Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Tag um Tag verging, aber keiner brachte die ersehnte herzogliche Resolution. Die Tage wurden zu Wochen, und eine reihte sich an die andere, ohne dem Harrenden das Versprechen zu erfüllen, das er sich in Stuttgart mit fremdem Gelde erkauft hatte. Träg und eilig zugleich ging ihm die unbarmherzige Zeit; während sie ihn endlos auf die Gewährung, die er von der Menschenwelt forderte, warten ließ, zeigte sie ihm jeden Tag den unaufhaltsamen Fortschritt, welchen die Natur machte, um ihm ein Geschenk zu bringen, das jener Gewährung nicht zuvorkommen durfte, wenn es nicht den Stempel des Unglücks und der Schande tragen sollte.

»So kann die Sach nicht fortgehen«, sagte Christine eines Tages zu ihm. »Ich möcht naus, wo kein Loch ist. Die Meinigen haben mir ausgeboten, der Sommerverdienst sei zu End, und mit dem Winter geh das Hungerleiden vollends ganz an. Sogar mein Jerg, der mir immer noch ein wenig den Kopf gehebt hat, sagt, es sei in der ganzen Welt Brauch, wer die Gais angebunden hab, der mög sie auch hüten.«

»Weiß wohl«, bemerkte er finster, »der Bauer tut alles gern, wenn er muß.«

»Aber bedenk auch, wie sie auf'm dürren Bäumle sind. Ich selber schäm mich, daß ich ihnen fort und fort hinliegen muß, und du solltest dich auch schämen. Ich weiß, was ich tu: wenn meine Zeit kommen ist, so trag ich dein Kind in deines Vaters Haus und leg's ihm vor die Tür. Da, er soll's säugen, denn ich werd ihm nichts geben können.«

Dieser bittere Spott der Verzweiflung schnitt ihm glühend ins Herz. »Hat er seitdem nichts geschickt«, fragte er, »kein Brot, nicht einmal eine Schüssel Mehl?«

»Nichts«, erwiderte sie, »kannst dir wohl denken, daß ich dir's gesagt hätt.«

Er knirschte mit den Zähnen. »Wohl wenn er's nicht sichtbar geben will, so soll er's unsichtbarlich geben. Ruf deinen Jerg, er muß uns behilflich sein, ich will mit ihm deines Vaters Wagen rüsten, und du schaffst Säck her, wenn's dran fehlt, so entlehnst du in der Nachbarschaft.«

»Was willst denn auf dem Wagen führen?« fragte sie schüchtern.

»Die Säck!« rief er noch barscher als zuvor.

»Und was willst in die Säck tun?«

»Fressen!« antwortete er. Seine Augen funkelten, die Narbe in seinem Gesicht war blutrot geworden, und sein ganzes Aussehen erschien so wild, daß sie nicht weiter zu fragen wagte.

Jerg, der kein Mann von vielen Worten war und sich unbedingt an seinen natürlichen Schwager anschloß, sowie er diesen tatkräftig auftreten sah, half ihm den Wagen zurechtmachen, während Christine unter der hinteren Tür saß und die Säcke flickte, wo sie Löcher an ihnen entdeckte. Niemand fragte, was dieses Vorhaben bedeuten solle. Der Vater lag oben im Bett und sah meist stillschweigend an die Wand oder nach der Decke hinauf, und die Mutter befand sich bei ihm. Der kleine Bube tummelte sich um den Wagen herum und sah den beiden jungen Männern zu.

Als es Nacht wurde, mußte Jerg die Kuh aus dem Stalle führen, und Friedrich half ihm sie an den Wagen spannen. Dann befahl er Christinen, eine Laterne anzuzünden und mitzunehmen. Sie kam mit der Laterne, blieb aber stehen und sagte: »Um Gottes willen, Frieder, was hast vor? Mir ist's, als sei's nichts Gut's.«

»Hörst den Teufel schon Holz spalten?« fragte er. »So gut du dein Kind in meines Vaters Haus tragen kannst, so gut kann ich ihm auch Futter draus holen,«

»Ach Gott«, seufzte sie, »das ist eine unrechte und gewagte Sach. Ich will nichts davon.«

»Du läßt mir ja keine Ruh!« rief er, und der Grimm klang aus seiner gedämpften Stimme heraus. »Vorwärts!«

