Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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Das Gelächter dauerte noch lange fort, bis plötzlich der Bäcker seine Frau aufmerksam machte: »Du, Weib, da klopft's am Küchenfenster.« Sie horchte hin, ohne daß etwas zu hören war; nach einer Weile aber klopfte es wiederholt und vernehmlich.

»Aha, das ist ein Geist!« rief der Müllerknecht.

»Machet mir nicht angst«, rief die Bäckerin. »Ich will's übrigens mit ihm aufnehmen«, setzte sie hinzu und ging in die Küche.

»Ich glaub nicht an Geister«, sagte der betrunkene Schütz.

»Warum nicht?« schrien die umsetzenden Bauern eifrig.

»Weil mein Glas schon eine ganze Ewigkeit leer dasteht und sich nicht füllen will! Wenn's Hexenwerk gäb, so müßt's von selber voll werden.«

Der Kübler, der kaum mehr die nötige Kraft zum Reden besaß, schob dem Nimmersatt sein Glas hin.

»Jetzt möcht ich aber doch nächstens aus der Haut fahren über die Hungermück, die einem da den ganzen Abend hinhockt!« sagte der Invalide leise zu seinem jungen Nachbar. »Wenn ich doch nur auch ein Mittel wüßt, wie man ihn fortbringen könnt, den Halunken.«

»Da wird bald geholfen sein«, flüsterte Friedrich und wußte sich vom Tisch und zur Stube hinaus zu machen, ohne daß sein Weggehen jemand in die Augen fiel.

Der Invalide, der nichts von seinem Vorhaben ahnte, erdachte inzwischen gleichfalls einen Kunstgriff, um den beschwerlichen Schmarotzer fortzubringen. »In der ›Sonn‹ ist's heut lustig«, sagte er, »der Sonnenwirt hat die Spendierhosen an und läßt eine Flasche um die andere springen; ich hab gehört, er hab einen Fahnen auf'm Hut wehen.«

»Das kommt selten vor, daß der Sonnenwirt 'n Spitzer hat«, sagte der Müllerknecht. »Wahr ist's aber: wenn er angestochen ist, dann spendiert er. Außerdem tut er's nicht.«

Auf den Schützen wirkte die Mitteilung sichtbar beunruhigend. Er wußte nicht recht, wie er es angreifen solle, um alsbaldigen Gebrauch von ihr zu machen. Endlich siegte doch die Lockung über die Furcht, daß man seine Absicht merken könnte. Er behauptete stotternd, er müsse im Flecken nachsehen, ob keine Ungebühr vorgehe, wünschte umständlich gute Nacht und schwankte zur Türe hinaus, während der Invalide und der Müllerknecht einander heimlich anlachten.

»Der hat auch schwer geladen«, sagte der Müllerknecht hinter ihm drein. »Der hätt nicht noch mehr nötig.«

Kaum war er draußen, so kam Friedrich wieder herein. »Alle Teufel!« flüsterte er dem Invaliden zu, indem er sich geschwind wieder zu ihm setzte, »warum habt Ihr ihn fortgelassen? Wo ist er hin?«

»Ist er Ihm denn nicht begegnet?« fragte der Invalide, der das sonderbare Benehmen seines jungen Freundes nicht begriff.

»Ich hab mich hinter die Tür versteckt. Wo ist er denn hin?«

»Rechts hinunter, der ›Sonne‹ zu.«

»Ruft ihn, ruft ihn zurück!« sagte Friedrich mit größter Hast, ohne zu bedenken, daß dazu ein hölzernes Bein nicht das tauglichste war. »Es ist zu spät«, murmelte er in kalter Bestürzung, »gebt acht, jetzt fliegt er.«

Dem Invaliden ging ein Licht auf. Es war aber keine Zeit mehr, etwas zu ersinnen, das die Gefahr abwenden konnte, ohne den Täter zu verraten, denn in demselben Augenblick erfolgte auf der Straße ein furchtbarer Knall, der das Haus erschütterte. Alle sprangen vom Tisch auf, ausgenommen der Kübler, der stumm verwundert um sich sah. Friedrich war der erste, welcher hinausstürmte, da er glaubte, unmittelbar nach dem Knall, dessen Ursache ihm nur zu gut bekannt war, einen Schrei von einer weiblichen Stimme vernommen zu haben, der ihm das Mark durchschnitt. Draußen stand der Schütz unbeweglich wie eine Salzsäule. Friedrich überließ es den andern, sich mit ihm zu beschäftigen, und eilte mit klopfendem Herzen weiter. Obgleich es hell war, sah er niemand und wollte eben wieder umkehren, als er nicht weit von sich schluchzen hörte. Er ging dem Tone nach. Im Schatten eines Hauses stand ein Mädchen angelehnt, das die Hände vors Gesicht hielt und heftig zitterte. »Um Gottes willen!« sagte er, »ist ein Unglück geschehen?« Er eilte auf sie zu und zog ihr die Hände vom Gesicht. Es war Christine.

