ist vergessen.«
Viele sahen es ein, andere wieder hatten endgültig mit dem bürgerlichen Leben abgeschlossen. Aber es bildete sich doch ein Kreis von Gefangenen um ihn, die sich an ihm aufrichteten und Hoffnung auf neues Leben aus seinen Worten schöpften. Nur der Fabrikarbeiter, der Lebenslängliche, wußte damit nichts anzufangen. Wenn man ihn damit aufzurichten suchte, daß man ihm bei guter Führung eine Begnadigung nach fünfzehn Jahren in Aussicht stellte, erwiderte er:
»Nützt mir nichts. Dann ist meine Mutter tot und meine Braut alt und häßlich.«
Und abends in der Zelle heulte er wie ein Kind – bald nach seiner Braut, bald nach seiner Mutter.
»Hör uff!« sagte der Rote, aber Reichenbach erwiderte:
»Laß ihn weinen! Es erleichtert ihn.«
»Aber mir nich – mir jeht es uff die Nerven.«
»Hast du keine Mutter?«
»Laß det!«
»Lebt sie noch?«
»Halt's Maul!«
»Sie ist also tot?«
»Wat jeht dir det an?«
»Hast du sie lieb gehabt?«
Der Rote stand auf und ging an Reichenbachs Lager:
»Ick hau dir . . .«
Reichenbach faßte seine Faust, die eben auf ihn niedersausen wollte, und hielt sie fest.
»Du denkst nicht gern an sie?«
»Nee doch.«
»Weil du ihr weh getan hast?«
Der Rote nickte mit dem Kopf.
»Sie war gut zu dir?«
Der Rote nickte wieder und sagte:
»Vater war immer besoffen und hat mir fechten geschickt, sojar det Nachts. – Und wenn ick nach Haus kam und brachte nischt, dann jab's Keile.«
»Und was tat dann die Mutter?«
»Die hat mir losjerissen und jesagt: »Hau den Jungen nich!, hau lieber mir! – Und denn hat se mir in ihr Bett jenommen und mir jestreichelt – det war – na, wie war et denn? – als wenn wat Samtnes über die Striemen fuhr.«
»Und dann ist sie gestorben?«
»Wär se man! wär se man!« rief der Rothaarige.
»Der Vater starb zuerst?«
»Der Hund!«
»Wie meiner,« sagte der blonde Fabrikarbeiter.
»Aber die Mutter?« fragte Reichenbach.
»Det war 'ne Mutter! – damit kann sich deine janich vergleichen. Die hat nur jelebt for mir und die andern. Na, was die andern anjeht, det jing ja auch – wenn se och nich jrade in Butter sitzen – se leben. Aber ick – ick war nu mal for jut essen und trinken – det konnte die Mutter aber nich so ranschaffen – obschon se auf Aufwartung jing und janz jut verdient hat – aber et war zu ville for sie. Von sechs bis drei und denn von fünf bis einsen in een Café. Na, in die Zeit hab ick mir ausjebildet. Mutter hat zwar immer zum Guten jeredet und jesagt: »Komm zu mir, wenn de Jeld brauchst, eh du dir's auf die Art verschaffst.« Det hab ick och jetan, aber et reichte nie. Und als ick denn det erste Mal alle wurde – so jegen vier rum war et – Mutter und ick tranken grade Kaffee – da kloppt et uff eenmal – Polente! – Ick wollte türmen – aber Mutter sah mir an mit solche Augen – und als sie hörte: Raub, da schlug se hin – na und denn is se so recht woll nie wieder hochjekommen. Det erste Mal, als ick rauskam, da jing et ja – ick versprach ihr: nie wieder, und sie sajte: »Nu werde ick wieder jesund« – Aber beis zweete Mal, da half keen Arzt mehr. Ick war noch nich abjeurteilt, da . . .«
Er stockte und senkte den Kopf. Heinz Reichende hielt seine Hand – die Faust war längst geöffnet – und ergänzte:
»Da starb die arme Mutter und war erlöst.«
Der Rote wankte in den Knien, stöhnte tief auf und sagte:
»Wenn ick det heute noch ändern könnte.«
»Um ein besserer Mensch zu werden, ist es nie zu spät.«
»For mir schon! Denn heut saj ick mir, jut, daß se det alles nich mehr erlebt hat. Aber wenn ick so wär wie sie wollte, dann hätte ick Reue und würde mir sajen: warum nich damals? Aber ick will mir nich erinnern. Es rejt mir uff. – Wie kamen wir'n überhaupt dadruff? – Ach so, ick weeß, die blonde Rotzneese hat Schuld. Armer Emton! und det nennt sich jerecht: erschläjt den Ollen, een Aas wie meiner, weil er die Mutter bedroht und det eijne Mädel nich in Ruhe läßt – und kriejt statt die Rettungsmedaille lebenslänglich. Und ick bring die Mutter um. Und was for eene Mutter! und et kräht keen Hahn danach.«
»Aber!« suchte Reichenbach ihn zu besänftigen.
»Jawoll! – Ob ick se nu so mit die beeden Hände abwürje oder ihr det Herz pö a pö aus'm Leibe reiße – det is eens wies andre. Und for die ihren Tod, da rührt sich keen Staatsanwalt. – Da hätten se mir uffn Holzblock spannen sollen. Heut noch, wenn se det täten, würd ick sajen: jawoll, meine Herren, Sie haben recht, det jehört sich so!«
Reichenbach lief es kalt über den Rücken. Auch der blonde Fabrikarbeiter hatte Tränen in den Augen. Aber er war doch gleich wieder mit sich beschäftigt:
»Deine Reue kommt zu spät!« rief er. »Deine Mutter ist tot!«
»Det is et. For mir jibt's nischt mehr.«
»Aber meine Mutter lebt! – und sehnt sich nach mir! – und wird sterben wie deine, wenn ich nicht zu ihr komme.«
Da richtete sich der Rote auf, zog die Schultern hoch, daß der Kopf ohne Hals am Rumpf zu sitzen schien, straffte den Körper, ballte die Faust und sagte:
»Du wirst zu deine Mutter kommen!«
Der Blonde richtete sich auf seinem Lager hoch, sah zu dem Roten, der furchtbar aussah, auf wie ein gläubiges Kind, und fragte bettelnd und zärtlich:
»Wann?«
»Morgen nacht!« erwiderte der – nahm ein Glas Wasser, das ihm Reichenbach reichte, und goß es hastig hinunter.