Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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Hermann Kurz

Der Sonnenwirt

Ein Roman aus Schwaben

(1855)

Erstes Kapitel

»Nun, Meister Schwan, für diesmal ist Er christlich durchgekommen, straf mich Gott! Aber ich hoff, so ein heißgrätiger Bursch wie Er wird bald wieder das Heimweh nach unserer lustigen Kartause bekommen. Aufs Frühjahr spätestens, wenn die Bäume ausschlagen, werden wir wieder die Ehre haben. Ich will derweil ein paar tüchtige Haselstöcke ins Wasser legen, damit sie den gehörigen Schwung und Zug kriegen zum Willkomm, wenn's heißen wird: ›Des Ebersbacher Sonnenwirts sein Gutedel ist wieder da.‹ Adjes, Meister Schwan, glückliche Reise und nichts für ungut.«

Es war unter dem Tore des Ludwigsburger Zucht- und Arbeitshauses, wo einer der Aufseher einem jungen Menschen dieses spöttische Lebewohl sagte. Dem untersetzten, stämmigen Burschen konnte niemand im Ernste den Meistertitel geben, denn er schien kaum zwanzig Jahre alt zu sein. Auch sah er sehr sauer zu der Ehrenbezeugung, die nicht gerade aus wohlwollendem Herzen kam; sein breites, rotwangiges Gesicht spannte sich zu einem trotzigen Ausdruck, den eine tiefe Schramme auf der Stirne noch erhöhte. Er hielt die Augen, wie aus Verachtung, zu Boden geheftet, aber dann und wann schoß er seitwärts einen Blick hervor, der wie ein Messer funkelte. Der Aufseher gab ihm zum Abschied einen derben Schlag auf die Schulter und ging lachend hinweg. Der entlassene Sträfling ballte die Faust und sah ihm mit ingrimmigen Blicken nach.

Eben wollte er dem Zuchthause den Rücken kehren, als er eine Persönlichkeit gewahrte, deren Anblick den Haß auf seinem derben, lebhaften Gesichte plötzlich in das entschiedenste Widerspiel verwandelte. Es war ein Greis, der in der Gebrechlichkeit des Alters an einem Stabe über den Hof gegangen kam; er trug schwarze Kleidung, und die beiden weißen Überschlägchen, die ihm von der Halsbinde herabhängend auf der Brust spielten, bezeichneten seinen geistlichen Stand. Seine Erscheinung machte einen sichtlichen Eindruck auf alle Begegnenden; die ausgefallensten Züchtlinge verstummten, als er im Vorübergehen einen Blick auf ihre Arbeiten warf; der rohe Aufseher wich ihm von weitem aus. Jedem bot er seinen zuvorkommenden Gruß; er war immer der erste, der das schwarze Käppchen über den spärlichen weißen Haaren lüpfte, und doch sollte es ihm offenbar dazu dienen, sein greises Haupt vor der Herbstluft zu schützen; denn neben dem Käppchen trug er den dreieckigen Hut unter dem Arm.

Der junge Mensch war unter dem Tore des Zuchthauses stehengeblieben. In seinen Mienen zuckte es wie Gewitter und Regenschauer; aber zum Weinen schienen diese Züge zu derb. Unwillkürlich bewegte er den Fuß, um dem alten Geistlichen entgegenzulaufen; er besann sich jedoch wieder und blieb schüchtern stehen. Als jener näher kam, zog er die Mütze und trat ihn mit einer linkischen Verbeugung an. Man konnte denken, wenn er ein Hund gewesen wäre, so wäre er mit freudigem Winseln an ihm emporgesprungen und hätte ihm Gesicht und Hände geleckt. So aber war er ein Wesen, um das der Zuchthausaufseher schwerlich seinen Pudel hergegeben hätte, ein entlassener Sträfling, ein unbändiger Mensch, voll Trotz und Roheit; und doch regte sich in seinem Herzen etwas, das wir auch in den winselnden Tieren ahnen und das die Bibel mit den Worten bezeichnet: das Seufzen der Kreatur.

»Mit Verlaub!« stammelte er, – »ich wollte nur dem Herrn Waisenpfarrer adieu sagen, weil der Herr Waisenpfarrer immer so gut gegen mich gewesen ist – ich hätt' ja nicht fortgehen können ohne das.«

Der Waisenpfarrer – denn dieser war es, dem die Seelsorge im Zuchthause oblag – neigte sich mit freundlichem Lächeln zu ihm. Er hatte aus den verlegenen, halb verschluckten Worten des sonst sehr anstelligen Burschen den rechten Kern herausgehört. »So ist Er denn also jetzt frei, Friedrich?« sagte er zu ihm. »Ich wünsch Ihm von Herzen Glück. Nun gebrauche Er aber auch seine Freiheit so, wie man eine Gottesgabe gebrauchen muß.«