Er ergriff sie am Zopfbändel und zog sie fort. Sie verbarg die Laterne unter der Schürze und folgte willig. Der Wagen fuhr langsam durch den Flecken. Es war überall still, kein Mensch begegnete ihnen. Vor der »Sonne« hielten sie an. Auch dort lag alles im Schlafe. – »Ihr beide bleibt da unten«, sagte Friedrich, »für euch ist's ein fremdes Haus, man soll euch keinen Einbruch vorwerfen können. Ich bin hier in meinem eigenen, das weiß sogar der Hund, die unvernünftig Kreatur, denn sehet, er rührt sich nicht.«

Er öffnete einen Laden und verschwand mit einem Sack, den er bald schwerer, als er zuvor gewesen war, wiederbrachte. So trug er mit starker Hand einen Sack um den andern herab und bot ihn zu dem Laden heraus, wo ihn Jerg in Empfang nahm und auf den Wagen lud. Ohne durch einen Laut im Hause gestört zu werden, brachte er endlich den letzten Sack. Nachdem das nächtliche Geschäft beendigt war, gab er Jerg einer Wink, mit dem Wagen umzukehren, wobei er die in Eile geladenen Säcke hielt, damit keiner herunterfiel. »Vorwärts, marsch!« kommandierte er dann, und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.

Als sie den Wagen abluden, überzählte er die ungleich gefüllten Säcke. »Es werden zirka sechs, sieben Scheffel sein«, sagte er mit der Sicherheit des Kenners.

»Wenn nur dein Vater nicht erfährt, was du ihm für einen Besuch gemacht hast!« seufzte Christine.

»Der erfährt's freilich«, erwiderte er. »Der Knecht, der neben der Frucht liegt, ist aufgewacht, hat sich ein wenig auf'm Ellenbogen aufgerichtet und hat mich anglotzt. Der schweigt nicht!«g

»Jesus, Jesus! Und das sagst du erst jetzt.«

»Es kommt immer noch früh genug. Gut ist's auf alle Fäll, wenn die Sach mit dem Christle morgen gleich ins reine kommt. Jetzt aber fort ins Bett und laß dir von vollen Schüsseln träumen.«

Am folgenden Morgen gab es in der »Sonne«, sobald der Sohn des Hauses sich blicken ließ, einen jener stürmischen Auftritte, welche der Nachbarschaft so oft verrieten, wie es um den Frieden desselben stand. Sein Vater empfing ihn mit einer Flut von Schimpfworten, warf ihm den nächtlichen Diebstahl vor und drohte, ihn alsbald wieder ins Zuchthaus zu bringen. Der Knecht hatte ihn angegeben, schon deshalb, um, wie er nachher entschuldigend zu ihm sagte, für den Fall der Entdeckung sich selbst von dem Verdachte zu reinigen; doch wollte er ihn nur einen kleinen Sack mit Getreide haben fortschleppen sehen.

»Wenn Ihr mich ins Zuchthaus bringen wollt, Vater, so steht's Euch frei«, sagte Friedrich. »Ihr habt's ja schon einmal getan. Freilich haben die Leut verschiedentlich drüber geurteilt, daß Ihr Eurem eigenen und einzigen Sohn zum Ankläger geworden seid.«

»Das ist nicht wahr«, entgegnete der Sonnenwirt. »Die Sach ist damals ohne meine Schuld offenkundig worden, und ich hab's nicht hindern können, daß sie vor Amt kommen ist.«

»Also wollt Ihr jetzt nachholen, was Ihr damals versäumt habt?«

»Gib raus, was du mir gestohlen hast.«

»Es ist weit fort. Ihr findet's nicht, und wenn Ihr alle Eure Stallaternen anzündet. Laßt mich majorenn werden und gebt mir mein Mütterlich's heraus, dann will ich mit Euch abrechnen und will Euch den Schaden ersetzen, daß nicht ein Kreuzer dran fehlen soll, und wenn der Fruchtpreis derweil anzieht, so soll der Gewinn Euer sein. Dann könnt Ihr von Stehlen sagen, soviel Ihr wollt, 's glaubt 's Euch niemand.«

»Hast du deinem Weibsbild davon gebracht?«

»Ihr könnt in und unterm Bett bei ihr suchen, Ihr findet nichts. Es ist aber eine recht Schand für Euch, Vater, daß ein reicher Mann wie Ihr dem kranken Hirschbauer ein einzigsmal eine Schüssel Mehl schickt.«

»Was?« fuhr der Sonnenwirt auf; »ich hab schon öfter gesagt, daß man hinausschicken soll.«

»Dann ist's unterwegs in irgendein Loch gefallen«, versetzte Friedrich.