»Hat's dir etwas getan?« fragte er verzweiflungsvoll.

»Nein, es ist nur der Schreck«, antwortete sie. »Es ist mir in alle Glieder gefahren und hat mich so angegriffen, daß ich weinen muß.«

»Gott sei Lob und Dank!« flüsterte er. »Da hätt ich eine schöne Dummheit anrichten können.«

»So?« sagte sie, noch immer weinend, »Jetzt weiß ich, wer mir das getan hat; für solche Streich bedank ich mich. Vor so einem Mutwillen ist man ja seines Lebens nicht sicher.«

Der Brauskopf, der soeben noch bereit gewesen wäre, sie fußfällig um Verzeihung seiner unsinnigen Torheit zu bitten, war plötzlich umgewandelt. »Du tust ja, wie wenn's dich mitten auseinandergerissen hätt«, sagte er kalt. »Sei du froh, daß dir's nichts getan hat, und lauf nicht rum bei der Nacht, dann widerfährt dir nichts.«

»Ich kann ja heimgehen«, erwiderte sie tiefbeleidigt. »Den Gang hätt ich mir ersparen können. Ich will mir's merken. Gut Nacht!« Sie bog um das Haus und war verschwunden.

Friedrich wandte sich trotzig und ging zurück. Die Gesellschaft hatte indessen den Schützen wieder in die Wirtsstube gebracht. Auch an ihm war die Gefahr glücklich vorübergegangen, und nur der Knall hatte ihn anfangs bis zur Sinnlosigkeit betäubt. Doch führte er noch etwas verwirrte Reden und versicherte, er habe einen Geist gesehen, einen weiblichen Geist, der ihn durch den Blitz des Feuers mit großen Augen angestarrt habe. Es wurde lebendig in der Wirtschaft. Die Scharwache kam, um vergebliche Untersuchungen nach dem Urheber der gefährlichen Mine anzustellen; auch hatte der Lärm Gäste aus anderen Wirtshäusern hergelockt. Friedrich ließ Wein heraufschaffen, zunächst für den Schrecken, wie er sagte, den der Schütz gehabt; aber es fanden sich auch noch andere Abnehmer. Man sprach und schrie über den Vorfall; die einen schimpften auf den Täter, die andern lachten. Der Invalide spottete, daß man über einen Mordschlag ein so großes Aufheben machte; in seinen Schlachten habe es anders gedonnert, sagte er und machte einen neuen Versuch, seine Kriegsgeschichten zu erzählen; aber die Leute waren zu aufgeregt, um ihm zuzuhören. Gegen Friedrich wurde kein Verdacht laut; die wenigen, die den wahren Täter erraten hatten, wußten zu schweigen.

Mitten im Tumult zupfte ihn die Bäckerin am Arm und gab ihm ein Zeichen. Er folgte ihr in die Küche. »Es ist ein absonderlicher Briefträger dagewesen«, sagte sie und gab ihm einen Brief. »Das Christinele hat gesagt, es hab den ganzen Abend keinen Menschen finden können, der ihm den Brief fortgetragen hätt, und in die ›Sonne‹ hab es nicht mit ihm gehen mögen; da hab es eben versucht, ob das Briefle nicht hier an seinen Mann zu bringen wär, und richtig, es hat keinen Metzgergang getan. Ich bin nur froh, daß dem Kind nichts geschehen ist; denn kaum ist es fort gewesen, so ist der teufelhäftig Knall losgegangen. Die Jugend wird immer schlimmer. Ich wollt, man tät den Malefizkerl, der den Mordschlag gelegt hat, an den Ohren kriegen und tüchtig schütteln, das wär ihm gesund.«

»Dem Mädle ist nichts widerfahren«, sagte Friedrich etwas verlegen, »ich hab draußen nachgesehen, es ist kein Mensch verunglückt. Was steht denn in dem Brief?«

»Weiß ich das?« entgegnete sie mit schlauem Lächeln, »kann ich wissen, was ihr für Geschäfte miteinander habt? Nun, ich will nicht neugierig sein.«

Sie ging in die Stube. Friedrich erbrach mit bebender Hand den Brief und las ihn bei der trüben Küchenampel. Christine bat ihn um Verzeihung und rief ihn zu sich zurück! In seinem Entzücken dachte er nicht daran, daß seit der Ankunft dieses Briefes schon wieder eine neue Wolke zwischen ihn und sie getreten war, er stand wie von einer Flamme umgeben, drückte den Brief ans Herz und frohlockte laut auf. Zu gleicher Zeit erscholl auch aus der Stube ein Jauchzen und Gläsergeklirr. Die Glocke vom Turm hatte den neuen Zeitabschnitt zu verkündigen begonnen, der eigentlich mit jeder Sekunde eintritt, der aber da, wo zugleich die Jahreszahl sich mit ihm verändert, einen tieferen Eindruck auf den Menschen macht, und nach alter Sitte stießen die Leute mit den Gläsern an und riefen einander Glückwünsche auf das neue Jahr mit seinen noch verschleierten Geschicken zu.

