Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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Zehntes Kapitel

Der erste Gegenstand, mit welchem Friedrich sich bei seinem Erwachen am Neujahrsmorgen beschäftigte, war der Brief, der ihn gestern nacht so glücklich gemacht hatte. Er zog ihn unter dem Kopfkissen hervor und las ihn aber- und abermals. Dabei konnte er freilich eine Wahrnehmung, die ihm im ersten Jubel so gut wie entgangen war, nicht unterdrücken: Handschrift und Rechtschreibung des Briefes stellten in ihrer Unbehilflichkeit und Verworrenheit das grade Gegenteil der zierlichen Gestalt der Schreiberin dar – und Friedrich, der einigermaßen schulgerecht zu schreiben vermochte, empfand bei aller inniger Empfindung doch auch einen leisen Beigeschmack spöttischer Überlegenheit.

Christinens Brief ist infolge von Begebenheiten, von denen wir späterhin berichten werden, noch jetzt vorhanden; er lautet, in verständliches Deutsch, umgeschrieben so:

»Geliebter Schatz, es ist mir von Herzen leid, daß ich dich so erzürnet habe, ich bitte dich, verzeihe es mir wieder, ich will's nimmer tun. Wenn es sein kann, so komm du noch einmal zu mir, daß ich mündlich mit dir reden kann. Weiter weiß ich nichts zu schreiben, als daß du seiest von mir zu tausendmal gegrüßt und in den Schutz Gottes befohlen. Ich verbleibe dein getreuster Schatz bis in den Tod. Meinen Namen will ich nicht nennen, wenn du mich lieb hast, wirst du mich wohl kennen. Datum diesen Tag. Nehme fürlieb mit dieser schlechten Handschrift, ich kann vor Traurigkeit nicht besser schreiben.«

»Geliebter Schatz, du seie von mir zu tausendmal gegrüßt und in den Schutz Gottes befohlen!« wiederholte Friedrich halb entzückt, halb lachend, als wär das Mädchen gegenwärtig und müßte sich wegen ihres schülerhaften Schreibens von ihm necken lassen. Dabei machte er eine Bewegung, wie wenn er ihre gelben Zöpfe fassen wollte, einer Glockenschnur ähnlich, an der man läutet, damit oben jemand zum Fenster heraussehe, um nachbarlichen Verkehr zu pflegen oder ein Almosen zu spenden.

Mitten in diesen zärtlichen Träumereien fiel es ihm jedoch ein, daß er die Schreiberin des Briefes für ihre doppelte Mühe gar schlecht belohnt habe. Er hatte ihr mit harten Worten ihr nächtliches Umherstreichen vorgeworfen, dessen Zweck doch nur der gewesen war, ihre schlechte Handschrift an den rechten Mann zu bringen, und während sie alle ihre wirklichen oder vermutlichen Sünden durch ein Entgegenkommen, das ihn zu Dank verpflichten sollte, gutzumachen bemüht war, hatte er das so vielen Störungen ausgesetzte Verhältnis plötzlich wieder auf den alten Traurigkeitsfuß zurückgeschleudert. Und zwar hatte er sich dies zuschulden kommen lassen in einem Augenblick, wo er durch einen unverzeihlichen Knabenstreich, der gar nicht zu seinen auf ein ehrbares Hausvatertum gerichteten Absichten paßte, das Leben seiner Geliebten in Gefahr gebracht hatte. Von neuem überfiel ihn das Bedenken, ob auch Christine ihn so schnell zu absolvieren geneigt sein werde. Alle Zurückweisungen, die er von ihr hatte erdulden müssen, kamen ihm wieder in den Sinn, und der Gedanke, daß sie ihn heute heimgehen heißen könnte, wie er sie gestern heimgeschickt hatte, erfüllte ihn nach der kurzen Anwandlung von Heiterkeit plötzlich mit Wut und Verzweiflung. Im ersten Augenblick entschloß er sich trotzig zum Dableiben, als ob sie ihm den gefürchteten Schimpf angetan hätte; im nächsten trieb ihn sein kochendes Herz wieder zum Gehen an.