Der Sonnenwirt schwieg unschlüssig. Es machte ihn betroffen, obwohl er es sich bei den bekannten Gesinnungen seiner Frau leicht erklären konnte, daß seine Befehle nicht vollzogen worden waren, und unter diesen Umständen glaubte er, bei seinem reichen Fruchtvorrate, den von dem Knecht angegebenen Verlust ohne Geschrei ertragen zu sollen. Er ging zur Stube hinaus und ließ seinen Sohn in Ungewißheit, was er tun werde.

»Hast dein Hausdieb im Verhör gehabt?« fragte seine Frau draußen.

»Woher weißt du's denn?«

»Du schreist ja so laut, daß man's in Göppingen hört. Und jetzt willst immer noch in deiner Langmut zusehen?«

Der Alte kratzte sich hinter dem Ohr. »Das Stehlen will ich ihm vertreiben«, sagte er. »Du aber sagst mir weder im Pfarrhaus noch im Amthaus ein Wort davon, sonst ist's zwischen uns aus und ich laß ihn morgen heiraten und nehm alle beide ins Haus zu mir.«

»So hitzig?« maulte sie.

»Erstens«, erklärte er, »hätt ich ihn zwar gern in Numero Sicher, aber nicht im Zuchthaus, und zweitens möcht ich mir nicht nachsagen lassen, daß ich dem Hirschbauer nichts als ein Schüssele mit Mehl geschickt hab. Was sie jetzt haben, das sollen sie behalten.«

Der Tag verging ruhiger, als er begonnen hatte. Friedrich wußte zwar immer noch nicht, wessen er sich zu versehen habe; auch ließen ihn gewisse Anspielungen seiner Stiefmutter, welche von der Notwendigkeit sprach, Schlösser und Riegel ausbessern zu lassen, nichts Gutes ahnen; doch meinte er aus dem Betragen seines Vaters schließen zu dürfen, daß seine eigenmächtige Pfändung ohne Folgen bleiben werde.

Am nächsten Tag trafen sich Friedrich und Jerg mit dem Krämerchristle.

»Tut's dir nicht leid nach deiner schönen Büchs'?« fragte der Krämer den Sonnenwirtsohn.

»Ja, wenn ich die wiederhaben könnt!« rief Friedrich.

»Bruderherz, kannst sie haben! Ich hab dir sie aufgehoben, weil ich wohl gewußt hab, daß du wieder nach ihr fragen wirst. Das heißt – bei der Hand hab ich sie nicht, sondern ich hab sie in Gmünd versetzt, aber dort kann ich sie jeden Augenblick wiederhaben. Und damit du siehst, daß ich nicht bloß scharfsinnig, sondern auch ehrlich gegen dich bin – wie?« unterbrach er sich, zu Jerg gewendet, »was hat er denn zu dem Geld gesagt, das ich ihm für das Gewehr geschickt hab? Hat er mich nichts geheißen?«

»Ei ja, 'n Spitzbuben.«

»Siehst, um das nämlich Geld kannst dein Gewehr wiederhaben. Jetzt geh und heiß mich noch einmal 'n Spitzbuben.«

»Bist ein Biedermann«, sagte Friedrich.

»Was, du, der best Schütz weit und breit, hast dich zur Ruh setzen wollen? Du könntest ja vor den Bauern nicht verantworten. Und ein paar Fährten hab ich dir ausgewittert, ich sag nichts, aber das Herz wird dir im Leib lachen. Nun, du kommst doch zu mir und holst die Büchs, dann gehen wir miteinander.«

»Aber Geld hab ich keins«, sagte Friedrich. »Kannst Haber brauchen und etwas Dinkel?«

»Das führ ich nach Gmünd, freilich, und bring gleich das Gewehr mit zurück.«

»Da beim Jerg kannst die Frucht fassen, je eher, je lieber, aber in der Stille muß es sein.«

»Heut abend noch will ich sie holen. Auf Wiedersehen, du verlorener und wiedergefundener Sohn.«

»Der hat gut uneigennützig sein«, sagte Friedrich, nachdem jener sich verabschiedet hatte. »Wenn ich eine glückliche Hand hab, so hat er den Vorteil davon und keine Gefahr. Er weiß die beste Schlich im Wald und die beste Schlich im Handel, aber den gefährlichen Teil überläßt er andern, und wenn's zum Klappen kommt, so hat er nichts getan. Aber wo ist denn meine Christine?«

»Im Beckenhaus«, antwortete Jerg. »Der Beckenbub hat sie in aller Eil geholt. Ich weiß nicht, was dort los ist. Da kommt sie ja!«

Christine kam atemlos herbei. »Weißt was Neu's, Frieder?« rief sie schon von weitem.

