Artur Landsberger
Bankhaus Reichenbach
Artur Landsberger

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16.

Heinrich Moreners Genesung schritt nicht in der Weise und auch nicht in dem Tempo fort, wie die Ärzte es erwartet hatten. Einen Tag lang war sein Zustand so, daß sie sich mit dem Gedanken trugen, seine Gattin kommen zu lassen – und am nächsten Morgen saß er wieder völlig teilnahmlos da, um ein paar Stunden später schon als Leonard Reichenbach Briefe, Proteste und Anklagen in die Welt zu setzen.

Frau Hedda bekam ihrem Wunsche gemäß seit einiger Zeit einen Tag um den andern Nachricht über sein Befinden. Auch am Morgen nach dem Einbruch war ein Brief eingetroffen, in dem zu lesen war, daß sein Zustand wenig verändert zwischen Melancholie und jener krankhaften Vorstellung schwankte. Zwar wiederholten sich die lichten Momente, in denen er sich als Heinrich Morener fühlte, in immer kürzeren Zwischenräumen und hielten auch längere Zeit an. – Da er danach aber regelmäßig in tiefe Schwermut, verbunden mit Selbstmordgedanken, verfalle, so sei ihr Besuch noch nicht geboten. Man dürfe zwar damit rechnen, daß ihre Gegenwart ein Sichbesinnen auf sich selbst zur unmittelbaren Folge hätte, müsse aber befürchten, daß hinterher eine Depression einsetzen werde, die einen schweren Rückfall befürchten lasse.

Ausnahmsweise stimmte Frau Hedda diesmal mit den Ansichten der Ärzte überein. Ehemals hätte sie sich die Kraft zugemutet, Morener in seinen lichten Momenten so stark zu beeinflussen, daß er nicht wieder in seine krankhafte Idee zurückgefallen wäre. Heute, wo Fremdes zwischen ihnen stand, besaß sie den Glauben an diese Kraft nicht mehr. Ohne daß sie selbst fest daran glaubte, war es nicht möglich, auf ihn zu wirken. Als sie aber jetzt von dem Einbruch und dem auf Heinz Reichenbach gerichteten Verdacht erfuhr, sagte sie sich sofort: das könnte seine Heilung sein! – Ein Ereignis, das tiefer in sein Seelenleben eingriff, war selbst bei kühnster Phantasie nicht vorstellbar.

Glaubte er auf Grund des Materials, das Reichenbach belastete, an dessen Schuld, dann erlosch damit der Nimbus des Namens – und es fiel damit die Voraussetzung seiner krankhaften Vorstellung. War er aber von Reichenbachs Unschuld überzeugt, dann würde der Eifer, ihm beizustehen, so stark alle gesunden Instinkte in ihm in den Vordergrund rücken, daß die krankhafte Vorstellung demgegenüber gar nicht zum Durchbruch käme. – Das sagte sich Frau Hedda und glaubte, das Mittel zur Genesung ihres Mannes in der Hand zu haben.

Die Pflicht, es zu nutzen, erschien ihr so selbstverständlich, daß sie daneben keinen Augenblick darüber nachdachte, was für Folgen sich daraus für sie ergeben könnten. Sie drahtete nach Südende, daß sie entgegen dem Willen der Ärzte ihren Mann zu sehen und daher zu wissen wünsche, wann ihr Besuch genehm sei. Am Abend aber, als Karl Morener von der Königin-Augusta-Straße aus, wo er Hanni Reichenbach abgesetzt hatte, zu ihr kam und ihr über den Verlauf der Untersuchung berichtete, kamen ihr Bedenken, ob ihre Pflicht Heinz Reichenbach gegenüber im Augenblick nicht doch größer sei.