Daß er Christinen diesen Vormittag allein zu Hause finden würde, hatte ihm ihr Brief klar gesagt, obgleich es nicht mit Worten darin zu lesen stand: denn wozu würde sie sich gestern nacht so viele Mühe gegeben haben, den Brief noch in seine Hände zu bringen, wenn sie nicht sicher gewesen wäre, daß die Ihrigen am Neujahrsfeste alle in die Kirche gehen würden.

Die Glocke hatte schon das zweite Zeichen geläutet, als Friedrich die »Sonne« verließ und mit einer Bedächtigkeit, welcher man seinen inneren Zustand nicht angesehen haben würde, verschiedene Seitengäßchen einschlug, um möglichst wenigen Kirchengängern zu begegnen. Und doch konnte er sich überall sehen lassen: in dem neuen Rock von dunkelblauem Tuch mit großen Knöpfen und in den kurzen Beinkleidern von schwarzem Samt trat seine gedrungene Gestalt stattlich hervor; das scharlachene Brusttuch paßte zu dem Stahl und Messer, die er in den Gürtel gesteckt; der Dreispitz auf dem Kopfe gab dem jugendlich kräftigen Gesicht ein unternehmendes Aussehen, und die weißen Strümpfe über den Schnallenschuhen umschlossen ein derbes Paar Beine, auf welchen der Mann im Vollgefühl der Jugend wie auf festen Säulen wandelte. Er wandte sich dem Felde zu, wo er zu dieser Stunde auf niemand treffen konnte und wo die dicht fallenden Schneeflocken die Spuren seiner Tritte schnell wieder ausfüllten. Die Glocken läuteten zusammen; als sie schwiegen und die Orgel einfiel, die man bis aufs Feld heraus hörte, lenkte er die Schritte zu des Hirschbauern Haus. Er fand die hintere Türe angelehnt, verschmähte es aber, sich derselben zu bedienen, sondern stieg die außen an der Seite emporführende Treppe hinauf, welche den rechtmäßigen Eingang ins Haus gewährte. Im Hinaufsteigen konnte er durch das Fenster sehen, und seine Auslegung der nächtlichen Briefträgerei hatte ihn nicht getäuscht, denn Christine saß allein in der Stube und las, so schien es wenigstens, ganz vertieft im Gesangbuch, auf dessen aufgeschlagener Seite ein Blättchen mit einem flammenden, von einem Schwert durchstochenen Herzen eingelegt war.

Sie mußte jedoch nicht so vertieft gewesen sein, als sie scheinen wollte, denn als er zur Türe eintrat, saß sie nicht mehr am Tisch, sondern stand aufrecht mit dem Buch in der Hand; allein, so eifrig sie darin zu lesen schien, so zeigte sich doch in ihren Mienen eine Spannung und Bewegung, welche deutlich verriet, daß ihre Gedanken ganz anderswo als bei einem geistlichen Liede waren. Sie war ihm nie so schön vorgekommen: ihr helles Gesicht, obgleich heute nicht so rotwangig wie sonst, blinkte von Morgenfrische, und die gelblich-blonden, streng gescheitelten Haare umschlossen es mit einem freundlichen Rahmen; ein feuchter Schimmer schwamm in den niedergeschlagenen Augen; durch das schwarze Gesangbuch, das in den gefalteten Händen ruhte, erhielt das gleichfalls schwarze Wams, das sonst ein alltäglicher Anblick ist, etwas Feierliches, das den lockenden Reiz der Erscheinung dämpfte; das ärmliche Unterkleid war von einer reinlichen weißen Schürze beinahe ganz zugedeckt.

Sein Herz klopfte, während er im langsamen Eintreten die liebreizende Gestalt mit den Augen verschlang. »Ist's erlaubt?« sagte er, an der Türe stehenbleibend.

»Ich kann's nicht verwehren«, antwortete sie, und ihre Augen verirrten sich von dem Liede, aber nicht weiter als bis an den Rand des Buches.

»Sie trutzt mit mir«, dachte er.