»Ich versteh schon, Herr Waisenpfarrer!« erwiderte der Jüngling, der mit der ersten Anrede seine Beengung weggesprochen und sich in einen Ton bescheidener Zutraulichkeit hineingefunden hatte. »Ich versteh schon. Das ist wie mit dem Wein. Der ist auch eine Gottesgabe. Wenn man aber solche Gottesgabe zu hart strapaziert, so wirft sie den Menschen hin, daß er gleichsam wie vierfüßig wird. Dagegen, wenn man sie mit Maß genießt, so erfreut sie das Herz und macht helle Gedanken im Kopf. Grade so ist's auch mit der Freiheit. Wenn man von der über Durst trinkt, so kann sie einen auch wohin werfen, wo zum Beispiel keine Freiheit mehr ist.«

Bei diesen Worten wies er mit dem Daumen über die Schulter nach dem Gebäude, das er soeben verlassen hatte, und seine weißen Zähne blinkten lachend zwischen den kirschroten Lippen hervor.

»Ja, so ist's, mein Freund«, versetzte der Geistliche. »Man hat den Verstand dazu, daß man der Faust nicht ihren Willen läßt. Und es kommt nur darauf an, daß man einem Menschen seine gute Seite abgewinnen lernt. Eine gute Seite hat auch der Schlimmste. Wenn man aber einmal diese gefunden hat, so ist's, als hätte man den Schlüssel zu einer sonst verschlossenen Türe, und wenn man hineingeht, so trifft man oft auf Dinge, die man gar nicht hinter dieser Türe gesucht hätte. Da ist zum Exempel ein gewisser Friedrich Schwan. Den hat man mir geschildert als einen rohen, verworfenen Burschen, dessen Herz keiner guten Regung fähig sei – Faust im Sack! Die Leute urteilen eben nach der Außenseite – und wie ich ihn nun selber kennenlernte, da fand ich in ihm einen Menschen, dessen Herz wie ein wild aufgeschossenes Reis ist, trotzig und aufrührisch gegen jedes rauhe Lüftchen, weich und geschmeidig gegen jeden freundlichen Sonnenstrahl, einen Menschen, der gegen harte Worte und Behandlungen störrisch bleibt und den man mit Güte um den Finger wickeln kann. Ist's nicht so?«

»Ja, so ist's, Herr Waisenpfarrer«, antwortete der junge Mensch verlegen und gerührt.

»Nun, das ist aber auch keine Kunst, gegen Gute gut zu sein. Wenn's weiter nichts wäre als das, so würden wir ja durch die breite Pforte in den Himmel eingehen, statt durch die schmale. Wir müssen gegen unsere Nebenmenschen gerade so liebreich und dienstfertig sein, wie sie eigentlich gegen uns sein sollten, unangesehen, ob sie es sind oder nicht. Vielleicht gewinnen wir sie dadurch und bewegen sie, unser Beispiel nachzuahmen.«

»Ja, ja, Herr Waisenpfarrer«, fiel der junge Mensch lebhaft ein, »das ist gerade, wie wenn ein ungebautes Stück Feld umgebrochen werden soll. Da kommt es nur drauf an, daß einmal ein Anfang gemacht wird, der für den Fortgang und fürs Fertigwerden Bürgschaft gibt, und ist also ein kleines umgepflügtes Feldlein fast schon so wichtig wie das ganze künftige Neubruchland.«

»Er hat mich gar wohl gefaßt«, versetzte der alte Herr mit freundlichem Lächeln. »Wenn das Reich Gottes auf Erden erscheinen und ihm die Stätte bereitet werden soll, so tut es zuerst not, daß ein Kern von guten Menschen gezogen wird, von welchen die Güte und der Segen allmählich auf die andern übergehen kann. Die müssen aber festhalten, wie ein Häuflein Streiter, von denen der Ausgang einer Schlacht abhängt. Ja, mein Sohn«, fuhr er fort und legte ihm die abgemagerte Hand auf dieselbe Schulter, welche vorhin der Aufseher so unsanft berührt hatte, »da muß man den Pflug über das trotzige Herz gehen lassen, da muß man eine Beleidigung nicht mit Tätlichkeiten erwidern, die ins Zuchthaus führen. Vielmehr, wer zu jenen Kerntruppen gehören will, der muß gegen seinen Feind gar noch ein gutes Wort und ein freundlich Gesicht aufzuwenden haben, und was noch weit mehr heißen will, es muß ihm sogar von Herzen gehen.«

Der Jüngling, der irgendeinen Widersacher im Geiste vor sich stehen sehen mochte, trat bei dieser Zumutung betreten einen Schritt zurück. Die Größe der Aufgabe war ihm augenscheinlich schwer aufs Herz gefallen. – »Aber«, sagte er, »da wird mancher denken, wie es im Evangelium heißt: das ist eine harte Rede, wer kann sie hören?«