»Eines ist so unsinnig wie das andere,« sagte Karl, dem sie sich erschloß. »Denk an dich!«

»Was willst du damit sagen?«

»Daß du dich nicht an Tote hängen sollst.«

»An Tote? – Ja, wer ist denn tot?«

»Ich meine es nicht wörtlich – obgleich es auf dasselbe hinauskommt. Heinrich Morener und Heinz Reichenbach sind erledigt. Der eine hat ein paar lichte Augenblicke, der andere ein Alibi, mit dem er nichts anfangen kann. Willst du darauf deine Zukunft bauen?«

»Wie kann man so roh sein?«

»Ich muß es sein! – für dich! Denn du hast eine wahre Scheu davor, statt nach deinen veralteten Anschauungen, einmal nach dem Grundsatz der Zweckmäßigkeit zu handeln.«

»Wie sprichst du nur mit mir?«

»Wenn ich jetzt nicht handle, bricht alles über uns zusammen.«

»Das ist wieder eine deiner Phrasen, Karl! Was soll denn über uns zusammenbrechen?«

»Wenn ich mir vorstelle, du gehst zu Heinrich Morener, und es gelingt dir wirklich, ihn gesund zu machen – meiner Ansicht nach wird es ihn nur zurückwerfen . . .«

»Ich glaube daran.«

»Also gut, nimm es an! Was wird die Folge sein? Er hat nun erkannt, daß seine große Sehnsucht unerfüllt bleiben muß – daß der Versuch ihrer Erfüllung ins Irrenhaus führt. – Plötzlich sieht er die Möglichkeit, das Phantom, dem er nachjagt, zu zerstören. Er weiß, gelingt das, so wird er von dem Wahn frei und gesund sein. Also wird er begeistert mit beiden Händen zugreifen, wenn er sieht, daß andere dabei sind – was er aus eigener Kraft nicht fertig brachte – das Götzenbild zu zerstören. So! Und nun überlege und frage dein Gewissen, ob du das Heinz Reichenbach gegenüber verantworten kannst.«

»Ich bestaune den Eifer, mit dem du dich plötzlich für Heinz einsetzt. – Bisher tatst du doch immer so, als wenn du den Zeitpunkt gar nicht erwarten könntest, daß mein Mann zurückkehrt – weil du wußtest, daß das die Vorbedingung für unsere – nun sagen wir ruhig: Flucht ist.«

»Du redest dir doch nicht ein, daß, wenn dein Mann morgen gesund ist und du klärst ihn auf – über alles – auch über uns – da du dir das nun einmal in den Kopf gesetzt hast – daß wir dann übermorgen auf und davon können?«

»Ja, warum denn nicht?«

»Weil man uns zwölf Stunden später verhaften würde.«

»Uns – verhaften? – Ja, weshalb?«

»Denke nach!«

»Doch nicht gar wegen dieses Ein– – Karl, du verschweigst mir was!«

»Führ den Gedanken nicht zu Ende, Hedda! Sonst ist es aus mit uns.«

»Zwingst du mich denn nicht dazu?«

»Schweige! – aber überlege dir, ob sich nicht ganz von selbst der Verdacht auf uns beide lenken würde.«

»Du könntest doch beweisen.«

»Was? – Daß ich des Nachts in meiner Wohnung war? Wie soll ich das anstellen? Mein Personal weiß, daß ich zu Hause gegessen habe, um zwölf Uhr schlafen gegangen und um acht Uhr früh wieder aufgestanden bin. Daß ich in den acht Stunden im Bett gelegen und geschlafen habe, daß ich weder durch den Garten, noch durch das Fenster ins Freie gelangt bin, das beschwört mir keiner.«

»Dann schwebt man ja dauernd in Gefahr.«

»Das tut man auch. Du siehst es ja an Reichenbach. Wenn nicht zufällig dieser Arzt anruft und sich nach seinem Befinden erkundigt . . .«

»Was für ein Arzt?« fragte Hedda – und Karl erzählte ihr von den Feststellungen des Anwalts – und von den Schlüssen, die er daraus für Heinz Reichenbach im allgemeinen und für den Prozeß im besonderen zog.