Beide schwiegen geraume Zeit still, dann begann er wieder: »Ich hab geglaubt, wenn man einen einlade, so vergönne man ihm auch ein gutes Wort. Wird ja einer nicht vor Amt geladen, ohne daß man ihm dort eröffnet, warum er vorgeladen ist.«

»Das ist auch meine Absicht gewesen«, sagte Christine, »aber wie ich den Brief geschrieben hab und bei Nacht ausgetragen, weil ich meine Brüder nicht hab drum wissen lassen wollen, und hab nicht früher fortkommen können, als bis alles im Bett gewesen ist, da hab ich nicht gewußt, daß es mir so aufgenommen wird und so ausgelegt. Es ist mich sauer genug ankommen, denn ich hab mir wohl sagen können, daß sich so etwas nicht schickt. Deswegen bin ich nun auch bitter gestraft dafür, und seh's jetzt vollends ganz ein, daß ich's hätt nicht sollen tun.«

»Der Brief gilt also nichts?« fragte er.

Sie sah in ihr Gesangbuch, ohne zu antworten. Abermals folgte ein langes Stillschweigen.

»Wenn's so steht zwischen uns«, hob er wieder an, »so hätt ich auch können daheim bleiben.«

Sie legte das Buch auf den Tisch. »Es ist nicht meine Schuld«, sagte sie. »Ich hab's ja nicht so haben wollen. Aber ich möcht mich an keinen hängen, der schlecht von mir denkt und mich eine Nachtläuferin heißt. Ich hab noch niemand Anlaß geben, etwas Unrecht's von mir zu glauben, am allerwenigsten –« Sie stockte, denn das Du wollte ihr nicht über die Lippen.

»Hab ich denn wissen können, daß du meinetwegen unterwegs bist?« rief er.

»Das ist gleichviel«, erwiderte sie. »Niemand hat das Recht, wenn er mich auch bei Nacht antrifft, mir das Rumlaufen vorzurücken, und das auf eine Art, daß man wohl versteht, wie's gemeint ist. Ich bin noch keinem nachgelaufen und werd auch keinem nachlaufen mehr.«

»Nun ja«, versetzte er, »wenn ich gewußt hätt, was für einen Botengang du tust, so hätt ich ja gewiß nichts dergleichen gesagt.«

»Das glaub ich«, bemerkte sie, unmutig über diese leichte Entschuldigung.

»Jetzt laß es aber gut sein!« rief er, auf sie zugehend. »Bis du austrutzt hast und auspredigt, ist der Pfarrer mit der Predigt auch zu End.«

»Nicht so geschwind!« rief sie und wich rasch vor ihm zurück.

»So? Da kann ich also heimgehen?« sagte er, erbittert über den ernstlichen Ton, mit dem sie ihn zurückgewiesen hatte.

Sie gab keine Antwort.

»So kann's nicht zwischen uns fortgehen!« rief er, allmählich wild werdend. »Jetzt sag's grad raus und laß mich nicht lang warten: wie hast's mit mir?«

»Ich weiß nichts, sagte sie, »ich glaub, wir taugen nicht recht zusammen, wir zwei beide. Ich will nicht von den vielen Haken reden, die die Sach hat und die mich schon oft traurig gemacht haben. Aber wer mein Schatz sein will, der darf mich nicht so anfahren und darf mich nicht gleich beschuldigen, daß ich auf unrechten Wegen sei, eh er sich nur Zeit nimmt, die Augen aufzutun. Wenn einer auf seinen Schatz nichts hält, so tut's nicht gut zwischen ihnen. Mein Vater und meine Mutter sind oft hart gegen mich; wenn mein Schatz auch so wär, was hätt ich dann gewonnen? Mit meinem Schatz will ich ein besseres Leben führen, oder lieber will ich bleiben, wie ich bin. Es ist mir ohnehin nicht so besonders drum zu tun; ich kann allein sein, und ich glaub, ich will's auch.«

Obgleich er sich gestehen mußte, daß das Mädchen vollkommen recht habe, und obgleich sie ihm in diesem Augenblicke mit ihrer ganzen Art, zu denken und zu reden, unsäglich gefiel, denn das war nicht mehr das schüchterne, kindische Wesen, das andere Leute für sich reden ließ, so gestattete ihm doch sein starrer Trotz nicht, aus ihren Worten etwas anderes als einen bitteren Bescheid herauszulesen. »Wenn man mir so ausbietet«, sagte er, »dann will ich nicht überlästig sein.«

Sie schwieg, ohne aufzublicken.