Der Greis lächelte. »Mein junger Freund ist sehr bibelfest«, versetzte er, »ich bemerke das heut nicht zum erstenmal. Die besten Kernsprüche, die schönsten Liederverse hat er fest im Kopfe behalten, aber ob auch in einem feinen Herzen? Oh, mein lieber Friedrich, ich fürchte« – bei diesen Worten hob er liebreich den Finger gegen ihn auf –, »ich fürchte, dieses trotzige Gemüt muß noch durch Leiden gebeugt und recht umgebrochen werden, wenn es ein Boden werden soll, darin der Same zu Früchten aufgehen kann. Mein Sohn, – habe Er immer den vor Augen, von dem wir jene Sprüche überkommen haben, der nicht schalt, da er geschlagen ward, und nicht dräuete, da er litt. Ich will Ihm aber nicht mit einem Male ein Werk auflegen, das für manche zartere Seelen noch zu schwer ist. Fange Er im Kleinen an, mein lieber Sohn. Strebe Er, sanftmütig zu werden. Denke Er immer zur rechten Zeit daran, den aufquellenden Zorn zu bezähmen. Vor allem aber will ich Ihm eines ans Herz legen. Er ist vermögender Leute Kind, und in einem Wirtshause fallen manche Brocken ab. Benütze Er diese Gelegenheit, um Gutes zu tun und nach Seinen Kräften den traurigen Unterschied, der in der Welt ist, ein wenig auszugleichen. Er kann, ohne Seinen Vater zu übervorteilen – und das darf Er ja nicht tun! –, manchem armen Schlucker etwas zufließen lassen und sich ein Verdienst vor Gott –«

Ein Geräusch unterbrach die warmherzigen Worte des Geistlichen. Unzweideutige Schläge hallten von dem untern Stockwerk her. Sie folgten mit unerbittlicher Regelmäßigkeit aufeinander, so daß der Greis die schwache Hand ausstreckte, als ob diese abwehrende Gebärde der Grausamkeit ein Ende machen könnte. Man hörte kein Geschrei, sondern nur ein dumpfes Knurren, in welchem jedoch der menschliche Ton zu unterscheiden war. Dieses Knurren, das sich in Zwischenräumen wiederholte, machte den Vorgang weit unheimlicher, als wenn die lautesten Wehklagen ihn begleitet hätten.

Der junge Friedrich ballte die Faust gegen das Gebäude. »Diese Prügelhunde!« schäumte er, »es ist ihnen nur wohl, wenn sie zuschlagen können.«

Der Waisenpfarrer legte ihm wieder die Hand, die aber diesmal zitterte, auf die Schulter. »Mein Sohn«, sagte er, »die Menschen haben es mit der Sünde verdient, daß der Schmerz und das Wehtum in die Welt gekommen ist. Wo aber Strafe ist, heißt es, da ist Zucht, und wo Friede ist, da ist Gott.«

Die Schläge hallten dazwischen fort. Der Greis brach mit einem tiefen Seufzer die Unterredung ab. »Nun lebe Er wohl, mein lieber Friedrich«, sagte er. »Gott sei mit Ihm auf allen Seinen Wegen. Denke Er an das, was ich Ihm gesagt habe, damit wir uns fröhlich und eben darum niemals mehr an diesem Orte wiedersehen.«

Er drückte ihm die Hand und wankte so eilig, als er es vermochte, an seinem Stabe dahin. Zwar hatte auch er die Meinung seinerzeit ausgesprochen, daß durch grausame Züchtigungen der Wille Gottes erfüllt und sein Kommen vorbereitet werde, aber er schien doch nicht gern dabeizusein und hatte es in diesem Augenblick wohl tief empfunden, daß das Reich Gottes, so wie er es verstand, noch sehr ferne sei.

Der junge Friedrich aber blieb unter den Fenstern des Zuchthauses stehen und lauschte dem Geräusch der Pein, vor welchem sein ehrwürdiger Beichtiger entflohen war.

Die Schläge hörten endlich auf. Bald hernach öffnete sich die Türe, und von einer unsichtbaren Hand geschleudert kam ein Mensch herausgeflogen. Der Stoß war eben nicht sanft gewesen, doch hielt der Hinausgeworfene sich wie eine Katze auf den Füßen. Sein Gesicht zeigte trotz der zigeunerischen Farbe die Spuren überstandener Anstrengung, es war dunkelrot, und ein schielendes Auge gab diesen jugendlichen Zügen einen furchtbaren Ausdruck. Der junge Zigeuner, der soeben einen rauhen Abschied durchgemacht hatte, schüttelte sich am ganzen Leibe, er kehrte sich gegen das Zuchthaus um, streckte die Zunge, so lang er konnte, heraus und ging dann gemächlich seiner Wege.

»Ich glaub, sie haben dich mit ungebrannter Asche gelaugt, und das scharf«, sagte Friedrich, als er an ihm vorüberkam.

»Ich glaub auch«, war die trockene Antwort des Zigeuners, der einen Blick aus seinem scheelen Auge über den Frager hinlaufen ließ und sich von dannen machte.


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