»Das ist ja ein ganz großer Schwindel, den ihr da aufmacht.«

»Erstens stammt er nicht von mir, sondern von Dr. Eltzbach – und ob es Schwindel ist, haben wir nicht zu entscheiden.«

»Da beschuldigt man doch Leute, die gar nichts damit zu tun haben.«

»Wie kannst du das wissen?«

»Ich bitte dich: Bis gegen vier Uhr früh war Reichenbach doch bei mir.«

»Leider!«

»Etwa eine Stunde hat er bis Berlin gebraucht, dann – nach fünf Uhr – hat er ein Lokal aufgesucht, um mit mir zu telefonieren, gegen sechs Uhr – also fünfzig Minuten später – war er bereits beim Arzt, und wieder eine Stunde später hat der Arzt ihn in seiner Villa in Frohnau abgesetzt.«

»Das Plädoyer des Staatsanwalts kann nicht überzeugender sein, denn von fünf bis sechs Uhr, während einer Stunde, haben die Verbrecher über und über Zeit gehabt, um ihn zu betäuben oder bewußtlos betrunken zu machen, ihm die Schlüssel abzunehmen und den Schrank zu plündern.«

»Und warum haben sie ihm die Brieftasche, die Uhr und das Auto gestohlen? Damit laufen sie doch Gefahr, sich zu verraten.«

»Damit lenken sie vom Wesentlichen ab. Denn da die Wahrscheinlichkeit groß ist, daß man die Leute, mit denen er verkehrt hat, eruiert, so mußten sie einen Beweis schaffen, weshalb sie ihn betäubt haben. Um ihn auszuplündern! Das ist doch plausibel. Und dafür brummen sie gern ein paar Jahre ab, wenn sie hinterher mit der inzwischen irgendwo sichergestellten halben Million Aussicht auf einen sorgenlosen Lebensabend haben.«

»Erstaunlich, wie du die Gedanken und die Gefühlswelt dieser Menschen kennst.«

»Du lieber Gott! So ein Stückchen Verbrecher steckt ja wohl in jedem von uns.«

»Und was sagt Heinz Reichenbach zu dieser Aufklärung? Weshalb hat er alles das bisher verschwiegen, wenn er damit der Verhaftung entgehen konnte?«

»Wenn du die Passion hättest, mit Verbrechern und Dirnen zu verkehren – wäre es dir dann lieb, wenn es an die große Glocke käme?«

»Bei einer Frau ist das etwas ganz anderes. Und besser als eines Einbruchs verdächtigt zu werden, ist es auf alle Fälle.«

»Du setzt dich darüber hinweg – weil du auf die Menschen pfeifst und es dir gleichgültig ist, was sie von dir denken. Aber Leute wie die Reichenbachs, die für ihren guten Namen die letzte Mark hergeben, denken anders.«

»Ich vermag da nicht zu folgen.«

»Reichenbach muß nun Farbe bekennen. Er wird einfach erklären, daß er gestern nacht, wie häufig, heimlich mit diesen Leuten zusammengetroffen sei, ein paar Kaschemmen aufgesucht habe und plötzlich überfallen worden sei. Als er wieder zum Bewußtsein kam, befand er sich in einer ihm unbekannten Gegend auf einer Treppe sitzend oder an ein Haus gelehnt. Er wird erklären, daß er sich dunkel noch der Vorgänge erinnert, Schmerzen an Händen und am Kopf gespürt und infolgedessen den nächsten Arzt aufgesucht habe.«

»Und wenn man die Leute dann faßt und man kann ihnen nichts beweisen?«

»Dann wird man sie auf Grund der Indizien verurteilen. Reichenbach ist doch glaubhafter als gewerbsmäßige Verbrecher.«

»Wenn sie es nun aber wirklich nicht waren?«

»Dann haben sie Pech gehabt.«

»Und das wollt ihr verantworten?«

»Warum denn nicht? Von dem, was die auf dem Gewissen haben, kommt noch nicht die Hälfte ans Licht. Wenn sie also wirklich mal unschuldig verurteilt werden, ist ihr Schuldkonto damit noch immer nicht beglichen.«