»Es ist also Ernst?« wiederholte er. »Ich soll gehen?«

»Wer mir's so macht, den werd ich nicht bleiben heißen«, antwortete sie entschlossen, aber zugleich drangen ihr die Tränen in die Augen.

»Nein!« rief er wild, und die seinigen rollten, während er das Messer zog. »So geh ich nicht fort! Hie auf dem Platz muß es sich zwischen uns entscheiden. Sag ja oder nein, willst du mich, oder willst du mich nicht? Wenn du mich willst, so versprech ich dir, daß dergleichen Dummheiten wie gestern nacht von nun an nicht wieder vorkommen sollen, du bist ohnehin ganz allein schuld daran gewesen, weil du mich ganz wild und falsch gemacht hast die Zeit daher, und unartig will ich auch nicht mehr gegen dich sein, will dich vielmehr auf den Händen tragen und ein Leben mit dir führen, daß ganz Ebersbach ein Exempel dran nehmen soll. Willst du mich aber nicht, so verzeih mir's Gott, du kommst nicht lebendig von der Stell. Sieh das Messer hier, das bis jetzt bloß unvernünftigen Geschöpfen den Lebensfaden abgeschnitten hat, das soll dann ein edleres Blut trinken. Sag nein, und ich stech dir's ins Herz, ich treff gut, darauf kannst dich verlassen, und das auf den ersten Stoß. Der zweite dann, der gilt mir, denn wenn du nicht mein werden willst, so soll dich auch kein anderer haben, und wenn du tot bist, so will ich auch nicht mehr leben. Dich will ich, auf der ganzen weiten Welt nur dich, und wenn das nicht sein kann, so ist es zu dieser Stunde mit uns beiden aus.«

Christine war einen Augenblick starr und bleich vor Schrecken dagestanden, wie er mit dem funkelnden Messer auf sie zuschnitt. Bald aber änderte sich ihr Gesicht. Im Gegensatz zu ihm, der in ihren Reden nur Bitterkeit fand, sog sie aus den seinigen nur den Honig heraus. Aufgelöst durch das Übermaß von Feuer und Liebe, das aus dieser fürchterlichen Liebeserklärung hervorbrach, und ohne sich durch die rohe, gewalttätige Beimischung von neuem abstoßen zu lassen, warf sie sich ihm, als er geendet hatte, so heftig an den Hals, daß sie ihm kaum noch Zeit ließ, die Spitze des Messers zu wenden. Er schleuderte es rasch zu Boden, während sie ihn mit beiden Händen umklammerte. »Stich zu, wenn du das Herz hast!« rief sie laut weinend. Er schlug die Arme um sie und drückte sie fest ans Herz. Sie machte die eine Hand los und hielt sie ihm vor die Augen. »Da sieh, du blinder Hess, du ungläubiger Thomas«, sagte sie, unter dem Weinen lachend, »wie kannst du so an der Wand hinauffahren und so ruchloses Zeug machen, siehst denn nicht, daß ich deinen Ring am Finger hab, seit du da bist? Ich hab dir doch vorher müssen ein wenig schändlich tun, du unartiger Bub du!«

»Ist's wahr?« rief er. »Willst mein sein? Sag's noch einmal.«

»Meinst du's auch ehrlich mit mir?« fragte sie, indem sie den Kopf aufhob und ihm in die Augen sah.

Er schwur es mit tausend Eiden, wovon einer den andern an Kraft und Derbheit übertraf. »Bist jetzt mein?« fragte er dann abermals.

»Ja!« schrie sie unter dem Druck seiner Arme.

»Ganz mein?«

»Ganz! Du kannst mich sieden oder braten, nur erstick mich nicht.«

Er ließ sie einen Augenblick los, aber nur, um sie im nächsten desto fester in die Arme zu fassen, und die Sinne vergingen ihr unter dem Ungewitter der Leidenschaft, das über sie losbrach. Es war, als ob der Pfarrer mit den Liebenden im Bunde wäre, denn seine heutige Neujahrspredigt schien die längste werden zu wollen, die er je gehalten hatte.


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