Friedrich eilte in die Stube, ergriff sein Glas und stieß mit an.

»Prosit 's Neujahr!« rief ihm der Invalide zu. »Es lebe das Jahr siebenzehnhundertneunundvierzig!« antwortete er.

»Siebenzehnhundertfünfzig!« schrie man ihm von allen Seiten entgegen, und der Rechnungsfehler wurde mit lautem Gelächter zurechtgewiesen. »Der will das Neujahr leben lassen und kann nicht hinein!« spottete einer. »Fünfzig schreibt man jetzt, und das zehn Jahr lang, mußt dich dran gewöhnen«, sagte ein anderer. »Kannst nicht aus der Zahl heraus, wo das Jahrhundert in sein Schwabenalter gekommen ist?« fragte ein dritter.

»Mag leicht sein«, sagte Friedrich halblaut, so daß nur der Invalide es hören konnte, »in dem Jahrzehnt, das sich mit vierzig schreibt, hat meine rechte Mutter noch gelebt, und da ist es wohl zu begreifen, daß mir die Zahl wie eine alte Heimat ist, aus der man nicht gern heraus mag. Also das Jahr siebenzehnhundertfünfzig soll leben!« rief er, nochmals das Glas erhebend, und in seinem Herzen setzte er hinzu: »Das Jahr, das mir Ersatz geben soll!« Es war ihm, als ob er jetzt wieder eine Mutter hätte. Er hielt es nicht lange in der Gesellschaft mehr aus. Es war still und sanft in ihm geworden, und diese innere Glückseligkeit taugte nicht zu dem, was um ihn her vorging. Das Lachen und Johlen nahm überhand, und zwar um so ungestörter, als die Polizei sich selbst daran beteiligte. Der Schütz, der durch den Schrecken ziemlich nüchtern geworden war, hatte die neue Gelegenheit zum Trinken nach Kräften benutzt und machte schon wieder Riesenfortschritte in der Trunkenheit. Der Kübler hatte von seinen fünf Sinnen keinen einzigen mehr ganz beisammen und belustigte die Gesellschaft durch die grunzenden Laute, die er von sich gab. »Bringet die Noten im Kübel her, die S... will singen!« rief der Schütz, aber während er sich über seinen Genossen lustig machen wollte, stürzte er auf einmal mitsamt dem Stuhl zu Boden und stand nicht mehr auf. Das wilde Gelächter über diesen Auftritt schallte noch lange hinter dem Flüchtling her, der die Herrlichkeit hinter sich ließ, ohne gute Nacht gesagt zu haben.

Zu Hause fand er seinen Vater noch wach und noch immer von Gesellschaft umgeben. Er brummte über sein langes Ausbleiben, doch mehr, wie es schien, aus väterlichem Wohlwollen, daß er sich ihm an einem so heiteren Abend entzogen hatte, als aus Mißmut darüber, daß er seiner Pflicht nicht nachgekommen war. Noch in später Stunde waren Fuhrleute angelangt; sie fluchten wacker über den langen Aufenthalt, der ihnen durch verschiedene Zufälle und am meisten durch den Eßlinger Zoll verursacht worden war. Friedrich widmete sich mit Eifer ihrer Bedienung, und ihre Scherzreden bewiesen, daß er von lange her bei ihnen wohl angeschrieben sei. »Er geht so leichtfüßig einher, als ob er in der Luft wandeln tät«, sagte einer derselben von ihm, und die Bezeichnung war richtig, denn das Gefühl, das ihn seit dem Empfang von Christinens Brieflein beseelte, hatte ihm gleichsam Flügel an die Sohlen geheftet.

Er ging als ein glücklicher Mensch zu Bette, trunken von Liebe und auch ein wenig vom Wein. Da er nicht sogleich einschlafen konnte, so hörte er noch den Neujahrswunsch der armen Kinder, die, mit Lichtern umherziehend, vor den Häusern zu singen pflegten. Es war ein einziger Vers, der für jedes Mitglied der Familie, und wenn sich ihre Zahl noch so hoch belief, besonders wiederholt wurde. Zuerst traf die Reihe den Hausvater, dann die Mutter; die Kinder, so viel ihrer waren, wurden jedes einzeln angesungen, dann kamen die Mägde, dann die Knechte und ganz zuletzt, wenn der Gratulationszug vor einem Wirtshause hielt, die bekannteren Gäste, die darin wohnten. Die Kinder sangen, als die Reihe an Friedrich kam:

Jetzt wünschen wir auch dem Herrn Johann Frieder
Ein gut's neu's Jahr
Ein gesundes Jahr,
Ein glücklich's Jahr,
An Fried und Freud ein reiches Jahr.
Gott mach es wahr!
Gott gebe, daß es werde wahr!

»Gott gebe, daß es werde wahr!« sprach Friedrich in seiner Kammer nach.


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