»Ist das auch die Auffassung von Heinz Reichenbach?«

»Du wirst dafür sorgen, daß sie es wird.«

»Wie? Er weiß noch nichts davon?«

»Ich glaube nicht, daß er von alledem, was der Herr Verteidiger sich da auf Grund der ärztlichen Erzählung zurechtgelegt hat, eine Ahnung hat. Jedenfalls stimmt es aber, daß er des Nachts bei dem Arzte war.«

»Karl, dann glaubst du jetzt etwa auch, daß er . . .?«

»Nicht so laut!« erwiderte Karl, und legte den Finger auf den Mund. »Auf das, was ich glaube, kommt es nicht an. Aber wenn es uns nicht gelingt, diesen immerhin seltsamen Umgang mit Verbrechern glaubhaft zu machen, ist er verloren. – Und wer weiß, was für Spuren die Polizei dann noch weiter verfolgt.«

»Mich wird sie ja hoffentlich nicht verdächtigen.«

»Die Polizei nicht.«

Frau Hedda fragte:

»Etwa der Anwalt?«

»Nein, aber eine Frau – das heißt, ein junges Mädchen . . .«

»Wer wagt . . .?« brauste Hedda auf.

Wieder legte Karl Morener die Finger an den Mund und sagte:

»Wir wollen uns wirklich daran gewöhnen, leise zu sein, wenn wir davon reden.«

»Also wer?« drängte Hedda – und Karl erwiderte:

»Eine Frau, die den Heinz scheinbar auch liebt.«

»Auch liebt? – Liebe ich ihn denn?«

»Ich glaubte es auch nicht – aber sie bewies es mir.«

»Was ist das für ein Wahnsinn?«

»Und zwar durch die Kuanyin!«

Frau Hedda verlor zum ersten Male die Fassung. Sie stand auf, hielt sich am Tisch fest und sagte:

»Das kann nur Hanni Reichenbach gewesen sein.«

»Erraten! – wenn du ihn also liebst – und wenn du dich liebst – dann fragst du von nun an nicht mehr, ob er es war oder nicht war – das spielt im Fall der Liebe ja keine Rolle – sondern du gehst zu ihm – auf irgendeine Weise gelingt dir das – muß es dir gelingen – und sagst ihm genau das, was ich dir eben gesagt habe – aber nicht, daß es von mir kommt – sondern von dir – daß du es dem Anwalt insinuiert hast – zu seiner Rettung – und zu deiner.«

»Du kannst dir nicht vorstellen, in welcher Angst ich um ihn bin. Ich glaube, daß ich damals, als mein Mann zusammenbrach, nicht halb so gelitten habe.«

»Das beweist nur, wie sehr du ihn liebst.«

»Und das kränkt dich nicht?«

»Ich denke jetzt nicht an mich.«

»So ein Freund bist du? So ein Mensch bist du!? Auch jetzt noch denkst du an nichts anderes als an seine Rettung?«

»Nicht aus Edelmut – und nicht für ihn. Was ich tue, tue ich für uns! – Wenn sie ihn verurteilen, wirst du dir einreden, du hättest ihn retten können. Sein Schweigen wird ihn für dich zum Märtyrer machen. Wenn du ihn noch nicht liebtest, würdest du ihn dann lieben. Und ich werde alle Opfer für unsere Flucht umsonst gebracht haben.«

Frau Hedda nahm seine Hand und sagte:

»Ich bin gerührt von soviel Liebe. – Ich verspreche dir, zu ihm zu gehen – zumal ich einsehe, daß es für uns alle so am besten ist.«

»Ich habe dich also nicht verloren?«

»Ich glaube – und zwar heute zum ersten Male, Karl, daß es dir vielleicht doch noch gelingt, mich zu gewinnen.«


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