»Nu, was denn?«

»Die Resolution ist da, du bist schon seit vierzehn Tag majorenn und weißt nichts davon.«

»Was Teufel! Wie kommt denn das, und woher hast denn du's?«

»Von der Dote; die hat mich holen lassen. Aber von wem's die hat, das bringst du nicht raus, und wenn ich dich raten laß, bis die Kuh 'n Batzen gilt.«

»Nu, so sag's.«

»Die Kathrine aus dem Amthaus ist's.«

»Was! Das wär!!«

»Ja, die Kathrine ist zu der Dote geschlichen und hat sie ums Tausendgott'swillen bittet, sie soll sie nicht verraten, aber seit vierzehn Tag sei der Bescheid von Stuttgart da und lieg auf des Amtmanns Schreibtisch. Es hab ihr schier das Herz abdruckt, daß wir nichts davon wissen sollen. Du könntest herzhaft auftreten und die Proklamation verlangen. Aber wenn's rauskäm, daß sie's ausgeschwätzt hat, so wär sie unglücklich.«

»Nein, nein, da muß man ganz still sein. Brav ist's von dem Mädle, das muß ich sagen, aber so viel seh ich auch bei der Gelegenheit, daß es keine einem nachträgt, wenn man sie einmal hat küssen wollen.«

»So, du Lumple, was muß ich hören? Ist's beim Wollen blieben? Hat sie dich heißen um ein Haus weiter gehen?«

»Ich hab mir nicht Müh gnug geben. Aber was denkt der Amtmann? Getraut sich der, fürstliche Resolutionen zu unterschlagen? Da steckt gewiß die Frau Sonnenwirtin mit unter der Decke. Ich möcht nur wissen, ob mein Vater etwas davon weiß.«

»Ja, ja«, sagte Jerg vergnügt, »man spricht 's ganz Jahr von der Kirchweih, endlich ist sie.« Er ging und ließ die beiden allein.

»Wenn ich gestern gewußt hätt', was ich heut weiß«, sagte Friedrich, »so hätt' mein Vater seinen Dinkel und Haber noch. Und hätt ich's nur eine Stund früher gewußt, dann hätt ich den Handel mit dem Christle nicht gemacht.«

»Was hast denn mit dem gehandelt?«

»Meine Büchs will ich wieder von ihm zurückkaufen. Um deinetwillen hab ich sie von mir getan, und um deinetwillen nehm ich sie wieder an mich. Es ist auch so noch immer möglich, daß ich sie einmal brauch, um Weib und Kind zu verhalten.«

»Laß du das Wildern sein«, sagte Christine, »und denk auf andere Weg, wie du Weib und Kind ernähren willst. Wiewohl, es geht nicht immer so schlimm aus. Hab ich dir's nie von unsrem Haus erzählt? Es ist ein altes Sagen in unserer Familie, ich hab meinen Vater schon davon reden hören, daß sein Urururgroßvater ein arger Wilderer gewesen sei. Den hat der Herzog gefangen und hat ihn wollen auf einen Hirsch schmieden lassen, hat sich aber anders besonnen, wie er schon halb angeschmiedet gewesen ist, und hat ihn begnadigt, weil ihm seine Antworten so gefallen haben, hat ihm auch das Haus da baut und ihn hergesetzt, um den Wilderern aufzupassen, weil ihm alle ihre Schlich und Weg wohlbekannt gewesen sind. Nach ihm ist sein Sohn auf dem Haus gesessen, und dann wieder dessen Sohn, und so immer fort, so daß das Haus seit Urgedenken unsrer Familie angehört. Sie hat sogar dem Herzog eine besondere Steuer draus zahlen müssen, die erst unter meinem Vater in Abgang kommen ist.«

»So?« sagte Friedrich. »Da kommt wahrscheinlich auch der Nam Hirschbauer her?«

»Mag sein, ich weiß nicht«, erwiderte sie.

»Jetzt aber laß uns drauf denken, wie wir unser Haus bauen. Majorennitätserklärung, Proklamation, Kopulation, das muß wie Blitz und Donner aufeinander gehen. Voran, voran, eh's der Teufel erfährt und Unsamen streut!«


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